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Der "Fluch des Greisen"
[2.Korrektur]
“Hey du!”
Chris drehte sich um.
”Ja genau du! Schau mal zu mir!”
Eine krächzende Stimme drang zu ihm. Chris ging einige Schritte zurück, bis er gegen die Sandsteinmauer der Groß St. Martin trat. Er drehte sich um und entdeckte einen Wasserspeier in dämonischer Gestalt.
“Endlich habe ich deine Aufmerksamkeit!”
“Nicht schon wieder.”
Chris stöhnte. Allein der Fakt, dass der Wasserspeier das einzige Stück der Kirche war, dass aus Schurbach-Granit gefertigt war, war für Chris Beweis genug, dass es sich wieder um eine seiner Phantasien handelte.
“Was heißt hier nicht schon wieder?”
Der Wasserspeier grinste böse.
“Wir treffen uns doch zum ersten mal.”
“Lass mich in Ruhe."
Chris drehte sich wieder um und ging in Richtung Rheinpromenade. Er wollte mit diesen Gestalten nichts zu tun haben. Anfangs hatte er sich vor ihnen noch erschreckt, aber jetzt wurden sie nur noch lästig.
Im Sommer war er nach Köln gezogen, um hier sein Studium zu beginnen, damals war er sehr begeistert gewesen, über die Herzlichkeit und Offenheit der Menschen, die ihm hier entgegenschlug. Doch in den folgenden Monaten sank die Euphorie allmählich, als ihm immer mehr seltsame Phänomene begegnen, die außer ihm niemand wahrnahm. Düstere geflügelte Wesen lauerten ihm an den schattigsten Ecken und engsten Gassen auf. Sie murmelten ihm eindringlich unverständliche Worte zu oder verfolgten ihn mit scharfen Blicken.
Chris wusste, dass ihm niemand glauben würde, wenn er darüber spräche. Für einen gesunden 19-jährigen waren solche Erscheinungen doch schließlich sehr ungewöhnlich.
“Hey bleib hier!”
Der Wasserspeier breitete seine Flügel aus und schwang sich in die Lüfte. Rastlos flatterte er vor Chris hin und her.
“So schnell wirst du mich nicht los.”
“Verschwinde.”
Der Wasserspeier setzte eine traurige Miene auf.
“Was habe ich dir denn getan?”
Er fing an schrill zu lachen und sank auf Chris’ Schulterhöhe hinunter.
“Na? Keine Angst?”
Chris versuchte den Wasserspeier mit einer Handbewegung wegzuscheuchen, doch er stieß sich die Hand am harten Granit. Der Wasserspeier lachte wieder und stieg etwas höher in die Luft. Chris fühlte Wut in sich aufbrodeln.
“Was willst du von mir?”
Chris Stimme war vor Ärger zu einem Schreien angeschwollen und er hielt den Blick starr nach oben gerichtet. Er zuckte zusammen als ihm einfiel, dass dieser Wasserspeier wieder mal nur eine seiner Erscheinungen war. Und er schrie in aller Öffentlichkeit in die Luft. Schnell senkte er den Kopf und schaute sich um. Ihm wurde heiß vor Scham, als er zwei ältere Damen erblickte, die ihn verächtlich anstarrten.
“De Jugend vun hück. Se künn met däm Alkoholkonsum effe net haushalten.”
“Kumm Silke, reg dich net op.”
Chris rannte schnell in eine Gasse und versteckte sich hinter eine Hauswand. Was die Leute auf Dauer nur von ihm denken würden. Ihm war das sehr peinlich. Ein Schatten fiel in die Gasse und Chris sah steinerne Flügel flattern. Der Wasserspeier ließ sich neben ihn auf dem Pflasterstein nieder.
“Was ich von dir will? Na genau das.”
Er deutete um die Ecke, wo die zwei alten Damen gewesen waren.
“Irgendwann kommst du noch in die Klapsmühle wegen uns. Ist doch witzig, nicht?”
Er lachte und klopfte sich dabei mit den Pranken auf die Brust. Chris sah ihn wütend an, doch unter seinen Ärger mischte sich zunehmend Furcht. Was ist, wenn dieser Steinhaufen recht hatte? Vielleicht wird er wirklich langsam wahnsinnig. Chris erschauderte bei den Gedanken.
Der Wasserspeier hörte abrupt auf zu lachen und funkelte Chris an. Sein Blick wurde eiskalt.
“Dort wirst du krepieren, dein Geist wird über die Tage auseinander genommen, Stück für Stück, bis du nur noch mit leeren Blick an die Wand starren wirst. Wehren kannst du dich nicht. Fliehen kannst du nicht. Denk an meine Worte, wenn du eine alte Bekannte von mir treffen wirst.”
Eine der schrecklichsten Begegnungen, an die sich Chris noch erinnern konnte, war am großen Domplatz im Stadtzentrum. Besonders hier an der großen gotischen Kathedrale mit ihren zwei mächtigen Türmen, die dem Stadtbild ihren Charakter gaben, hatte er schon oft Erscheinungen gehabt, weshalb er den Ort mied. An diesem späten Novemberabend allerdings kam er, als er von einem Besuch bei einem Freundes nach Hause ging, nicht drum herum. Einige Straßen waren wegen einer Großbaustelle gesperrt und Chris war zu müde, den beschilderten Umleitungen zu folgen.
Es war so spät, dass sogar der Domplatz leer war, bis auf eine verkommene Gestalt, die vor dem Hauptportal der Kathedrale stand. Zunächst hatte Chris gedacht, es handle sich um eine Bettlerin, wovon sich hier besonders tagsüber viele tummelten. Doch nach einem zweiten Blick war sie verschwunden. Verwirrt wandte sich der Junge wieder ab, als ihn eine Hand an der Schulter packte. Chris zuckte zusammen und schaute entsetzt auf eine blasse Hand, die nur so von Altersflecken strotzte.
Erstarrt musterte er sie. Ihre Adern traten von der grauen, bleichen Haut so weit hervor, dass er fürchtete, diese könnten jeden Moment platzen. Die krummen Finger mündeten in lange ngelben Nägel, deren zerfransten Enden wohl schon stundenlang zerkaut wurden.
Vorsichtig drehte Chris sich um und erblickte in ein verkrampftes, faltiges Gesicht. Angewidert stellt Chris fest, dass es fast schon dem einer Leiche glich. Es gehörte einer uralten Frau, deren Gestalt nur noch so wenig Weiblichkeit ausstrahlte, dass Chris sich ernsthaft fragte, ob er mit seiner Einschätzung über das Wesen vor ihm richtig lag. Ihr abgemagerter Körper stützte sich auf einen angefaulten Holzstock.
Die Frau funkelte ihn mit grimmigen Ausdruck aus großen hervorstehenden Augen an, die aus stark umrandeten Augenhöhlen ragten. Sie trug ein Kopftuch, welches ihr Gesicht teilweise in Schatten hüllte.
“Deine Zeit naht ihrem Ende!”, krächzte sie und offenbarte einen fast zahnlosen Unterkiefer, der sich beim Sprechen vom restlichen Schädel zu lösen schien.
Ein einziger Eckzahn krümmte sich so weit vor, dass er selbst bei geschlossenem Mund ein Stück über die Oberlippe heraus ragte.
”Am Abend des nächsten Jahreswechsel wird es passieren!”
Die Alte hustete und Blut fing an aus ihrem Mund zu fließen
”Sei auf der Hut, kleiner Junge. Die Wellen des Rheins werden deine Eingeweide an sich reißen und dich in Tiefe drücken, jedoch wirst du nicht sterben, nein...”
Sie riss ihre Augen so weit auf, dass Chris befürchtete, diese könnten jeden Moment aus ihren Augenhöhlen fallen.
“Dein Körper wird verrotten, aber dein Geist wird auf ewig an uns gebunden sein! Du wirst sterben, um als unser Knecht wiedergeboren zu werden und keine Entscheidungen werden dir erlaubt, keine Emotionen dir gelassen. Du wirst unter Qualen leiden, endlose Qualen! Du wirst an den Fluch des Greisen gebannt sein!”
Als die Alte abschloss und klang fast schon feierlich. Sie schmatzte so sehr, dass Chris sie kaum noch verstehen konnte. Das Blut rann aus ihren Lippen und floss an ihrem Kinn hinunter.
Geschockt starrte Chris die abscheuliche Gestalt stumm an. Diese Schmatze noch einmal genüsslich und leckte sich ihr Blut vom Kinn, als hätte sie soeben ein köstliches Mahl beendet. Dann klopfte sie Chris mit einem breiten Lächeln auf die Schulter, drehte sich um und schritt langsam auf dem Stock gestützt davon. Sein Herz raste. So entsetzlich real wie diese war ihm noch nie eine Erscheinung vorgekommen. War sie diesmal echt? Oder war das nur wieder ein bedeutungsloses Produkt seiner Phantasie? Er blinzelte. Als er die Augen wieder öffnete war von der Frau nichts mehr zu sehen.
An dem Abend hatte Chris noch lange über dieses Geschehen nachgedacht. Er hatte sogar mit den Gedanken gespielt, einen Psychiater aufzusuchen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit war er eingeschlafen mit dem Entschluss dieses Geschehen zu vergessen und den Domplatz bis auf weiteres zu meiden.
Doch jetzt machte dass alles einen Sinn. Silvester kam immer näher, doch Chris hatte die Begegnung nicht aus seinem Kopf verbannen können. Am Silvesterabend traf er sich in seinem Freundeskreis an der Rheinpromenade gegenüber des Doms und feierte mit Sekt, Kölsch und zahlreichen eigenen Böllern und Raketen. Mitten in der Party und nur wenige Augenblicke vor Neujahr kippte eine Flasche mit einer gezündeten Rakete um und wurde genau auf Chris abgefeuert. Dieser rutschte bei dem Versuch auszuweichen aus und kippte über das Geländer in den Rhein. Die Rakete streifte seine Hand und brachte die Bierflasche zum platzten. Die Splitter bohrten sich tief in seine Brust, während ihn die Wassermassen verschlangen.
Bevor er ins Wasser gestürzt war, meinte er für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf eine grinsende, alte Gestalt erhascht zu haben, welche er mit Mühe versucht hatte zu vergessen.
“Was machst du da?”
Chris zuckte zusammen. Unter dem prüfenden Blick seiner Freundin wurde ihm heiß vor Scham.
“Ähm. Nichts.”
Er drehte sich zu ihr um und versuchte mit dem Rücken die Straßenlaterne hinter sich möglichst zu verstecken. Die Holzlatten der Parkbank stachen ihm ins Steißbein.
“Was ist da?”
“Nichts, Oana, wirklich. Ich hab nur eine Fliege weggescheucht.”
“Du hast doch da was in die Laterne geritzt. Vielleicht ein “O+C” in einem Herzchen?”
Kichernd schob Oana ihren Freund beiseite und musterte die Straßenlaterne.
In dem Moment wünschte Chris, er hätte das tatsächlich getan.
“Da ist ja gar nichts.”
Enttäuscht ließ seine Freundin von der Laterne ab.
“Also manchmal Frage ich mich, was mit dir los ist.”
Ein kalter Wind blies Chris um die Ohren.
“Du bist so abwesend in letzter Zeit. Und so paranoid. Ständig starrst du in den Himmel oder stellst dich in den Schatten von Häusern. Und dann schlägst du immer so große Bögen um Kirchen, als ob das radioaktiv verseuchte Gebiete wären.”
Was sollte er ihr nur erzählen? Dass er einen Schädel in der Laterne gesehen hatte, welcher auf ihn eingeredet hatte? Dass er kurz davor war, diesem auch noch zu antworten? Dass es mal wieder eine der Erscheinungen war, die nur er zu Gesicht bekam? Sie hätte ihn für verrückt gehalten, ihm empfohlen die Uniklinik zu besuchen und sich auf einen Hirntumor untersuchen zu lassen.
“Es geht mir gut, wirklich. Ich war nur abgelenkt.”
“Abgelenkt? Wovon?”
“Von dir.”
Oana schien nicht überzeugt. Chris seufzte.
“Pass mal auf.”
Er hob einen Stein vom Boden auf und ritzte ihre Initialen in einem Herz auf die Straßenlaterne.
Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht seiner Freundin aus. Er nahm ihre Hand und drückte sie an sich.
“Dass du das ja niemals vergisst! Egal was mir geschieht, wir bleiben immer zusammen”
Doch das sollte sich bereits am folgenden Silvesterabend ändern. Beide feierten in ihrem jeweiligen Freundeskreis, somit bekam Oana nichts mit von Chris' tragischen Unfall.
Nun sank ihr Freund dorthin, wo die Schlüssel der Liebesschlösser der Hohenzollernbrücke verschwanden.
Immer weiter in die Tiefe zog es Chris’ Körper. Über sich sah er durch die friedlich rauchende Wasseroberfläche unzählige farbige Explosionen, denen vom Wasser sehr gedämpft ihr Knallen folgten. Das Lichtspiel wurde immer intensiver. Vom Flussufer drangen Jubelschreie leise zu ihm durch. Der Jahreswechsel stand unmittelbar bevor.
Ein Glas Sekt viel über Chris ins Wasser und sank hinter ihm her in die Tiefe. Das Wasser war für einen so stark befahrenen Fluss außergewöhnlich klar. Gelähmt und vollkommen benebelt, konnte Chris nicht die Kraft aufwenden, sich zu bewegen und sich an die Wasseroberfläche zu retten. Ein schwarzer Schleier entstieg aus seinem Körper und blieb wie eine Wolke über ihm hängen. Aus seiner Brust ragten zahlreiche Braunglas-Splitter, an denen das Blut, schwarz im Wasser, heraus strömte.
Der zerschundene Körper des Jungen setzte auf dem Flussgrund auf. Apathisch beobachtete er das Feuerwerk über dem Rhein, während das Blut ihm aus sämtlichen Wunden floss und sich im Wasser verteilte.
Kein Brennen machte ihn auf die zahllosen Glassplitter aufmerksam, die seinem Körper, von seiner Brust bis zu den Schultern, sprenkelten. Kein Schmerz breitete sich in seinem Körper aus und kein Drang brachte ihn dazu nach Luft zu schnappen.
Die Worte der Alten gingen ihm durch den Kopf während Chris auf dem Flussgrund lag. Die Prophezeiung hatte er sich erfüllt, doch er werde nicht sterben, hatte sie gesagt. Diese Hoffnung verschwand samt all seiner Kraft aus seinem gelähmten Körper. Langsam wurde ihm schwarz vor Augen. Das letzte, was Chris wahrnahm waren schemenhafte geflügelte Gestalten, bevor er sein Bewusstsein verlor.
“Deine Zeit ist nun gekommen”, krächzte eine unheilvolle Stimme, “Die Zeit für deine Verwandlung. Der Fluch des Greisen wird deinem Geist ein neues Leben einhauchen. Dafür wirst du ab jetzt tun, wie dir geheißen, gleich ob du willst oder nicht. Du wirst unsere Befehle nicht hinterfragen, deine Emotionen wirst du ablegen”.