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Der Fluchtversuch

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14.08.2012
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Der Fluchtversuch

Cassidy öffnete vorsichtig die Tür. Wenn eine der Schwestern sie sehen würde, würden sie wieder kein Essen bekommen. Sie wartete, unsicher, ob die knarrende Tür nicht die anderen Mädchen in dem Zimmer geweckt hatte. Nein, alle waren still, nur Amanda drehte sich unruhig im Schlaf hin und her und murmelte einen Namen.
“Oh mein Gott”, wisperte Alice, die ängstlich neben ihr stand und flach atmete. “Sie werden uns erwischen, das schaffen wir nicht…”
“Beruhige dich, mit deiner Panik ruinierst du uns noch alles”, knurrte Julia. “Cassidy, beweg dich endlich!”
Gehorsam trat Cassidy aus dem Zimmer und sah sich in dem Flur um. Wie der Rest des Hauses war er altmodisch eingerichtet, mit dunklen Dielen und alten, bereits verblassten Bildern. Dicke Vorhänge vor den Fenstern ließen kein Licht hinein, nur eine kleine Kerze auf der sperrigen Kommode ließ Cassidy die Umrisse des Mobiliars erkennen. Julia packte Alice an der Hand, die angefangen hatte zu beten und bedeutete Cassidy herrisch, voran zu gehen. Die drei Mädchen schritten vorsichtig durch den Flur, versuchten, keine unnötige Geräusche von sich zu geben. Cassidy hatte einen Kerzenstummel aus einem der Räume mitgenommen und ihn an eine der Kerzen angezündet. Alice hatte sich durch das Licht etwas beruhigt, nur Julia war gegen die Kerze gewesen, aus Sorge, dass sie durch sie entdeckt werden würden. `Das ist unsere letzte Chance´, hatte sie gesagt. `Wir sollten kein unnötiges Risiko eingehen.´ Doch Alice und Cassidy waren für die Kerze gewesen, außerdem vermutete Cassidy, dass sie ohne die Kerze durch Alice´ Wimmern sowieso schnell entdeckt geworden wären. Nun war sie still, auch wenn sie unablässig nach dem Kreuz um ihren Hals griff.
Sie hatten endlich das Ende des Flurs erreicht und vor ihnen war nun eine Tür aufgetaucht. Julia drängte sich an Cassidy vorbei und nahm eine Haarklammer aus ihrem Haar heraus. Sie bog die Klammer auseinander und stocherte mit ihr in dem Türloch herum. Cassidy hatte sie, als sie den Plan ausgearbeitet hatten, gefragt, woher sie das konnte und sie hatte nur geantwortet, dass man nicht immer den passenden Schlüssel zur Hand hatte. Dann müsse man sich anders helfen.
Die Tür ging knarrend auf und Alice stieß ein Stossgebet aus. Cassidy legte ihr den Arm um die Schultern, während Julia durch die Tür lugte und ihr schließlich zunickte. Sie konnten weiter. Das Treppenhaus war minimalistisch eingerichtet. Keine Blumen, Teppiche oder Bilder. Es gab nicht einmal Kerzen, da die Mädchen in der Nacht nicht aus dem Zimmer gehen durften. Von elektrischen Licht durfte man an diesem Ort nur träumen.
Cassidy ging nun wieder voraus, in einer Hand den Kerzenstummel, in der anderen Hand Alice. Julia schloss die Tür wieder ab. Wenn eines der Mädchen sie gehört hatte, konnte sie die Drei nun an Keine der Schwestern verraten. In dem Treppenhaus ging es nun noch langsamer voran als vorher, denn jede der Stufen war alt und knarrte bei jeder Bewegung. Es kam Cassidy wie eine Ewigkeit vor und sie war dankbar, als sie endlich unten angekommen waren.
Das Mondlicht schien aus einem Fenster auf sie und Cassidy zuckte zusammen, als sie den kalten Stein mit ihren nackten Füßen berührte. Julia sah aus dem Fenster und fluchte leise. “Sie kommen wieder. Schnell, weg von hier!”
Aus Alice kam ein Schluchzen, als Julia nach ihrer anderen Hand griff und sie und Cassidy mit sich zog. Alice galt als das ruhigste und unauffälligste Mädchen. Sie wurde daher oft in den Kräutergarten geschickt, da die Schwestern vermuteten, dass sie alleine niemals eine Flucht wagen würde. Nur dank Cassidy und Julia brachte sie den Mut auf, aus diesem Haus zu fliehen. Alice übernahm nun die Führung und steuerte die Küche an, in der die einzige Tür war, die direkt zu dem Garten führte und von der sie wusste, wo die Schlüssel aufgehoben wurde. Doch dann hielt sie entsetzt inne.
Unter der Küchentür schimmerte ein heller Lichtstreifen, der zu hell für eine einzelne Kerze war.
“Was macht er um diese Zeit in der Küche?”, flüsterte Alice entsetzte, doch Julia stieß die Tür auf.
Der Koch sah überrascht auf, als die drei Mädchen hereinkamen und stand langsam auf. “Es ist halb zwölf, Zeit fürs Bett. Was machst-”
Julia knurrte etwas Unverständliches, schnappte sich die Obstschüssel und schleuderte sie gegen den Kopf des Kochs. Als er stöhnend zur Seite stolperte und versuchte, sich am Tisch festzuhalten, hob Julia den Hocker und schlug ihn gegen die Schläfe des Kochs. Er brach mit einem leisen Schrei zusammen und Julia wandte sich an sie mit wehenden Haaren.
“Alice, die Schlüssel!”, befahl sie barsch und mit zittrigen Händen öffnete Alice das Schränkchen an der Wand, in der die Schlüssel zum Kräutergarten aufgehoben wurden.
Cassidy sank auf die Knie und suchte nach dem Puls des Koches. Sie atmete erleichtert auf, als sie ihn spürte und wusste, dass er noch lebte. “Himmel, Julia, du hättest ihn umbringen können.”
“Hätte ich nicht, er ist hart im Nehmen”, sagte sie kalt. “Was glaubst du denn, was passiert wäre, wenn er uns verraten hätte? Dann würde es uns noch schlechter gehen als ihm jetzt.”
“Vielleicht hat jemand den Schrei gehört und-”
“Ich hatte keine andere Wahl. Er hätte uns ja nicht durchgelassen”, schnappte Julia. “Alice, wie lange brauchst du bloß, um eine Tür aufzubekommen?”
“Ich bin fertig”, murmelte sie zittrig und öffnete die schwere Tür, aus der nun kühle Nachtluft in die Küche drang.
Cassidy fröstelte und sie sah, wie sich auf den Armen und Beinen von Julia und Alice Gänsehaus ausbreitete. Sie hätten sich um wärme Sachen kümmern sollen. In ihren dünnen Nachthemden würden sie sich noch den Tod holen. Trotzdem ging sie wie hypnotisiert nach draußen und stellte sich neben Alice, die andächtig nach oben sah.
“Sie sehen ganz anders aus als aus dem Fenster”, flüsterte sie andächtig.
Cassidy antwortete nicht. Sie spürte die feuchte Erde unter ihren Füßen und der Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht. Ja, das war Freiheit. Sie fragte sich, wie es sich anfühlen würde, jederzeit dieses Wissen zu haben. Es musste fantastisch sein.
“Beeilen wir uns”, brach sie die Stille zwischen ihnen. “Die Schwestern werden uns sonst erwischen.” Sie wandte sich zu Julia und sah, wie sie nach einem großen Messer griff.
“Ich weiß ja nicht, wie ihr es seht”, sagte Julia, als sie Cassidys Blick bemerkte. “Aber ich werde für meine Freiheit kämpfen.”
Sie nickte, denn sie wusste, dass sie ebenfalls kämpfen würde, ebenso wie Alice. “Dann los.”
Alice war die Erste, die auf die Gärten zulief und Cassidy und Julia folgten ihr. Die angespannte Stimmung zwischen ihnen war gebrochen, obwohl der schwerste Teil ihres Weges noch vor ihnen lag. Doch als die Drei durch die Nacht liefen und die kühle Luft spürten, war der Druck von ihnen gefallen. Alice, die ängstliche und schüchterne Alice, drehte sich im Kreis und Julia lachte zum ersten Mal, seit Cassidy sie kannte. Sie selber schlug Rad, etwas, was sie zum letzten Mal in ihrer Kindheit getan hatte. Alle Drei wussten, dass die Gefahr noch nicht vorbei war und sie eigentlich vorsichtig hätten sein sollen, doch sie konnten es nicht. Solange hatten sie sich nach der Freiheit gesehnt und nun war sie endlich da, und sie fühlten sich großartig.
Sie sprangen über den Zaun, der das Grundstück abgrenzte und fanden sich auf einer Landstraße wieder. Cassidy, die die beste Orientierung in der Gegend hatte, deutete in die entsprechende Richtung und gemeinsam liefen sie weiter. Wenn Autos an ihnen vorbeifuhren versteckten sie sich- hier konnten sie niemandem trauen. Als ihnen mehrere Polizeiwagen entgegen kamen, stieß Julia sie in das Gebüsch am Waldrand und Cassidy hielt Alice den Mund zu, die aufschreien wollte.
“Sie haben bemerkt, dass wir fehlen”, sagte Julia. “Sie werden das Gebiet hier durchkämmen.”
“Im Wald werden sie uns nicht so schnell finden als hier auf offener Straße”, meinte Cassidy und deutete auf den Wald, der in einiger Entfernung war. “Ich weiß genau, wohin wir müssen, wir werden uns also nicht verirren.”
Julia nickte und sah zu Alice, in deren Augen Tränen standen. “Alles okay? Hast du dir wehgetan?”
“Ich, ich bin umgeknickt”, flüsterte sie. “Mein Fuß tut so weh, ich glaube, er ist gebrochen oder verstaucht…”
“Cassidy, führ uns durch den Wald, ich trage Alice.” Julia setzte sich so, dass Alice auf ihren Rücken klettern konnte und stand vorsichtig auf. “Halt dich gut fest, ja?”
Der Wald war einige Meter von ihnen entfernt und zwischen dem Wald und der Straße war nur Feld, auf dem sie sich gut abheben würden. Sie mussten sich beeilen. Wenn sie erst einmal im Wald waren, waren sie in Sicherheit, Cassidy spürte es.
Sie warteten, bis sie sich sicher waren, dass kein Polizeiauto mehr in ihrer Nähe war, dann sprangen sie auf und liefen über das Feld. Der Boden war nass und uneben und Cassidy stolperte immer wieder. Für Julia musste es noch schwieriger sein. Zwar war Alice die Kleinste und Leichteste unter ihnen, trotzdem lief Julia langsamer als vorher. Cassidy brach der Schweiß aus, als sie eine Alarmanlage hörte und Alice presste ihr Gesicht an Julias Schulter und betete leise vor sich hin. Der Wald kam in greifbare Nähe und Cassidy drehte sich um, um Julia und Alice zu sagen, dass sie nur noch ein wenig durchhalten mussten, dass sie es gleich geschafft hatten, als sie die Autos am Straßenrand und die Polizisten sah. Cassidy stieß einen spitzen Schrei aus, griff nach Julias Hand und versuchte schneller zu laufen. Hätten sie sich doch vorhin mehr beeilt, wären sie bloß nicht stehen geblieben um die Nacht zu beobachten. Cassidy stolperte in das Dickicht und schrammte sich das Gesicht und die Arme an den Ästen auf. Sie hörte hinter sich ein Fluchen, als Julia die Polizisten sah, die sie verfolgten. Sie waren schneller als die Drei, die außer Puste durch das ungewohnte Laufen waren und hatten im Gegensatz zu ihnen Schuhe an.
“Lasst mich hier, ich behindere euch bloß”, flüsterte Alice. Sie weinte. “Ohne mich könnt ihr fliehen, lass mich runter, Julia.”
Doch Julia, die sonst egoistisch war, schüttelte verbissen den Kopf und lief weiter in den Wald hinein. Cassidy hatte wieder die Führung unternommen und versuchte in der Dunkelheit einen einigermaßen ebenen Pfad zu entdecken. Ihre Füße brannten. Würden sie doch bloß festes Schuhwerk tragen, dann wären sie vielleicht schneller und die Polizisten schon nicht so nah.
Es war still in dem Wald, die Stille war nur durchsetzt von ihrem Keuchen. Cassidy hörte in ihrer Panik keinen der Polizisten, sie hörte nur Julia und Alice und sie. Alice´ Beten unterstrich die unheimliche Ruhe und Cassidy wusste, dass Julia, wäre sie nur nicht erschöpft, sie angefahren hätte, ihr gesagt hätte, dass sie gefälligst leise sein solle.
Cassidy sah sich um, suchte in der Dunkelheit nach Taschenlampen, doch alles war dunkel. “Wir haben sie abgehängt”, flüsterte sie ungläubig. “Wir haben sie tatsächlich abgehängt, wir sind frei, wir sind-” In diesem Moment schrie Alice auf, als Arme sie packten und sie von Julia fortrissen. Taschenlampen wurden angeschaltet und kurz waren Julia und Cassidy blind, bis sie ihre Freundin bei zwei Männern sahen, die sie fest umklammert hielten. Die Szenerie hatte etwas Unwirkliches an sich. Cassidy und Julia auf der nun beleuchteten Lichtung, umringt von Polizisten und Alice unter ihnen.
Einer der Polizisten zeigte ihnen seine Handflächen und kam ihnen näher. “Es ist alles gut. Keine Angst, wir sind Polizisten, der Freund und Helfer.” Er lächelte.
Alice fing an zu weinen. “Ich will nicht zurück”, schluchzte sie und versuchte sich zu befreien. “Nie wieder. Bitte, lasst mich los, ich will nicht wieder dorthin…”
“Lasst sie los”, flehte Cassidy. “Wir haben euch doch nichts getan, wir, wir wollen doch nur…”
“Ihr habt uns nichts getan?”, wiederholte der Polizist überrascht, doch noch ehe er etwas sagen konnte, war Julia neben ihm und hieb ihm ihr Messer in die Brust. Er stieß einen gurgelnden Schrei aus und Blut spritzte auf Julia, als er auf den Boden fiel. Polizisten brüllten Befehle und einer der Jüngeren unter ihnen stürzte zu dem Mann am Boden, um ihm zu helfen, doch Julia schlug ihm mit der geballten Faust in das Gesicht. Der Junge, der nur wenige Jahre älter sein konnte als sie, stöhnte und fasste nach seiner Nase, als sie ihm mit dem Messer den Bauch aufschlitzte. Alice hatte aufgehört zu weinen und sah nur entsetzt zu, wie Julia einen Polizisten nach dem Anderen attackierte. Das Blut hatte aus dem weißen Nachthemd ein dunkelrotes gezaubert und mit den langen schwarzen Haaren und dem Hass in den Augen ähnelte sie einem Todesengel. Sie schwang das Messer, als hätte sie nie etwas Anderes getan und verzog nicht die Miene, wenn ein weiterer Polizist aufschrie. Cassidy fasste sich als Erste und stürzte zu Julia. Sie wich dem Messer aus und packte Julias Handgelenk.
“Hör auf”, schrie sie und schüttelte Julia. “Bist du verrückt geworden? Was tust du da?”
“Genau das, was ich gesagt habe”, zischte Julia und riss sich ihr los. “Ich kämpfe für meine Freiheit. Und du?” Im nächsten Moment zuckte und schrie sie, als mehrere Volt durch ihren Körper fuhren. Ohnmächtig sank sie auf den Boden, das Messer noch immer in der Hand und Alice begann wieder zu kreischen.
“Lauf, Cassidy, lauf weg!”, schrie sie und strampelte.
“Mädchen, wir wollen dir nichts tun”, sagte der Polizist, der Julia mit dem Elektroschocker angegriffen hatte. Er hinkte leicht und sein Tonfall klang gereizt. “Zum letzten Mal, komm jetzt mit. Du kannst uns vertrauen, dir wird nichts geschehen.”
Cassidy sah zu Julia, die benommen auf dem Boden lag, mit ausgebreiteten Haaren und ausgestreckten Armen und die weinende Alice, die um sich trat und schlug. Sie dachte an das Gefühl als sie endlich nach draußen gelangt waren. Plötzlich schien es, als wäre sie nicht mehr in ihre Körper und würde alles beobachten. Sie sah, wie sie nach Julias Messer griff und den Polizisten attackierte. Sie sah, wie sie von einem Polizisten, der sich ihr von hinten genähert hatte, hochgehoben wurde und der Andere ihr das Messer aus der Hand schlug. Sie schrie und schimpfte und dann war sie wieder in ihrem Körper und spürte den Elektroschock. Alice´ Kreischen hallte ihr noch in den Ohren nach, als sie ohnmächtig wurde.

Cassidy wachte auf, als der Mann in das Zimmer trat. Sie war an einem kalten Metallstuhl gefesselt und außer Julia, Alice und ihr war niemand in dem Raum. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke und in ihrem Licht konnte Cassidy zum ersten Mal ihren Zustand sehen. Ihre Kleider waren zerfetzt und Julias und vermutlich auch ihr Kleid war voller Blutflecken. Blätter hatten sich in ihre Haare verfangen und ihre Füße waren bandagiert worden. Sie sahen nicht nach Freie aus, sondern nach Gefangene, die einen Fehler begangen hatten und nun bestraft wurden.
Cassidy wurde mulmig, als der Mann in den Raum trat und sich auf den Stuhl vor ihnen setzte. Er war groß gewachsen, mit kurzen, braunen Haaren und einer Brille vor den dunklen Augen. Elegant schlug er eine einzelne Akte auf und begann sie zu lesen. Als er fertig war, sah er auf, musterte Cassidy und schob sich seine Brille zurecht. Dann lächelte er. “Hallo Cassandra”, sagte er mit einer sanften Stimme. “Mein Name ist Dr. Ken Bannet. Die Oberschwester der katholischen Jugendanstalt St. Paulus hat mich kontaktiert, nachdem dich die Polizisten gefunden hatten. Möchtest du mir sagen, was passiert ist?”
“Was ist mit uns?”, fragte Julia lauernd. “Was haben sich diese Hexen für uns ausgedacht?”
Doch Dr. Bannet ignorierte sie. “Cassandra, du galtest als sehr unauffällig, ist das richtig?”
Cassidy kniff die Lippen zusammen, dann schüttelte sie den Kopf. “Cassidy, nicht Cassandra, so hieß ich nie. Und Alice war die Unauffälligste von uns, nicht ich. Mich haben die Schwestern nicht aus den Augen gelassen.”
“Alice?” Als er ihren Namen aussprach, wimmerte Alice und sie versuchte, sich von ihm wegzudrehen. Wieder sah er nur Cassidy an. “Nun, Cassidy, erzähl mir doch bitte etwas über dich.”
“Tu es nicht”, zischte Julia. “Wir können ihm nicht trauen, wir können nur uns trauen. Cassidy, er ist der Feind!”
Dr. Bannet hob eine Augenbraue. “Julia, schön, Sie zu sehen. Erlauben Sie mir, mit Cassidy zu sprechen?”, sagte er an Cassidy gewandt.
“Ach, jetzt sprechen Sie doch mit uns?”, höhnte Julia. “Was sind Sie eigentlich für ein Doktor?”
“Julia, bitte verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, aber ich möchte nur mit Cassidy sprechen”, seufzte Dr. Bannet und Julias Augen wurden zu Schlitzen. “Bitte erzähl mir doch, wieso du aus der Anstalt fliehen wolltest, Cassidy.”
“Du sagst gar nichts”, fauchte Julia. “Ihr sagt beide nichts, hast du gehört Alice?”
Alice nickte beklommen. Auch sie schien Dr. Bannet nicht zu trauen. Cassidy drehte demonstrativ den Kopf von ihm weg.
“Cassidy, wie wäre es, wenn wir einmal ohne Alice und Julia reden würden?”, fragte Dr. Bannet. “Nur wir zwei alleine? Was hältst du davon?”
Sie sagte nichts und sah immer noch die Wand an. Nach einer Weile hörte sie ihn seufzen.
“Wie wäre es so. Erzähl mir doch bitte etwa über Julia und Alice.”
“Ich bin keine Verräterin”, sagte Cassidy stur. “Ich sage Ihnen gar nichts.”

Dr. Bannet trat aus dem Arrestzimmer heraus, indem Cassandra saß. Schwester Madeleine, die das Verschwinden des Mädchens als Erste entdeckt hatte, reichte ihm eine Tasse Kaffee.
“Wie geht es ihr?”, fragte sie sorgenvoll. Sie kümmerte sich um Cassandra, seit das Mädchen in die Anstalt gekommen war.
“Sie spricht nicht mit mir und blockt jedes Gespräch ab. Hatte sie Kontakte zu anderen Bewohnerinnen?”
“Nein. Sie hat sich mit ein paar anderen Mädchen ein Zimmer geteilt, sich aber weitgehend zurückgezogen. Ständig mit Julia, Alice und Cassidy gesprochen.” Schwester Madeleine sah traurig zu der Tür. “Sie ist ein so liebes Mädchen, würde sie nicht…”
Dr. Bannet nickte. “Ich geh noch einmal zu ihr. Möchten Sie vielleicht mitkommen? Mit ihr sprechen?”
“Nein, Doktor. Ich denke, es ist besser, wenn sie mit Ihnen alleine ist.”
“Gut. Ich würde ihnen außerdem raten, sie von nun an in ein separates Zimmer schlafen zu lassen. Nachdem, was sie heute mit dem Koch und den Polizisten getan hat.” Er dachte an die zwei Polizisten, die Cassandra getötet hatte und an den Koch und die restlichen Männer, die nun ebenfalls im Krankenhaus lagen. “Cassandra ist eine Gefahr für Andere und auch für sich. Sie sieht die Situation um sich herum in einem völlig anderem Licht. In ihrer Vorstellung hat sie die Polizisten, Schwestern, Sie und mich als `Feinde´ assoziiert. Solange diese Vorstellung existiert, müssen mit weiteren `Fluchtversuchen´, wie sie es nennt, gerechnet werden.”

Er klopfte an, ehe er eintrat. Cassandra wandte sich ihm zu und ihre Augen wurden zu Schlitzen. “Hallo Cassandra, hier bin ich wieder”, sagte er lächelnd und deutete auf seinen Kaffee. “Möchtest du vielleicht auch etwas trinken? Tee, Wasser?”
Cassandra sah aus, als wollte sie etwas sagen, dann drehte sie wieder ihren Kopf zu der Wand. Sie verzog ihr Gesicht und knurrte mit tiefer Stimme: “Vergesst nicht, er ist der Feind. Sagt bloß nichts, hört ihr?” Im nächsten Moment sprach sie wie ein kleines Kind. “Ich habe Angst, oh mein Gott, was werden sie nur mit uns machen?” Ihre Stimme wurde wieder normal und sie flüsterte: “Beruhige dich, Alice, alles wird gut. Uns wird nichts geschehen…”
“Cassandra, ich meine Cassidy, würdest du bitte mit mir sprechen?”, fragte Dr. Bannet. So, wie es aussah, war es leichter mit ihr zu reden als mit Julia und Alice.
Das Mädchen sah sie wieder an, einen wütenden Ausdruck im Gesicht und ihre Stimme wurde wieder tiefer. “Warum sagen Sie uns nicht endlich, was für ein Doktor Sie eigentlich sind?”
Dr. Bannet seufzte. “Julia, ich bin Dr. Ken Bannet. Ich bin Experte für multiple Persönlichkeitsstörungen und seit Anfang des Jahres ihr Arzt.”

 

Hallo Yukito

Du hast dich mit deiner ersten Geschichte an eine sehr schwierige Thematik herangewagt und dir vielfältig ausgemalt, wie es sich darstellen könnte. Meines Dafürhaltens konnte dies so nicht gelingen, da es stringent Manifestationen des Krankheitsbildes aufweisen müsste, die man nicht einfach aufgrund des Lesens populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen abdecken kann.

Abgesehen davon hat deine Geschichte aber durchaus seinen Reiz. Doch es verliert sich, da du da zu viel hineinpacken willst und es dann auch in einem wirren Blutbad endet. Deiner Prota. wäre, wenn überhaupt eine Persönlichkeitsstörung hervorgehoben werden müsste, eher eine Antisoziale statt einer Dissoziativen angestanden, sie hätte ihr Verhalten abgedeckt. Im Einzelnen machst du aber zudem an manchen Stellen logische Fehler und auch Rechtschreibefehler treten auf. Über weite Strecken hatte ich zudem den Eindruck, in einer Jugendgeschichte zu stecken. Mit dem Motiv eines Mädchenheims hast du diesen Ansatz ja auch gewählt. Nachfolgend gebe ich dir einige Hinweise, die dir das vorgesagte etwas anschaulicher machen, wobei dies nur punktuell sein kann, da es sonst zu ausführlich würde:

Wenn eine der Schwestern sie sehen würde, würden sie wieder kein Essen bekommen.

Solche Strafen wären wohl bis etwa in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts glaubhaft. Seither habe sich die fürsorglichen Pflichten doch sukzessive verbessert.

Gehorsam trat Cassidy aus dem Zimmer und sah sich in dem Flur um.

Warum nicht einfacher?: sah sich im Flur um.

Wie der Rest des Hauses war er altmodisch eingerichtet, mit dunklen Dielen und alten, bereits verblassten Bildern. Dicke Vorhänge vor den Fenstern ließen kein Licht hinein, nur eine kleine Kerze auf der sperrigen Kommode ließ Cassidy die Umrisse des Mobiliars erkennen

Das ist viel Füllsel. Dass das Haus schlicht und veraltet eingerichtet war, lässt sich kürzer ausdrücken. Zudem was erwartet man in einem von katholischen Schwestern geführten Haus? Doch höchstens Zweckmässigkeit.

nahm eine Haarklammer aus ihrem Haar heraus. Sie bog die Klammer auseinander und stocherte mit ihr in dem Türloch herum.

Wohl eher Schlüsselloch. Da es sich um ein altes Haus handelt, darf man annehmen, dass es hierfür einer dieser grossen Schlüssel passt. Mit einer Haarklammer, die leicht biegsam ist, kann man ein solches Schloss unmöglich aufbringen. Also hätten sie sich eher einen der passenden Schlüssel beschaffen müssen.

Das Treppenhaus war minimalistisch eingerichtet. Keine Blumen, Teppiche oder Bilder.

Das ist nicht nur keine glückliche Wortwahl, sondern auch überflüssig, da das nachfolgend Fehlende es aussagt. Man könnte es auch mit einem Wort benennen, schmucklos. Aber erwartet man wirklich mehr an diesem Ort?

Es gab nicht einmal Kerzen, da die Mädchen in der Nacht nicht aus dem Zimmer gehen durften.

Es wirkt mir undenkbar, dass in früheren Zeiten, an solchen Orten, während der Nacht Kerzen brannten. Allenfalls vielleicht Öllampen.

Wenn eines der Mädchen sie gehört hatte, konnte sie die Drei nun an Keine der Schwestern verraten.

keine

In dem Treppenhaus ging es nun noch langsamer voran als vorher, denn jede der Stufen war alt und knarrte bei jeder Bewegung.

Wortwiederholungen dicht aufeinander sind so eine Sache, im gleichen Satz dann aber schon unschön. Vielleicht besser: die Stufen waren alt und knarrten bei jeder Bewegung. Obzwar, dass die Stufen in dem alten Haus nicht neu waren, darf man voraussetzen.

Was machst-

Dies ist nicht Regelkonform. Will man einen Satz unvollendet lassen, die restlichen Worte angedeutet, macht man dies nicht mit einem Bindestrich, sondern Auslassungszeichen: Was machst …”

Sie sprangen über den Zaun, der das Grundstück abgrenzte[KOMMA] und fanden sich auf einer Landstraße wieder.

Wenn es eine geschlossene Anstalt war, klingt dies etwas unwahrscheinlich, dass sie ohne Weiteres den Zaun überspringen konnten.

Wenn Autos an ihnen vorbeifuhren[KOMMA] versteckten sie sich- hier konnten sie niemandem trauen.

Sie versteckten sich wohl eher schon, als die Autos herannahten und nicht erst, als sie vorbeifuhren. Zudem vor dem Gedankenstrich gehört ein Leerschlag, wobei ein Komma hätte hier genügt.

Als ihnen mehrere Polizeiwagen entgegen kamen, stieß Julia sie in das Gebüsch am Waldrand und Cassidy hielt Alice den Mund zu, die aufschreien wollte.

Bei Flüchtigen aus Heimen kann ich mir nicht vorstellen, dass gleich ein Grossaufgebot an Polizei anrückt. Bei einem Gefängnis eher, dem einige schwere Jungs oder weibliche Pendants ausgerückt sind.

“Mein Fuß tut so weh, ich glaube, er ist gebrochen oder verstaucht…

Ha, hier hast du ja Auslassungszeichen gesetzt, doch fehlt ein Leerschlag zwischen dem letzten Wort und den drei Punkten. Keinen Leerschlag macht man nur, wenn das letzte Wort selbst unvollendet ist.

Es war still in dem Wald, die Stille war nur durchsetzt von ihrem Keuchen.

Bist du schon mal des Nachts durch einen Wald gelaufen? Es ist nie still, irgendwoher kommen immer Geräusche. Es sind da allerlei Tiere unterwegs. Zudem selbst am Tag führt das Laufen in einem Wald zu knackenden Zweigen, wenn man sich nicht auf einem ordentlichen Weg befindet.

Cassidy sah sich um, suchte in der Dunkelheit nach Taschenlampen, doch alles war dunkel.

Wohl eher: nach Lichtern von Taschenlampen, ...

“Wir haben sie tatsächlich abgehängt, wir sind frei, wir sind-

Hier wieder, warum nicht ordentlich Auslassungspunkte am Schluss?

Sie war an einem kalten Metallstuhl gefesselt und außer Julia, Alice und ihr war niemand in dem Raum.

Meine Güte, das klingt ja als ob es in den Anfängen des letzten Jahrhunderts spielt, an einen Metallstuhl gefesselt. Da du den Polizisten jedoch mit einem Taser bewaffnet hast, ist dies unmöglich, seit so langer Zeit gibt es diese noch nicht in deren Ausrüstung.

Die Oberschwester der katholischen Jugendanstalt St. Paulus hat mich kontaktiert, nachdem dich die Polizisten gefunden hatten.

Wenn das Heim von Ordensschwestern geführt wird, dürfte der Arzt da wahrscheinlich die korrekte Anrede Oberin verwenden.

“Sie ist ein so liebes Mädchen, würde sie nicht…

Und auch hier ein Leerschlag vor den Auslassungspunkten.

Er dachte an die zwei Polizisten, die Cassandra getötet hatte und an den Koch und die restlichen Männer, die nun ebenfalls im Krankenhaus lagen.

Die Pointe geht beinah etwas unter. Wenn die Leser nicht aufmerksam waren, war es ihnen nicht aufgefallen, dass Julia die Gewalttätige war. Und doch muss in der Akte, die der Arzt einsah, etwas stehen, dass es ihm als naheliegend erscheinen lässt, dass Cassandra die Täterin ist. Aber was ist mit den Aussagen der Polizei? So geht die Rechnung wohl doch nicht auf.

Sie verzog ihr Gesicht und knurrte mit tiefer Stimme: “Vergesst nicht, er ist der Feind. Sagt bloß nichts, hört ihr?” Im nächsten Moment sprach sie wie ein kleines Kind. “Ich habe Angst, oh mein Gott, was werden sie nur mit uns machen?” Ihre Stimme wurde wieder normal und sie flüsterte: “Beruhige dich, Alice, alles wird gut. Uns wird nichts geschehen…”

Das hier ist nun eine Passage, der ich keinerlei Glaubwürdigkeit abringen kann. Wenn die Geschichte als Horrorfantasie abgefasst wäre, würde ich mir sagen, es ist das Irreale, das in diesem Genre erlaubt ist. Aber hier erinnert es mich eher an den Wolf in Grossmutters Bett, also unfreiwillig komisch.

Ich bin Experte für multiple Persönlichkeitsstörungen und seit Anfang des Jahres ihr Arzt.”

Glaubst du ernsthaft, ein Facharzt würde sich selbst so definieren?

Rückblickend finde ich die Geschichte inhaltlich nicht schlecht, doch das Zwiespältige, dass du am Ende einrückst, gibt ihr den Touch von Kitsch. Die Idee selbst, dass die Gewalttaten der falschen Person zugerechnet werden, finde ich gelungen. Doch muss sie glaubhaft verpackt sein. Das mit der Persönlichkeitsstörung würde glaubhafter, wenn es als solches vage ohne Spezifizierung angetönt wäre, wobei ein klitzekleiner Anhaltspunkt, warum Cassidy überhaupt an einem solchen Ort verwahrt ist, wäre angebracht. Allein wegen einer Persönlichkeitsauffälligkeit wird niemand verwahrt, und wenn es erheblich ist, dann in einer Klinik.

Ich denke, du musst da an deiner Geschichte noch einiges überarbeiten, sie straffen, aber lass dich deswegen nicht entmutigen.

Im Ansatz hat sie einiges drin, so dass ich sie nicht ungern gelesen habe.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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