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Der Flugapparat
Er hämmerte, sägte, leimte und konstruierte die ganze Nacht. Als am Morgen die ersten Sonnenstrahlen sein Feld berührten, trat er mit einem großen Apparat aus dem windschiefen Schuppen. Die rechte Seite war wohl bereits einmal auseinander gefallen und mit morschen Brettern ausgebessert worden. Zwei dünne Seile kämpften verzweifelt gegen die Schwerkraft, um die dünnen Flügel vorm abbrechen zu bewahren. Die weißen Federn, die auf ihnen befestigt waren, lösten sich bereits und wurden von der morgendlichen Briese nach Osten getragen, in Richtung des Palastes. Skeptisch blickte er hoch zu den vereinzelten Wolken. Der Tag war perfekt. Er legte jeweils einen Gurt über seine Schultern, zurrte sie fest, stellte sich in den Apparat und sprang. Seine Füße lösten sich vom Boden, doch anstatt wieder auf diesem zu landen, flogen sie davon ins ewige Blau über der Welt. Vorsichtig legte er sich in den zwar spärlichen, aber ausreichenden Wind und ließ sich von diesem nach oben treiben. Immer höher und höher stieg er, bis die Bäume aussahen wie grüne Getreidehalme und Dörfer wie braune Pfützen in den reifen Feldern. Entfernte Rufe drangen an sein Ohr, doch er achtete nicht auf sie. Er war zu sehr mit der Euphorie, die ihn überkam, und mit dem wunderschönen Ausblick beschäftigt, um noch auf die Menschen, die so viel schwächer als er wirkten, zu achten. Er hatte sich über sie erhoben und ihr Entsetzen und ihre Überraschung gingen ihn nichts mehr an. Nie wieder würde er über Abgaben nachdenken, über die Ernte, über Geld, selbst über schlechtes Wetter, seine Sorgen waren am Boden verblieben. Er hatte erreicht, was keiner vor ihm vermochte. Nur noch ein Ort war eines Mannes wie ihm würdig. Langsam richtete er seinen Blick nach Osten, wo er sich wenig später auf der Spitze des mächtigen Wachturms in der Mitte des Palastes niederließ.
Mit stolz erhobenem Kinn marschierte er in den Thronsaal, gefolgt von drei Soldaten in glänzender Rüstung.
„Wir haben ihn im Westhof gefunden, eure Hoheit. Er behauptet, er sei hier eingedrungen, indem er einfach über die Mauern geflogen ist.“, berichtete der Hauptmann der Palastwache und zog sich in den Hintergrund zurück.
„Ihr seid geflogen?“, fragte der junge Prinz, der in einem prächtigen Stuhl neben seinem Vater saß, mit glänzenden Augen, bevor er vom König mit einem strengen Blick zum Schweigen gebracht wurde.
„Ist das wahr, Bauer?“, fragte der Herrscher mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn.
„So wahr ich hier stehe, Hoheit!“, antwortete der alte Mann, der trotz seiner geringen Körpergröße jeden im Thronsaal zu überragen schien.
„Wie habt ihr das vollbracht?“, wollte der König wissen.
„Mit einem Flugapparat“, antwortete der Bauer, die Anrede des Herrschers vergessend.
„Wo ist dieser Apparat?“
„Auf dem alten Wachturm.“
„Gibt es Zeugen?“, fragte der König den Hauptmann.
„Ein paar Wachen behaupten es gesehen zu haben, eure Hoheit“, antwortete dieser.
„Ihr habt ihn gebaut?“, wollte der Herrscher vom Bauern wissen.
„Jawohl!“, sagte der alte Mann mit Stolz in der Stimme.
„Alleine?“
„Ja.“
„Wusste jemand von deinem Apparat?“
„Nicht vor diesem Morgen.“
„Also wisst nur ihr, wie man ihn baut?“
„Jawohl.“
„Also gut“, seufzte der König, bevor er die Schultern straffte und fortfuhr „Richtet ihn hin“, befahl er dem Hauptmann der Wache mit fester Stimme, „und zerschlagt seinen Apparat.“
„Aber Vater!“, protestierte der Prinz, der aufgesprungen war, während der Bauer ohne Widerstand zu leisten davongeschleppt wurde „Er hat doch nichts verbrochen!“
„Nein, mein Sohn“, sagte der Angesprochene nachdenklich, „aber wofür braucht ein Mensch einen König, wenn er selbst ein Gott ist?“