Der Fluch des Oberon
Ich kann mich nicht daran erinnern, je etwas gegessen oder getrunken zu haben; dennoch lebe ich und durchwandere tagein tagaus mein Heim- auf kümmerlichen Trampelpfaden, über knorrige Wurzelstöcke hinweg und entlang efeuverhangener Alleen. Überhaupt scheint mir so etwas wie ein Gedächtnis abhanden gekommen zu sein, wenn gleich mich hin und wieder Visionen und Träume heimsuchen, deren Wahrheitsgehalt sich jedoch nur schwer beurteilen lässt.
Was ich beurteilen kann, ist die Schönheit meines Zuhauses. Gerade jetzt, wenn die Bäume damit beginnen ihre Kronen abzuschütteln und das Laub den Boden wie eine flammende Decke überzieht, liebe ich den Aufenthalt hier über alle Maßen. Meine Türen sind niemals geschloßen und ich genieße den Duft den der Nebel mit sich bringt, wenn er sich vom Fluss aus auf den Weg macht, die mir bekannte Welt zu erobern, und schließlich in den schier endlosen Reihen wachsamer Bäume verharrt. Jede Einzelheit meines Heims wiederholt sich unzählbar oft und ich kann die verschiedenen Areale nur anhand der seltsam anmutenden, moosüberwucherten Steine unterscheiden, die jeder mir bekannten Form und Geometrie spotten.
Ich erschaudere, wenn ich daran denke, dass diese Monolithen den Lebewesen aus meinen Träumen gleichen. Ich wünschte ich wüsste, ob mein Äußeres diesen felsigen Gestalten ähnelt, doch traf ich bis jetzt niemanden, der mir sagen konnte, wie ich aussehe und selbst die spiegelnden Oberflächen, ruhig dahin sichernder Bäche, lassen mich im unklaren über meine eigene Physiognomie. Einmal kam mir der Gedanke, ich selbst könne der Erbauer dieser steinernen Abbildungen gewesen sein und es einfach in der unendlich langen Zeit, seit dies geschehen war, vergessen haben, denn solange ich zurückdenken kann, existierten nur ich und der Wald.
Nun, dies stimmt nur zum Teil, denn hin und wieder begegne ich einer meiner Töchter. Es sind drei an der Zahl, alle samt wunderschön und einzigartig. Ich kenne ihre Herkunft nicht, und auch ihre Namen sind mir unbekannt, doch weiss ich, dass sie mir entspringen. Die Erste ist von heiterem Gemüht, ihr Augen sind rein wie der Tau eines frischen Sommermorgens und ihr Lachen klingt schöner als das zwitschern der Vögel. Die Zweite ist stolz, anmutig und solch ein Unikat, wie es nur die feine Silhouette eines gefrorenen Eiskristalls sein kann. Die Schönheit meiner letzten Tochter liegt nicht in ihrer Anmut oder ihrem Antlitz, nein, ihr Licht scheint von Innen. Der Klang ihrer melancholischen Stimme ist lieblicher als ein Kuss und ihre Berührungen betten ein jeden Herz auf Samt.
Außer diesen Drei bewohnt kein empfindsames Wesen meine Welt und sie selbst sehe ich stets nur abwechselnd, und zu konstant wiederkehrenden Zeitpunkten, einmal im Jahr. Obwohl ich allein bin und mit niemandem mein Dasein teilen kann, bin ich nicht unglücklich; auch verspüre ich keinen Drang mein Heim zu verlassen oder dessen Grenzen auszuloten. Ich fege durch Äste, schlafe auf Flussbetten und in den hohlen Stämmen, verdorrter Weiden und wenn ich mich zurückziehen will, träume ich im Glanz eines lichtdurchfluteten Hains.
Es gibt Tage, an denen schrecke ich aus meinem Schlummer auf, mit rasender Wut, und in meinen Gedanken schwirren die Fetzen einer Erinnerung, die ich niemals erlebt habe. Oft sehe ich dabei das verblassende Bild meines Sohnes. Einen Sohn, dem ich noch nie begegnet bin und an dessen Zeugung ich mich nicht erinnern kann. Diese absurden Visionen entflammen meinen Zorn derart, dass ich Tagelang durch mein Heim tobe, brüllend und schreiend, während sich der Himmel verdunkelt, die Bäume sich zu heimtückischen Klauen verformen und die ruhelosen Flüsse zu modrigen Sümpfen verkommen.
Doch mein Sohn kann keine Einbildung sein, denn keine Illusion vermag ein solch tiefes Loch in der Seele eines Lebenden zu hinterlassen. Die Unkenntnis über seinen Aufenthaltsort straft mich tausend Tode und lässt mich erschaudern im Angesicht einer Vergangenheit, die vor meiner jetzigen Existenz zu liegen scheint.
Einst war der Drang, mehr über die Herkunft meines vergessenen Sohnes zu erfahren, derart stark, dass ich einen der vermummten Schatten- die mein Königreich hin und wieder auf hufbeschlagenen Wesen durchqueren, um Auskunft bitten wollte. Ich beendete mein Unterfangen noch bevor ich es begonnen hatte, denn das raschelnde Flüstern der Bäume beschwor mich und warnte vor einem Aufeinandertreffen mit den dunklen Gestalten. Als heimtückisch wurden sie mir beschrieben und der Gesundheit ganz und gar abträglich. Ich solle die Ruine im Osten aufsuchen- die gigantische Ansammlung grotesker Steine und Felsgestalten, dort könne ich Antworten finden, sollte ich denn die richtigen Fragen kennen, säuselten mir die Blätter zu.
Es scheint, ich kenne die Fragen nicht, denn das Einzige was ich an diesem verfluchten und von Spinnweben verhangenen Ort fand, war das Relief, welches ich bereits kannte und das eine gekrönte Gestalt zeigt, zu deren Füßen sich zahlreiche der selben Art versammelt haben, und sich vor dem gekrönten Mann sowie einer kleineren Gestalt auf seinem Schoß verbeugen. Unter dem vermaledeiten Werk prangert die Inschrift Oberon, als Ausspruch all dessen was mich verfolgt.
Abermals wandelte sich meine Verwirrung in Zorn, Zorn über die Unwissenheit, und schlagartig begannen scharfe Winde um mich zu toben, immer schneller und schnell, bis sie einem Wirbelsturm glichen und der Himmel so schwarz wie Tinte wurde. Plötzlich hörte ich aus der Ferne das klappernde Geräusch eines galoppierenden Schattens und ich schwor mir feierlich dieses Mal nicht zu verzagen, komme was da wolle. Ich stürmte los und hinter mir, vor mir, neben mir, einfach überall, ächzten die Bäume und ihre Äste wankten wie toll hin und her. Schon bald fand ich den vermummten Schatten auf seinem galoppierenden Ding und ich erkannte, dass er eine kleiner Version seiner selbst in den Armen hielt. Ich musste einem Trugbild zum Opfer gefallen sein, denn Wen ich dort in den Armen zu erblicken glaubte, lies mich weit ab jeder Vorstellungskraft erschaudern- Es war mein Sohn, mein Spross.
Eine unbeschreibliche Haltlosigkeit durchfuhr mich. Ich rief mein eigen Fleisch und Blut und bat ihn, er solle zu mir zurückkehren und an meiner Seite die Äonen überdauern; doch sein Gesicht verzerrte sich zu einer angsterfüllten Fratze, als er sich meiner Anwesenheit gewahr wurde. Ich berührte ihn vorsichtig am Arm, so zart ich nur konnte, und in diesem äußerst nahen Moment erkannte ich, dass die Gestalt in den Armen nicht mein Sohn war, sondern eine aus der Ferne täuschend ähnlich anmutende Erscheinung dessen, wonach ich mich so sehr Verzehre.
Kurz darauf verschwanden die Schatten aus meinem Heim und ich blieb allein zurück, in Mitten von Dunkelheit. In der absoluten Stille dieses Moments vernahm ich einen lauten Schrei und aus eigener Erfahrung heraus wusste ich, dass es der Schrei eines Vaters war, den der Anblick seines toten Sohnes unvorstellbare Qualen erleiden ließ. Rückblickend begreife ich meine Tat und ich halte mich seit dem von den galoppierenden Schatten fern. Es ist mir sowieso deutlich lieber, im Glanz des lichtdurchfluteten Hains zu ruhen, und für den Rest der Ewigkeit unter den Erlen zu träumen.