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Der Flug des Schmetterlings
Der Flug des Schmetterlings
von Robert Short
Antonio lief über die hoch stehende und mit Löwenzahn übersäte Wiese.
Dabei knickte er einen Grashalm nach dem anderen ab, so dass sich schnell in dem kniehohen Gras eine Schneise bildete, die seinen Lauf kennzeichnete.
Doch jedes Mal wenn er hoffte zu dem Schmetterling, der sich vor ihm im Zickzack- Kurs fortbewegte, aufzuschließen, enteilte ihm dieser mit drei raschen Flügelschlägen. Dieses Spiel setzte sich soweit fort, bis Antonio die Luft ausging und er resigniert Halt machte, um mit den Händen auf den Knien gestützt, neuen Atem zu schöpfen.
Während er also so dastand, schnaubend und erschöpft, da hörte er plötzlich eine Stimme, die nach ihm rief: „Hallo. Hallo Junge. Hallo.“
Der kleine Junge blickte nach allen Richtungen aus, doch konnte er niemanden ausmachen.
„Hallo. Hier bin ich“, rief die Stimme erneut „gleich hinter dir.“
Als Antonio sich umblickte, verschlug es ihm glatt die Sprache. War es doch tatsächlich der Baum hinter ihm, der ihn rief und zu ihm sprach.
„Du kannst sprechen?!“ stammelte das Kind.
„Natürlich kann ich“, sagte der Baum und neigte sein Geäst in Antonios Richtung. „Schließlich sprechen doch hier alle Bäume. Weißt du das denn nicht?“
„Ich bin zum ersten Mal hier in dieser Welt, musst du wissen und ich kenne mich noch nicht so gut aus“, sagte der Junge.
„Soso. Zum ersten Mal also. Wie hast du von dieser unsrigen Welt erfahren?“ fragte der Baum.
„Großmutter hatte einmal davon erzählt und gesagt, dass wenn man sich nur ganz stark konzentrieren würde, sich vor unseren Augen eine neue Welt auftun würde“, antwortete der Junge.
„Ach ja, die Großmütter", sagte der Baum ein wenig melancholisch. Dann bemerkte er: „Weißt du, früher, da war unsere Welt voller kleiner Wesen, wie du eins bist. Doch mit der Zeit nahm es immer weiter ab, bis sich nur noch gelegentlich jemand hierhin verirrte. Man sagt, dass ein gewisser Cony oder Sony daran schuld sein soll. Er hat den Eingang zur unserer Welt unkenntlich gemacht, so sagt man. Die Elfen behaupten sogar, dass die Kinder den Eingang in unsere Welt gar nicht mehr finden wollen. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube, dass ihnen nur jemand den Weg zeigen muss.“
Antonio blickte verlegen zu Boden. Schließlich wusste er, dass Sony nicht ein Jemand war, sondern eine Sache. Doch schämte er sich, den Baum darüber aufzuklären, da er meinte, dass die Wahrheit ihn noch trauriger machen würde.
„Weißt du, ich weiß, wovon ich spreche“, führte der Baum weiter aus, „schließlich stehe ich schon seit 120 Jahren an dieser Stelle und habe schon vieles erlebt. Aber vielleicht sollte ich mich vorher vorstellen. Mein Name ist Frieda.“
„Und ich heiße Antonio“, sagte der Junge, „doch alle nennen mich nur Toni.“
„Also Toni. Was wolltest du mit dem Schmetterling machen, wenn du ihn gefangen hättest?“ wollte Frieda der Baum nun wissen. „Ach gar nichts Schlimmes“, antwortete Toni. „Ich wollte ihn nur mal fragen, wie er das mit den Fliegen so macht. Ich würde es nämlich gerne lernen.“
„Aber du hast doch keine Flügel“, gab ihn Frieda zu bedenken.
„Braucht man die denn zum Fliegen?“ fragte der Junge.
„Ja, die braucht man“, antwortete Frieda.
Enttäuscht blickte Antonio wieder zur Erde, wusste er doch, dass er nun mal keine Flügel besaß.
„Sei nicht traurig“, sagte Frieda, „ich verrate dir ein Geheimnis, da du dich anscheinend wirklich nicht in unserer Welt auszukennen scheinst. Du musst nämlich wissen, dass alles, was du dir vorstellst und wünschst, hier bei uns in Erfüllung geht. Nun“, sinnierte Frieda, „du könntest dir beispielsweise ein Paar Flügel wünschen.“
„Und das geht?“ horchte der Junge auf. „Probier` es doch einfach mal aus“, sagte Frieda.
Antonio schloss die Augen und ballte beide Fäuste, wobei er die Daumen nach innen legte und versuchte sich ganz stark zu konzentrieren und in Gedanken sprach er den Wunsch aus.
Eine Zeitlang geschah nichts. Doch dann bemerkte er, wie etwas versuchte sich den Weg durch sein T-Shirt zu bahnen. Er hörte, wie der Stoff seines Shirts riss, als die ausgewachsenen und in allen Farben leuchtenden Flügel eines Schmetterlings sich über seinen Kopf ausbreiteten.
„Und nun flieg` los, kleiner Toni", forderte Frieda ihn auf, „flieg` los!“
Toni begann, mit seinen neuen Flügeln zu schlagen und tatsächlich: Seine Füße lösten sich vom Boden und er hob ab. „Ich kann fliegen“, platzte es aus ihm heraus, „ICH KANN FLIEGEN!“
„Pass` auf dich auf kleiner Toni und komm mich bald wieder besuchen“, sagte Frieda, während sie mit einem dicken Ast dem Jungen zum Abschied winkte.
„Das werde ich“, rief der Junge, der hoch über Friedas Baumkrone seine Kreise zog, „und danke für alles.“
Antonio entfernte sich langsam von der Stelle, von der er vor kurzem noch zu Frieda sprach. Allen wollte er von dieser Welt erzählen, wenn er einst zurückgekehrt. Und von Frieda, damit sie auch von anderen Besuch bekäme. So nahm er es sich vor. Doch vorher wollte er noch sehen, wie weit die nächste Böe ihn segeln lassen würde, bevor er zum nächsten Flügelschlag ansetzen musste.