Der Flug
Das Geländer des Turms ist niedrig. Es reicht mir eine Hand breit über die Knie. Ich kann es jetzt tun. Ich kann fliegen. Einfach die Arme ausbreiten, einen Schritt und dann – fliegen.
Viele Male habe ich davon geträumt. Es gefiel mir. Das leichte Gefühl, der Wind im Haar, der Blick von oben herab. Ich bin mir sicher, ich kann es. Mit meinem Willen hebe ich die Schwerkraft auf. Und dann fliege ich über den Marktplatz, knapp am Kirchturm vorbei, einen Dreh nach links zum Fluss. Ein Stück verfolge ich seinen Lauf und sehe, wie er Felder, Dörfer und Städte teilt. Ich nähere mich aus dem Tal den ersten Hügeln. Wollig sehen sie aus mit ihrem dichten Baumbewuchs. Ich fliege weiter über Weinberge. Die Thermik in der Abendsonne trägt mich. Ein paar Vögel begleiten mich. Wir lachen uns an. Ich fliege weiter und lasse sie hinter mir. Das Land erhebt sich höher und der Wind nimmt zu. Er hat messerscharfe Furchen in die bergige Landschaft geschliffen. Ich halte dem Wind meine Wunden hin, erwarte Heilung.
Bald wird es dunkel.
Ich möchte höher steigen und auf einer Wolke übernachten. Das habe ich schon oft getan. Von oben habe ich hinunter gespuckt und schallend gelacht, wenn ich sie getroffen hatte, die Menschen. Langsam schraube ich mich höher und spüre, wie ich immer leichter werde. Ich atme tief ein, halte die Luft an und steige und steige. Die Erde beginnt sich zu wölben. So weit und so hoch bin ich noch nie geflogen. Es berauscht und erleichtert mich.
Dort unten habe ich oft versucht, ein, zwei Meter über dem Boden zu gehen. Leichtfüßig, federnden Schrittes. Doch die Gravitation zerrte an meinen Füßen und ließ mich abstürzen. Immer wieder. Ich sah andere vor mir fliegen. Ihre zufriedenen Gesichter, die sie hatten, als man sie fand, ließen mich neugierig werden, wie das Fliegen ist.
Vielleicht werde ich sie treffen am Ende meines Fluges. Sie kamen oft in der Nacht zu mir und erzählten, wie wunderbar es sei zu fliegen. Er, der sich die Pulsadern aufschnitt, weil er sein Vermögen verspielt hatte. Oder sie, die das Auf und Ab ihrer Stimmungen mit einer Überdosis Schlaftabletten ins Gleichgewicht bringen wollte. Wir werden uns gegenseitig die Flügel putzen, wenn wir zusammen sind.
Doch ich suche erst einmal eine Wolke für die Nacht. Ich kann im Dunkeln nicht fliegen.
Ich steige noch immer. Es wird sehr kalt hier oben. Mich fröstelt. Es sind keine Wolken da. Ich bremse meinen Aufstieg und fliege Richtung Küste. Dort gibt es immer Wolken. Ich lasse mich ein wenig sinken, damit ich mich besser orientieren kann. Die Welt wird flacher. Felder und Wiesen reihen sich aneinander, wie das Spielfeld eines Strategiespiels. Es fehlen von hier oben nur die Spielfiguren. Ich sehe Windkraftwerke. Ja, der Wind. Er ist ungebremste Energie, gesammelt und gefügig gemacht. Ich sinke ein paar Meter, falle in ein Luftloch. Mein Magen. Ich spüre ihn. Ich beginne mit den Armen zu rudern. Es fehlt plötzlich das wärmende Licht für den Auftrieb. Ich spüre, wie ich schneller falle. Mein Blick fixiert die Küste. Ich liebe das Meer. Ich sehe sein Blau, doch ich falle. Ich möchte mich irgendwo festklammern. An den Wolken festhalten, einen Vogel greifen, der mich nach oben zieht. Ich suche die Sonne. Sie steht zu tief. Blutrot zeigt sie ihr Gesicht. Und verspricht so einen neuen Tag.
Ich rudere und rudere und schaffe es bis zum Wasser. Möwen lachen mich aus, als ich ankomme. Sie spielen mit dem Wind und zeigen mir ihre Kapriolen. Ich rieche das Land und lasse mich bewusst zur Erde sinken. Ich spüre, wie sich der Sand des Strandes zwischen meine Zehen wühlt. Es kitzelt.
Ich bin gelandet.