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Der Flug
Der Flug
Langsam ließ Jürgen Keller den Kombi auf die kurze Auffahrt rollen, brachte den Wagen vor dem Garagentor zum Stehen und stieg aus. Als er bereits einen Fuß auf die Veranda gesetzt hatte, hielt er inne.
Es war ein herrlicher, warmer Sommertag. Die Sonne stand groß und hell am wolkenlosen Himmel. Claudia würde sicher mit Daniel im Garten spielen.
Er ging also an der Vorderfront des Hauses entlang, öffnete die kleine Pforte, die die lange Reihe der hohen Buchsbaumhecke unterbrach und betrat den schmalen Plattenweg, der um das Haus herum zur Terrasse führte.
Der Schlag traf Jürgen Keller völlig unvermittelt an der Schulter.
Mit einem Stöhnen ließ er die Aktentasche fallen, seine Knie knickten ein und mit einer Drehung sackte er auf den Grasstreifen neben dem Weg.
Sein Gegner ließ ihm keine Zeit zur Gegenwehr.
Sofort warf er sich dem Hilflosen auf die Brust, hob die Keule zu einem zweiten Schlag und sagte mit entschlossener Stimme: „Mama hat heute keine Lust, mit mir zu spielen. Aber sie hat gesagt, wenn du nach Hause kommst, können wir noch irgendwas machen.“ Wie zur Bekräftigung seiner Forderung ließ er die Waffe erneut herabsausen und traf seinen Vater auf die Stirn, wobei ein lautes Quietschen erklang, als die Luft durch die Tröte am Stiel entwich.
Nach einigem Herumbalgen und Abkitzeln nahm Jürgen seinen Sohn an der Hand und ging mit ihm um das Haus herum zur Terrasse, auf der Claudia im Liegestuhl lag und ein Buch las. Als sie die beiden bemerkte, stand sie auf und umarmte ihren Mann.
„Gott sei Dank bist du endlich da. Daniel hat mich heute Nachmittag bereits dreimal gefangen genommen und beim letzten Mal hat er ein Eis erpreßt und das Versprechen, daß du noch etwas mit ihm unternehmen würdest, wenn du heimkommst.“ Liebevoll drückte sie das Kind an sich und sah Jürgen auffordernd an.
„Würde ich sehr gerne.“ Das schlechte Gewissen war ihm deutlich anzusehen. „Aber ich muß morgen in aller Frühe in die Staaten fliegen. Ein Kollege, der den Auftrag hatte, ist krank geworden, und ich muß einspringen. Vorher werde ich noch diverse Papiere vorbereiten müssen. Kannst du inzwischen einige Sachen für mich packen? Ich werde zum Wochenende wieder zurück sein.“ Er kniete sich vor seinen Sohn, der ihn mit großen, enttäuschten Augen ansah und versprach: „Wenn ich zurück bin, gehen wir Schwimmen. Du kannst dich darauf verlassen.“
Es war bereits später Abend, als Jürgen Keller sein Arbeitszimmer verließ und den schweren Aktenkoffer zu der Reisetasche in den Flur stellte. Claudia hatte inzwischen Daniel ins Bett gebracht, sich danach im Wohnzimmer auf die Couch gelegt und las in ihrem Buch. Jürgen blieb einen Moment unbemerkt in der Tür stehen, betrachtete seine Frau und sog die gemütliche Harmonie in sich auf.
Wie sehr er sie liebte und wie schwer es ihm jedesmal fiel, seine Familie auch nur für wenige Tage zu verlassen. Dann trat er zu ihr, setzte sich auf die Kante der Polster und küßte sie.
„Sei mir nicht böse, aber ich bin furchtbar müde. Es war ein harter Tag und ich möchte schlafen gehen.“
Claudia sah ihm tief in die Augen. „Daniel war heute sehr enttäuscht. Dein Versprechen für das kommende Wochenende mußt du unbedingt halten.“
„Ich versprech’s. Und wenn ich mich dafür krank melden muß.“
Er küßte sie erneut, stand dann auf und ging schlafen. Claudia las noch eine Weile und ging dann ebenfalls zu Bett.
Als sie das Badezimmer verließ, schlief ihr Mann bereits tief. Sie legte sich nieder und beobachtete eine Weile, wie sich sein muskulöser Brustkorb mit der ruhigen und entspannten Atmung hob und senkte. Für einen Augenblick dachte sie daran, sich an ihn zu kuscheln und ihn wieder mit zärtlichem Streicheln zu wecken. Doch mit dem Gedanken an den langen Flug, die Zeitumstellung und die Arbeit, die ihn dort erwartete ließ sie ihn schlafen. Sie strich ihm noch einmal zärtlich übers Haar, drehte sich auf die Seite und schloss dann ebenfalls die Augen.
Nach kurzer Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Sie sah hinauf in drohende dunkle Wolken, zwischen denen in großer Höhe Flugzeuge kreisten. Die Luft um sie her vibrierte von dumpfem Grollen, zerrissen von menschlichen Schreien. Als sie endlich den Blick von diesem finsteren Himmel abwenden konnte, blickte sie auf eine weite, trostlose Ebene, übersät von Trümmern, in denen sie zerschmetterte Flugzeugteile und abgerissene Tragflächen erkannte. Das drohende Grollen und die Schreie leidender Menschen wurden intensiver. In den Trümmern erkannte sie eine verschwommene Gestalt, die ihr zuzuwinken schien und die immer mehr die Konturen ihres Mannes annahm.
Das Bild zerfloss in einem wirbelnden Strudel, der aber bald zur Ruhe kam und gleich darauf das verzweifelte und tränennasse Gesicht ihres Sohnes freigab. Er reckte ihr seine Arme entgegen, ohne sie jedoch berühren zu können.
Erneut wurde sie fortgerissen. Die Vision verschwamm, sie spürte ein Rütteln, eine Stimme aus der Ferne, die langsam deutlicher wurde und aus einem Nebel tauchte schemenhaft Jürgens Gesicht auf. Er sprach beruhigend auf sie ein. Claudia spürte seine zärtliche Hand, die über ihr Haar strich, über ihre Wangen und ihr Gesicht.
„Liebling..... wach auf, du träumst.“ Hörte sie ihn sagen und die reale Welt umher nahm wieder klare Umrisse an.
Ihre Stimme kam leise und erschöpft: „Ich hatte einen schlimmen Traum.“
Sie richtete sich auf und sah Jürgen mit großen, angstvollen Augen an. „Du darfst nicht fliegen.“ stöhnte sie, immer noch benommen von dem Traum und dem schnellen Erwachen. „Ich habe so schreckliche Bilder von Flugzeugtrümmern gesehen. Du hast mittendrin gestanden und Daniel hat so geweint.“ Sie nahm sein Gesicht zärtlich in beide Hände. “Bitte fliege nicht. Melde dich krank oder erfinde eine andere Ausrede aber fliege nicht.“ Jürgen gab ihr einen Kuß und versuchte, sie zu beruhigen. „Es war doch nur ein Traum.“ Sagte er ruhig. „In Träumen verarbeitest du deine Sorgen aber du kannst damit nicht in die Zukunft schauen. Dein Unterbewußtsein bringt meine Geschäftsreise mit Daniels Enttäuschung in Verbindung. In Träumen erscheint alles stark überzogen. Selbst wenn ich wollte, ich kann auf diese Reise nicht verzichten.“
Alle Logik sagte Claudia, dass ihr Mann Recht hatte. Aber dennoch passierten auf der Welt immer wieder so viele Sachen, die der Logik widersprachen.
Bald nachdem sie das Licht gelöscht hatten, hörten sie sie Jürgen tiefe, ruhige Atemzüge.
Auch Claudia schloss die Augen, aber die Traumbilder ließen ihr keine Ruhe. Als sich endlich der Radiowecker einschaltete, war auch für sie die lange Nacht, in der sich die wachen mit kurzen, unruhigen Schlafphasen abgewechselt hatten, vorüber.
Nach dem gemeinsamen Frühstück brachte Claudia ihren Mann zur Tür.
„Damit es dich beruhigt, werde ich dich gleich nach der Landung anrufen. Aber behalte das Handy bei dir und mach dir bitte keine Sorgen.“ Sie hatte ihn am Morgen nicht wieder auf den Traum angesprochen aber ihre Augen sagten ihm auch so, woran sie dachte.
Er nahm sie noch einmal fest in die Arme und flüsterte: „Gib Daniel einen dicken Kuß von mir.“ Dann stieg er in den Kombi und Claudia sah ihm nach, bis der Wagen weit in der Ferne aus ihrem Blickfeld verschwand.
Für Claudia verlief der Morgen wie jeder andere.
Irgendwann wachte Daniel auf und kam im Schlafanzug, mit seinem Teddybären unter dem Arm in die Küche getapst und verlangte sein Frühstück. Wie immer plapperte er drauflos und berichtete, dass sich der Teddy in der Nacht mit der neuen Stoffmaus gestritten habe und er die beiden trennen musste. „....und weil die Maus so frech war habe ich sie dann einfach an das Fußende gesetzt. Meinst du, dass die Maus noch sauer ist?“ Claudia leistete ihrem Sohn beim Frühstück immer Gesellschaft und spielte dabei das Spiel der Stofftiere mit. Daniel sah seine Mutter an und erwartete eine Antwort. „Mama, meinst du, dass die Maus noch sauer ist?“ wiederholte er seine Frage, diesmal lauter. Gedankenverloren hatte sie aus dem Fenster geschaut und den Kondensstreifen eines in großer Höhe dahinziehenden Flugzeuges betrachtet. Verwirrt blickte sie ihren Sohn an. „Was..., wer ist sauer?“ „Die Maus.“ wiederholte Daniel. „Entschuldige, ich war mit den Gedanken gerade woanders. Nein, sicher ist sie nicht mehr böse.“
„Denkst du an Papa? Meinst du, er wird uns auch mal mitnehmen?“ „Vielleicht später einmal und jetzt iss schön auf.“
Und so verlief der ganze Morgen. Als Daniel nach dem Essen die Stofftiere miteinander versöhnt hatte, malte er in der Küche noch einige Bilder und riss seine Mutter, wenn er ihr die Zeichnungen zur Begutachtung hinhielt immer wieder aus ihren sorgenvollen Gedanken. Die Zeit kroch nervend langsam dahin und als Claudia am frühen Nachmittag vorschlug, gemeinsam in den Park zum großen Spielplatz zu gehen und dort ein Hot Dog und ein Eis in Aussicht stellte war Daniel begeistert.
Das Handy hatte sie ganz gegen ihre Gewohnheit an den Gürtel geklemmt. Sie mochte es im Allgemeinen nicht, wenn diese Dinger so offen und aufgesetzt wichtig und für alle sichtbar getragen wurden aber jetzt fürchtete sie, dass sie das Signal aus der Handtasche nicht rechtzeitig hören würde. Zusätzlich hatte sie den Ton verändert und so laut eingestellt, wie es nur möglich war.
Gemeinsam bummelten sie auf dem breiten Schotterweg durch die Parkanlage, entlang den gepflegten Blumenrabatten und den weiten grünen Rasenflächen, auf denen sich schon Leute zum Sonnenbad niedergelassen hatten und Jugendliche sich Frisbeescheiben zuwarfen. Aber Claudias Gedanken trieben immer wieder zu Jürgen. Mehrere Male griff sie an ihre Seite, um sich zu vergewissern, daß das Handy noch da war.
Bald konnten sie in der Ferne die bunten Rutschen und Schaukeln des Spielplatzes sehen, auf dem schon einige Kinder ausgelassen tobten.
Daniel zog seine Mutter am Arm und bettelte: “Komm Mama, ich möchte auf die Rutsche.“
„Ist schon gut, mein Schatz. Wir werden abkürzen und über den Rasen gehen.“ Sie verließen den Weg und schlenderten über das weiche Gras der Wiese, vorbei an Sträuchern, in denen Bienen summten. Zwei kleine Hunde tobten laut kläffend an ihnen vorüber.
Sie hatten fast die Hälfte der freien Fläche überquert, als unvermittelt das laute Schrillen des Handys die Ruhe umher zerriß. Claudias Magen krampfte sich zusammen. Sie ließ Daniels Hand los und versuchte, mit zitternden Händen das Telefon an ihrer Seite vom Gürtel zu lösen. In der plötzlichen Aufregung zerrte sie so stark an dem Verschluß, daß dieser sich an einer Öse verhakte. Das Signal schien immer lauter zu werden und Claudia wurde hektisch. Die Bilder der vergangenen Nacht tauchten aus ihrem Unterbewusstsein auf und wurden deutlicher, begleitet von dem unheilvollen Brummen der Motoren aus ihrem Traum. Ihre Nerven drohten zu zerreißen. Ihr ganzer Körper schien durch die aufsteigende Panik zu vibrieren. Das bedrohliche Brummen schwoll an und schien das Läuten des Telefons zu übertönen. Claudias Wahrnehmung wurde von ihren Visionen überdeckt und aus dem Brummen wurde ein schrilles, stotterndes Knattern, das alle Geräusche um sie verdrängte.
Mit einem Knall explodierte der Schmerz in ihrer Kniekehle und warf sie zu Boden.
Vor ihr tauchte Daniels Gesicht auf. Er weinte und schrie und warf sich auf seine Mutter. Sie schlang die Arme um ihren Sohn und versuchte, ihm trotz der Schmerzen Trost zu geben.
Langsam gewann die Realität wieder Überhand und sie sah das Gras, auf dem sie lag, die Bäume des Parks und die blühenden Sträucher.
Daniel lag in ihren Armen und weinte leise.
Sie schaute sich um und erkannte die Trümmer eines kleinen Modellflugzeuges, dessen Motor leise zischte. Eine abgerissene Tragfläche lag direkt neben ihr.
Menschen kamen angerannt. Ein Mann hielt beim Laufen eine Fernsteuerung an sich gepreßt. Aufgeregte Stimmen und Beteuerungen des Bedauerns stürmten auf sie ein.
Vorsichtig bewegte sie ihr Bein. Der Schmerz blieb aber die Verletzung war nicht ernsthaft
Zehn Minuten später saß Claudia auf einer Bank am Rande des Spielplatzes und sah Daniel zu, wie er mit lautem Lachen und Kreischen die Rutsche heruntersauste.
Zuvor hatte sie Jürgen zurückgerufen.
Er war glücklich gelandet.