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Der Fluch der Kitty Christmas
1. Advent
„Dein Vater und ich fahren über Weihnachten nach Gran Canaria.“
„Wie bitte?“ Ruckartig setze ich mich auf dem Sofa auf. „Mama, wenn du sagst, du hast eine gute Nachricht, dann gehe ich davon aus, du meinst: gut für mich.“ Meine Mutter lacht, viel zu aufgekratzt, um sich ihre Hochstimmung verhageln zu lassen.
„Jetzt freu dich doch mal für uns! Wir lassen das miese Winterwetter und den Feiertagsstress einfach hinter uns.“ Ja, genau und mich gleich mit. Wie egoistisch kann man eigentlich sein?
„Ihr lasst Weihnachten einfach so ausfallen?“
„Ach, Till …“ Sie legt eine Pause ein. „Meinst du nicht, jetzt, wo du 30 bist, können wir uns langsam mal von den alten Traditionen verabschieden? Du magst den ganzen Kitsch doch eh nicht.“ Ach so, nur weil ich es letztes Jahr gewagt habe, sie darauf hinzuweisen, dass sich das Weihnachtsmannmotiv auf dem selbstgestrickten Pulli minimal mit meinen roten Haaren beißt? Ich wusste doch, dass sie mir den Kommentar irgendwann heimzahlen wird. Ich will meiner Empörung gerade Luft machen, als sie mir mit dem nächsten Satz den Wind aus den Segeln nimmt.
„Feier doch mit Melissas Familie. Die freut sich bestimmt.“ Melissa. Tja … Irgendwie hab ich die Gelegenheit verpasst, meinen Eltern mitzuteilen, dass Melissa und ich uns vor zwei Monaten getrennt haben. Vielleicht hab ich auch insgeheim darauf gehofft, dass sich das zwischen uns schnell wieder einrenkt. Schließlich hat sie mir bisher noch immer verziehen. Aber dieses Mal bleibt sie untypisch stur. Dabei bin ich nicht mal fremdgegangen. Ich hab nur ganz unverbindlich mit ein paar Frauen auf Tinder gechattet. Müsste sie da nicht langsam mal drüber hinweg sein?
Ich klemme den Hörer vom Festnetztelefon zwischen Ohr und Schulter und angle nach meinem Smartphone. Während meine Mutter munter vor sich hin plappert und mir jede Behandlung des Hotel-Spas einzeln auflistet, öffne ich den Chat mit Melissa und tippe:
„Schon irgendwelche Pläne für Weihnachten?“ Die Antwort folgt prompt.
„Eierlikör trinken, bis ich dich vergessen habe.“ Ich werte das als kleinen Etappensieg. Immerhin klingt es so, als würde ich ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Um meine Laune weiter anzuheben, gehe ich in die Küche und mache mir ein Bier auf. Ich will den Raum schon wieder verlassen, als ein Geräusch am Küchenfenster mich innehalten lässt. Das klang ja fast wie …
„Miau!“ Vor Schreck verschlucke ich mich am Bier. Hustend stelle ich die Flasche auf dem Küchentresen ab. Am anderen Ende der Leitung unterbricht meine Mutter ihren Monolog und stellt irgendeine Frage. Ich ignoriere sie und eile zum Fenster. Durch die Scheibe blickt mir ein kleiner fellbesetzter Kopf entgegen. Tatsächlich! Eine Katze! Wie ist die denn da hingekommen? Das Fensterbrett befindet sich gut zwei Meter über dem Boden.
„Miau!“, wiederholt die Katze, dieses Mal noch nachdrücklicher. Sie will wohl, dass ich sie reinlasse. Das kannst du knicken, Missy. Ich betrachte das Tier genauer. Mit seinem langen weißen Fell hebt es sich vom Nachthimmel ab wie ein Yeti. Die Ohren gehen an der Spitze in kleine Pinsel über. Sieht nach einem teuren Rassetier aus, das draußen nichts verloren hat. Ob es weggelaufen ist? Na ja, nicht mein Bier. Apropos.
Ich schnappe mir die Flasche und steuere das Wohnzimmer an. Erst als ich wieder ins Polster der Couch sinke, wird mir das Tuten am Ohr bewusst. Meine Mutter hat wohl mitbekommen, dass ich nicht ganz bei der Sache war. Aber auch das ist mir gerade egal. Ich rutsche in Bauchlage, schalte den Fernseher ein und suche mir den plattesten Slasher-Film raus, den Netflix zu bieten hat. Einer Gruppe Hohlhörnchen dabei zuzusehen, wie sie der Reihe nach niedergemäht werden, ist meine Vorstellung von Entspannung.
Gerade als sich auf dem Bildschirm ein besonders spektakulärer Kill entfaltet, mischt sich ein penetranter Laut unter das Kreischen der Motorsäge.
„Miau!“ Im Zeitlupentempo drehe ich den Kopf in Richtung Terrassentür. Prompt richtet sich der weiße Schatten dahinter auf und presst die Vorderpfoten gegen die Scheibe.
„Miiiaaauuuu!“ Ich zögere kurz. Das Tier tut mir nun doch ein bisschen leid, wie es da so nass und zerzaust dem Winterwetter trotzt.
„Hier kannst du aber nicht rein! Der Teppich ist gerade frisch gereinigt“, rechtfertige ich mich, als könne die Katze mich hören. Tatsächlich stellt sie ihr Betteln ein und weicht von der Scheibe zurück. Ihre geschlitzten Augen werden noch eine Spur schmaler. Der Ausdruck darin hat erschreckende Ähnlichkeit mit dem des Serienkillers auf dem Bildschirm.
Hastig wende ich mich ab und drehe den Ton lauter, um das wieder einsetzende Miauen zu übertönen. Doch das Geräusch scheint direkt in meinem Ohr zu sitzen. Wieso ist das Viech so dermaßen laut? Das ist doch nicht normal!
Irgendwann herrscht endlich Ruhe. Ich atme auf und lehne mich zurück. Im selben Moment macht sich jemand neben mir mit einem Räuspern bemerkbar.
Das Geräusch lässt mich so schnell auf Distanz gehen wie ich es normalerweise nur bei den Worten „Joggen“ und „Babysitten“ tue. Wer?! Wo?! Endlich finden meine umherirrenden Augen den Eindringling. Perplex glotze ich die weiße Katze an, die sich auf meiner Sofalehne breitgemacht hat. Das Tier wetzt die Krallen an dem empfindlichen Stoff, bevor es den Schwanz um die Pfoten kringelt und eine majestätische Pose einnimmt.
„Ich bin Kitty Christmas“, verkündet es mit samtiger Stimme. „Ich habe dein schwarzes Herz mit einem Fluch belegt. Um ihn zu brechen, musst du drei edle Taten vollbringen, ehe die Sonne an Heiligabend versinkt oder auf ewig verdammt sein.“ Tausend Gedanken schießen mir gleichzeitig durch den Kopf. Am Ende bleibt nur einer hängen: Scheiße, das Bier war abgelaufen! Ich schließe die Augen, zähle im Kopf bis drei und öffne sie wieder. Die Katze sitzt immer noch am selben Fleck und erwidert meinen Blick stoisch. Können verdorbene Lebensmittel wirklich Halluzinationen hervorrufen? Und dann auch noch so hartnäckige? Vielleicht träume ich ja auch. Ja, das muss es sein!
Zufrieden mit meiner Erklärung drehe ich mich um und schlurfe mit zombiehafter Langsamkeit – wie es sich für einen Schlafwandler gehört – in Richtung Bett.
„Hey!“, macht die Traumgestalt hinter mir empört. „Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du bist verflucht! Dem Untergang geweiht! Hey!“ Mit eiligen Tapsern folgt sie mir ins Schlafzimmer, wo ich mich – angezogen wie ich bin – unter der Decke verkrieche. Einfach Augen zu und einschlafen, beziehungsweise weiterschlafen. Am Rande registriere ich noch, wie sich ein warmer Körper auf meiner Brust niederlässt, dann schaltet sich mein Bewusstsein aus.
Montag. Zum ersten Mal in dieser Woche werde ich vom wütenden Schrillen des Weckers aus dem Tiefschlaf gerissen. Statt aufzustehen, krieche ich noch tiefer unter die Decke und leide stumm vor mich hin. Mein Gefühl sagt mir, dass ich heute besser liegenbleiben sollte. Wenn ich an den bevorstehenden Tag denke, fällt mir auch nichts ein, was mich aus dem Bett locken könnte. Alles, was mich erwartet, sind anstrengende Termine und ein Stapel überfälliger Aufgaben. Gerade als ich den heldenhaften Entschluss gefasst habe, mich meinem Schicksal zu stellen, wird der Alarm abgewürgt.
„Danke.“
„Gern geschehen. Du musst aber trotzdem aufstehen.“ Ich grunze.
„Ist mir klar, Melissa.“
„Ich bin nicht Melissa. Wie ich schon sagte, man nennt mich Kitty Christmas.“ Sofort ist die Müdigkeit wie weggeblasen und ich sitze aufrecht im Bett, wenige Zentimeter vor mir mein ungebetener Übernachtungsgast.
„Na endlich!“
„Ah!“ Ich reiße die Decke hoch. Die Katze wird vom Bett katapultiert und landet auf allen vieren auf dem Teppich. Sie faucht und macht einen Buckel.
„Du bist der respektloseste Zweibeiner, der mir je untergekommen ist! Wenn ich dich doppelt verfluchen könnte, würd ich’s tun!“ Ängstlich weiche ich zur Wand zurück und raffe die Bettwäsche um mich zusammen wie einen Schutzkokon.
„Wieso kannst du sprechen?“
„Du meinst: Wieso kannst du mich verstehen? Das können nur Menschen, die mit meiner Magie in Berührung gekommen sind. Aus praktischen Gründen, vermute ich. Ich hab damals keine Gebrauchsanweisung bekommen.“
„Bist du ein Dämon?“ Die Katze sträubt ihr Fell.
„Unverschämtheit! Ich bin eine Göttin! Und meine Mission ist es, bösen, egoistischen Menschen eine Lektion zu erteilen. Aus irgendeinem Grund funktionieren meine Kräfte aber nur zur Weihnachtszeit. Deshalb nannte man mich früher »Weihnachtskatze«. Unsere Marketingabteilung meinte aber, das wäre nicht mehr zeitgemäß. Nach dem Rebranding heiße ich jetzt Kitty Christmas. Das ist Englisch und Alliteration zugleich! Cool, oder?“ Sie blickt Beifall heischend zu mir hoch. Ich räuspere mich.
„Habe ich den Verstand verloren?“ Bis eben war mir nicht klar, dass Katzen eine abfällige Pfotenbewegung machen können. Aber Kitty Christmas bringt irgendwie eine zustande.
„Die Leier schon wieder. Das ist das Problem mit euch neuzeitlichen Menschen. Ihr hinterfragt zu viel. Früher reichte es, wenn ich einmal meinen Spruch aufgesagt habe. Die Leute brauchten nur »göttliches Wesen« und »Fluch« zu hören und die Sache war gegessen. Heute muss ich meine Zeit mit dummen Fragen verschwenden wie »Warum eine Katze?« und »Wieso ausgerechnet ich?«“
„Ja genau, wieso ausgerechnet ich?“ Die Katze seufzt und holt tief Luft. Doch bevor sie zu einer Erklärung ansetzen kann, mischt sich der Wecker in die Diskussion ein. Kitty springt am Nachttisch hoch, um das Gerät zum Schweigen zu bringen. Währenddessen stolpere ich zum Kleiderschrank. Verrückt oder verflucht, eines bin ich ganz sicher: spät dran. Das eben war der Allerletzte-Chance-Alarm.
Ich konzentriere mich darauf, meine Morgenroutine im Schnelldurchlauf abzuwickeln und blende dabei den weißen Schatten, der mir auf Schritt und Tritt folgt, so gut wie möglich aus. Im Hinblick auf die fortgeschrittene Stunde verzichte ich aufs Frühstück und streife mir Schuhe und Mantel über. Als ich mich der Wohnungstür nähere, springt mir Kitty in den Weg.
„Warte! Du musst mich mitnehmen!“
„Vergiss es!“ Ich mache einen ungeduldigen Schritt nach vorne, aber die Katze weicht nicht einen Millimeter zurück.
„Wie soll ich sonst überprüfen, ob du deine drei guten Taten vollbringst?“ In der Ferne höre ich die Kirchturmuhr acht schlagen. Ich hab jetzt keine Zeit, mich mit dieser Hello Kitty für Arme rumzuärgern. Kurzerhand packe ich die Katze am Nackenfell und setze sie auf dem höchsten Küchenschrank ab.
„Das wirst du noch bereuen!“, faucht sie mir hinterher, als ich im Laufschritt aus der Wohnung eile. „Wenn du dich weigerst zu kooperieren, lasse ich den Fluch sofort auf dich los.“ Ich schaue nicht zurück und haste in Richtung Straßenbahnstation. Das mit dem Fluch war hundertpro ein Bluff. Etwas, womit sie blauäugigen Menschen Angst macht, damit sie nach ihrer Pfeife ta-
„Ah!“ Mit einem Mal komme ich ins Rutschen und lande auf dem Hintern. Mit spitzen Fingern pelle ich den Gegenstand von meinem Schuh, der mich zu Fall gebracht hat: eine Bananenschale. Echt jetzt? Das ist so klischeehaft, dass es schon fast kein Zufall mehr sein kann. Hat der Zeckenspender etwa doch die Wahrheit gesagt? Instinktiv schüttele ich den Kopf. Unsinn! Flüche gibt’s nicht. Und Klischees müssen schließlich auch irgendwo ihren Ursprung haben.
Ich setze meinen Weg fort und passe dieses Mal ganz genau auf, wo ich meine Füße hinsetze.
An der Haltestelle informiert mich die Anzeigetafel, dass die nächste Bahn in acht Minuten kommt. Na also, da habe ich sogar noch genug Zeit, mir was beim Bäcker zu holen. Ich kämpfe mich durch den drängelnden Pulk zum Tresen vor und erbeute mir ein verspätetes Frühstück. Der Duft des warmen Croissants bringt meinen Magen zum Rumoren. Ich verschlinge das Gebäck in zwei Bissen und stelle mich zu den anderen Leuten an den Bahnsteig. Ein kleiner Rest Optimismus regt sich in mir. Vielleicht wird der Tag ja doch gar nicht so übel. Ich bin da auch nicht sonderlich anspruchsvoll. Ein gesättigter Magen und Koffein reichen mir fürs Erste. Ich setze den Kaffeebecher an die Lippen. Im Bruchteil einer Sekunde registriere ich, dass der Deckel nicht richtig fest sitzt, dann ergießt sich der dampfende Schwall schon über mein Gesicht.
Mein Schrei bringt die Tauben zum Aufflattern. Blind vor Schmerz torkele ich über den Bahnsteig und reibe mir übers Gesicht. Verdammte Axt, tut das weh! Es dauert eine Ewigkeit, bis das Brennen abebbt. Vorsichtig nehme ich die Hände vom Gesicht und sehe mich um, um sicherzustellen, dass keine Handykamera auf mich gerichtet ist. Ich habe keine Lust, einen Part in der nächsten Fail-Compilation auf YouTube zu übernehmen. Doch meine Sorge erweist sich als unbegründet. Es ist nämlich niemand mehr da.
Ich wirbele zu den Gleisen herum. Die Bahn steht in der Station. Ihre Türen beginnen sich langsam zu schließen. Ich sprinte los, den kleiner werdenden Spalt im Tunnelblick. Das warnende Piepsen ignorierend, strecke ich den Arm aus. Ich werde diese Bahn erwischen, komme, was da wolle! Der Fluch kann mich mal!
Die Türen treffen aufeinander. Ich stehe noch draußen. Erst als die Bahn anrollt, begreife ich, dass das so nicht ganz stimmt. Mein Mantelärmel hat es in die Bahn geschafft und ist fest entschlossen, den Rest von mir mitzunehmen. Ein paar Meter laufe ich kopflos neben der Bahn her. Kurz bevor ich gegen die Absperrung pralle, schaltet sich mein Verstand ein und ich winde mich aus dem Mantel.
Erschöpft lasse ich mich auf den Boden plumpsen und blicke der Bahn hinterher, die mit meinem Mantel als fröhlich flatterndem Wimpel am Horizont verschwindet. Ein eisiger Wind fegt über den Bahnsteig und lässt mich frösteln. Nur mein Gesicht fühlt sich immer noch heiß und taub an. Ich bin fix und fertig, dabei hat mein Tag noch nicht mal richtig begonnen. Das halte ich keine Minute mehr aus.
„Ich gebe auf! Du hast gewonnen!“ Wenige Zentimeter vor mir materialisiert sich Kitty Christmas wie der armseligste Superheld, den die Welt je gesehen hat.
„Ich wusste, dass du zur Vernunft kommen wirst.“
„Warum muss ich dich eigentlich mitschleppen, wenn du dich eh überallhin beamen kannst?“
„Weil mich diese Art der Fortbewegung auf Dauer zu viel Kraft kostet. Diese Lösung ist viel angenehmer.“ Ja, für dich vielleicht. Du bist ja auch schön eingepackt, während ich mir hier einen abfriere. Ich hatte Kitty vorhin, begleitet von jeder Menge Gefauche, in meinen Rucksack gestopft. Jetzt lugt nur noch der Kopf oben raus. Dafür musste ich meinen eigenen Kram im Schließfach zurücklassen. Nicht mal der Regenschirm hat noch reingepasst. Wenn es jetzt lospladdert, bin ich Patient Zero der nächsten Erkältungswelle. Doch die Unglücksfälle scheinen gestoppt zu haben. Zumindest für den Moment. Bei dem Gedanken an eine Zukunft mit nie enden wollender Pechsträhne wird mir ganz flau im Magen. So weit darf es auf keinen Fall kommen. Drei selbstlose Taten in drei Wochen sollten doch eigentlich machbar sein. Man hat mir schon unrealistischere Deadlines gesetzt.
„Nur interessehalber: Was wäre passiert, wenn ich dich gestern Abend reingelassen hätte?“, frage ich Kitty beim Betreten des Firmengeländes.
„Gar nichts.“ Ich schnaube.
„Na toll. Wenn du die bösen Menschen schon bestrafst, könntest du die guten ja wenigstens auch belohnen.“
„Sorry, das liegt außerhalb meines Kompetenzbereichs.“ Das Mistvieh verarscht mich doch!
Ich öffne die Tür zum Foyer und stempele ein. Fast eine Stunde zu spät. Das gibt Ärger. Während ich die Treppen hochsteige, jongliere ich im Kopf bereits mehrere Ausreden.
Um zu meinem Büro zu gelangen, muss ich die Marketingabteilung passieren. Ein Umstand, der mir früher ganz gelegen kam. Doch seit zwei Monaten ist jeder Gang ein Spießrutenlauf. Heute habe ich ausnahmsweise mal Glück. Melissa sitzt nicht an ihrem Schreibtisch. Vertretungsweise werde ich von den anderen Plätzen aus mit vorwurfsvollen Blicken attackiert. Ich fürchte, ich bin in Melissas Bericht über unsere Trennung nicht allzu gut weggekommen.
„Du bist zu spät!“, raunzt mich Kathrin an, als ich schon fast an der offenen Bürotür vorbei bin. Ertappt zucke ich zusammen.
„Meine Oma hat ihren Wecker wegen eines Unfalls auf der Umgehungsstraße nicht gehört!“ Verdammt, ich hatte mich auf die Schnelle nicht für eine Ausrede entscheiden können.
„Erzähl das dem Chef. Der hat nämlich nach dir gefragt.“ Ich schlucke. Das klingt gar nicht gut.
Im Büro schließe ich die Tür hinter mir und lasse die Jalousien runter. Einmal mehr bin ich froh, einen Raum für mich alleine zu haben. Wobei die nächsten Wochen wohl erst mal Office-Sharing angesagt ist. Wie auf Kommando kämpft sich Kitty aus meinem Rucksack frei und springt neben mir auf den Schreibtisch.
Ich blende ihre Präsenz so gut wie möglich aus, während ich eine passiv-aggressive Mail von meinem Chef lese, in der dieser die Sinnhaftigkeit eines Projektmeetings ohne Projektmanager in Frage stellt. Richtig, den Termin hatte ich für heute Morgen um 8:30 Uhr angesetzt. Mist. Ich stehe auf.
„Wo willst du hin?“
„Kaffee besorgen.“ In der Hoffnung, dass er dieses Mal in meinem Magen landet. „Keine Sorge, ich werde unterwegs nicht heimlich eine gute Tat vollbringen.“
In der Küche hole ich mir meine tägliche Dosis Koffein und stelle mich mit der Tasse in der Hand vor die Pinnwand. Die Mitteilungen darauf interessieren mich nicht wirklich, aber sie geben mir einen Grund, den Moment hinauszuzögern, in dem ich mich entweder Kitty oder meinem Chef stellen muss. Schwer zu sagen, auf welche Begegnung ich weniger Lust habe.
Gudrun aus der Finanzbuchhaltung plant, wieder einen Sketch auf der Weihnachtsfeier aufzuführen und sucht dafür noch Mitstreiter. Bisher steht nur ihr eigener Name in der Liste und der von Kaito, unserem IT-Spezialisten. Das dürfte interessant werden.
Lustlos schlurfe ich zum Büro zurück. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich Kitty im Raum ausfindig gemacht habe. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir vor dem Bücherregal und studiert die Etiketten auf den Aktenordnern.
„Was machst du da hinten?“
„Gar nichts!“ Ich verdrehe die Augen und entsperre den Bildschirm. Ein rot umrandetes Textfenster springt mir entgegen: »Kritischer Fehler. Kontaktieren Sie den Systemadministrator.«
„Kitty!“ Ihre Ohren zucken nervös und sie rückt noch näher ans Bücherregal, als wolle sie damit verschmelzen. Wahllos drücke ich ein paar Tasten in der Hoffnung, dass der Hinweis von selbst wieder verschwindet. Zuletzt versuche ich noch den alten Trick mit dem Neustart. Doch nicht mal der zeigt heute Wirkung. Kitty muss mit ihren dicken Tatzen wirklich eine sehr unglückliche Tastenkombination erwischt haben. Widerstrebend nehme ich den Hörer in die Hand und tippe die Durchwahl der IT ein. Bereits nach dem ersten Klingeln wird der Anruf entgegengenommen.
„Was hast du kaputt gemacht?“ Allein schon die Begrüßung ärgert mich.
„Wer sagt denn, dass ich was kaputt gemacht habe? Vielleicht rufe ich ja nur an, um dir einen schönen Tag zu wünschen.“ Kaito schweigt. Ich knirsche mit den Zähnen. „Also gut, ich habe hier eine Fehlermeldung, die nicht mehr weggeht.“ Leises Seufzen am anderen Ende. Irgendwie schafft er es immer, einem das Gefühl zu geben, etwas furchtbar Dummes angestellt zu haben.
„Was hast du gemacht, bevor der Fehler aufgepoppt ist?“ Grimmig blicke ich zu Kitty. Sie hat es sich auf der Fensterbank bequem gemacht und lässt sich die Sonne aufs Fell scheinen, die Augen genießerisch zusammengekniffen. Anscheinend ist die Reuephase schon wieder vorbei.
„Hab ich vergessen.“ Dieses Mal ist das Seufzen nicht zu überhören.
„Ich komm rüber.“ Dann legt er ohne eine Verabschiedung auf.
„Hey“, rufe ich Kitty zu. „Weißt du, wie du deinen Ausrutscher wieder gutmachen kannst? Indem du nächstes Jahr den Mann heimsuchst, der hier gleich reinkommt.“ Kitty gibt ein unverbindliches Brummen von sich. Im nächsten Moment kommt der sprichwörtliche Teufel auch schon zur Tür herein. Kaito scheucht mich vom Stuhl hoch und lässt sich selbst darauf fallen. Dann macht er sich an meinem Rechner zu schaffen. Anfangs versuche ich noch, mir die einzelnen Schritte einzuprägen, damit ich mir beim nächsten Mal selbst helfen kann, aber seine Finger fliegen so schnell über die Tastatur, dass ich schon bald den Anschluss verliere. Ein paar Minuten später verstummt das Tastaturgeklapper und Kaito lehnt sich im Stuhl zurück.
„Das System muss jetzt rebooten.“
„Aha.“ Eine Weile starren wir beide auf den Ladebalken, der sich schleppend langsam füllt. Bei 30 % werde ich hibbelig. Ich konnte Stille noch nie gut ertragen.
„Ich habe gesehen, dass du dich für den Weihnachtssketch angemeldet hast“, starte ich einen Small Talk-Versuch. „Spielst du gerne Theater?“
„Nein, ich hasse es.“
„Ah.“ Wundervolle Unterhaltung.
„Ich tue Gudrun damit einen Gefallen“, bequemt er sich dann doch noch zu einer Erklärung.
„Warum das denn?“ Mir war nicht klar, dass die beiden sich nahestehen. Der Gedanke ist auch ziemlich abwegig. Gudrun befindet sich kurz vor der Rente, ist Anhängerin einer obskuren Religion und hat allgemein nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und Kaito ist … nun ja, Kaito eben.
„Muss ich denn einen Grund haben?“, fragt er. „Vielleicht bin ich ja einfach nur ein guter Mensch.“
„Bist du nicht!“ Ups. Da war mein Mundwerk wohl wieder mal schneller als mein Gehirn. Kaito lächelt. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich ihn lächeln sehe. Es ist ein bisschen gruselig.
„Daran erinnere ich dich dann gerne, wenn du das nächste Mal Hilfe mit deinem Computer brauchst.“ Er schiebt den Stuhl zurück. „Wenn der Reboot abgeschlossen ist, musst du nur noch auf OK klicken und einen Neustart machen.“ Er will sich zur Tür umdrehen, kommt aber mitten in der Bewegung ins Stocken. Ich folge seinem Blick, entdecke aber nichts, was ihn aus dem Konzept bringen könnte. Ich meine, da ist Kitty, aber die ist ja für ihn unsichtbar. Kaito öffnet den Mund, überlegt es sich dann anders und verlässt schnurstracks das Büro.
Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen ist, räkelt sich Kitty auf der Fensterbank und öffnet die Augen einen Spaltbreit.
„Die Kollegin bei dem Weihnachtssketch zu unterstützen, ist wirklich eine nette Geste.“ Ich rümpfe die Nase.
„Na ja, geht so. Wenn die Leute eh nicht viel von einem halten, hat man auch nicht viel zu verlieren.“
„Und du hättest viel zu verlieren?“
„Schon.“ Als Projektmanager ist es keine leichte Aufgabe, den Druck von oben an die Kollegen weiterzugeben und dabei trotzdem ein lockeres Verhältnis zu allen zu bewahren. Doch bisher ist mir diese Gratwanderung ganz gut gelungen, trotz des Beziehungsdramas mit Melissa, das natürlich fleißig über den Flurfunk verbreitet wurde. Kitty fixiert mich von ihrem Platz aus.
„Das heißt, wenn du dich bei dem Sketch beteiligen würdest, wäre das noch viel mehr als eine nette Geste. Es wäre eine gute Tat.“ Endlich verstehe ich, worauf sie hinauswill.
„Nein! Das wäre … nein!“ Abgesehen davon, dass ich nach der Aktion keinen Funken Autorität mehr hätte, wäre es unfassbar peinlich! Die ganze Belegschaft inklusive Anhang ist zur Weihnachtsfeier eingeladen, nicht zu vergessen der oberste Chef. Das würde mir noch ewig nachhängen. „Nein! Kommt nicht in die Tüte!“
Trotzdem stehe ich beim nächsten Küchengang wieder vor der Pinnwand und bin hin- und hergerissen. Die Weihnachtsfeier fällt auf den letzten Donnerstag vor Heiligabend. Falls ich es bis dahin nicht geschafft habe, drei gute Taten zu vollbringen, könnte der Sketch meine letzte Hoffnung sein. Ich nehme den Stift in die Hand.
Alles in mir sträubt sich dagegen, meinen Namen unter den von Kaito zu setzen. Das hier ist nur das Worst-Case-Szenario. Ich werde es nicht wirklich tun. Und mit diesem tröstenden Hintergedanken kritzele ich meine Anmeldung aufs Papier, bevor ich aus der Küche fliehe. Ich kann nicht glauben, was ich da gerade getan habe.
Doch das volle Ausmaß des Schreckens wird mir erst eine Stunde später bewusst, als Gudrun freudestrahlend den Kopf zur Tür hereinsteckt. Von ihrem Hals baumelt ein riesiger Talisman mit mystischen Zeichen drauf. Vermutlich ein magisches Amulett aus ihrer komischen Sekte.
„Das freut mich ja so, dass du beim Weihnachtssketch mitmachen willst. Du wirst sehen, das wird ein Riesenspaß.“
„Ja, ganz bestimmt.“ Ich ringe mir ein Lächeln ab.
„Das Skript habe ich übrigens selbst verfasst und weißt du was? Die Hauptrolle des Weihnachtsmuffels ist wie für dich gemacht!“ Was soll das denn bitte heißen? Ich verschränke die Arme vor der Brust. Gleichzeitig bringt der Ausdruck „selbst verfasst“ meine Alarmglocken zum Schrillen. Sollte es wirklich zur Aufführung kommen, werde ich wohl direkt im Anschluss kündigen müssen. Gudruns Augen leuchten immer noch wie die eines Kindes bei der Bescherung. Wobei, wenn ich es recht bedenke, liegt in ihren Augen grundsätzlich ein leicht manisches Funkeln.
„Ich schicke nachher eine Doodle-Umfrage rum, damit wir den Termin für die Probe abstimmen können.“ Moment! Probe?
„Auf gar keinen Fall!“ Ihr Gesicht macht deutlich, dass die Ablehnung etwas zu hastig kam. „Ich habe die nächsten Wochen furchtbaren Stress“, schiebe ich rasch hinterher. „Kannst du uns das Skript nicht einfach zumailen?“
„Also wirklich! Ihr Männer habt vielleicht Vorstellungen.“ Das klingt, als hätte Kaito bereits einen ähnlichen Vorschlag gemacht. Wer hätte gedacht, dass wir mal einer Meinung sein würden? „Wir können doch nicht einen Auftritt vor so vielen Menschen planen, ohne wenigstens einmal ein Gefühl für das Spiel der anderen entwickelt zu haben.“ Gudruns völlig überzogene Schauspielkünste habe ich bereits auf der letzten Weihnachtsfeier kennengelernt. Und ich gehe jede Wette ein, dass Kaitos Performance so trocken und uninspiriert wie Knäckebrot sein wird. Bleibt nur noch die Frage, wo ich mich auf der Fremdschämskala einordnen werde.
„Ich schicke dann die Terminvorschläge rum“, wiederholt Gudrun stur. „Wir können die Probe bei mir machen. Ich sorge für Stollen und heißen Apfelpunsch. Das wird toll!“ Ich ächze.
„Na schön, meinetwegen.“ Hauptsache, ich bin sie erst mal los. Tatsächlich tritt Gudrun ohne Weiteres den Rückzug an. Kurz vor der Schwelle hält sie noch mal inne.
„Süße Katze übrigens.“ Leiser fügt sie hinzu. „Und ich durfte in meinem Büro nicht mal magische Allraunenwurzeln aufhängen.“
Dann fällt die Tür hinter ihr zu und hinterlässt sprachlose Stille. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich Kitty an. Die unterbricht ihre Fellpflege und erwidert meinen Blick irritiert.
„Was?“ Ich springe auf.
„Die anderen Leute können dich sehen?!“ Kitty zuckt zurück.
„Ich habe doch nie etwas anderes behauptet!“ Mir entfährt ein unartikulierter Laut.
„Das ist ja wohl eine unausgesprochene Regel, wenn man von einem Dämon heimgesucht wird!“
„Ich bin weder ein Dämon, noch habe ich dich heimgesucht.“ Oh Gott! Nervös tigere ich im Büro auf und ab. Kaito und Gudrun werden wohl dichthalten, aber was, wenn einer aus der Marketingabteilung aufgefallen ist, dass da ein Katzenkopf aus meinem Rucksack sprießt? Gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn mein Chef heute Morgen ins Büro geplatzt wäre. Wie gut, dass ich den bereits mit einer Entschuldigungsmail abgespeist habe.
Auf dem Gang nähern sich Schritte. Jemand lacht. Scheiße, Mittagspause. Kurzerhand leere ich einen Karton mit Druckerpapier auf dem Boden aus und stelle ihn unter meinen Schreibtisch.
„Du bleibst da drin und machst keinen Mucks, bis ich wieder da bin. Ist das klar?“ Kitty rührt sich nicht von der Stelle.
„Wo willst du hin?“
„In die Kantine.“
„Du musst mich mitnehmen.“
„Nein!“ Dieses Mal werde ich nicht nachgeben. „Das kannst du nicht verlangen! Ich bekomme Hausverbot auf Lebenszeit, wenn ich erwischt werde.“ Kitty taxiert mich mit ihrem schmalen Killerblick. „Ich sagte Nein!“
„Hey, gibt es bei euch auch Fisch?“
„Lass gefälligst den Kopf unten!“ Ich stelle den Rucksack an einem Tisch in der hintersten Ecke der Kantine ab und blicke mich nervös nach allen Seiten um. Ich kann nicht glauben, dass ich ein Anstarrduell gegen eine Katze verloren habe.
„Ich will Fisch!“
„Schon gut, ich seh zu, was ich machen kann. Halt jetzt den Rand.“ Ich reihe mich in die Schlange an der Essensausgabe ein und lasse mir Seelachs mit Kartoffeln ausgeben. Ich mag Seelachs nicht mal. Warum bin ich nicht einfach im Bett geblieben?
Am Platz schlage ich eine herumliegende Firmenzeitung auf und lasse hinter der Barrikade unauffällig ein paar Happen in meinen Rucksack wandern. Ich bin so darauf fixiert, die schmatzende Kitty mit Nachschub zu versorgen, dass ich die Person, die sich meinem Tisch nähert, erst bemerke, als sie direkt vor mir steht.
„Melissa!“
„Ja, hi.“ Sie ist nervös. Das erkenne ich an der Art, wie sie ihre Haarspitzen zwirbelt. „Ich bin nur hier, um dir zu sagen, dass ich es nicht gewesen bin.“
„Ähm, wie bitte?“ Wovon redet sie?
„Na, die Liste in der Küche. Irgendwer hat deinen Namen draufgeschrieben. Aber ich war das nicht, ich schwöre!“ Ach so, hätte ich mir ja denken können, dass das schnell die Runde macht. Ich spüre, wie sich meine Wangen erhitzen.
„Nein, ich weiß. Das war ich selbst.“ Melissas Mund öffnet sich leicht. Wahrscheinlich fragt sie sich zu Recht, ob ich den Verstand verloren habe. Um ehrlich zu sein, bin ich mir da selbst nicht ganz sicher.
„Ist bei dir alles in Ordnung? Kathrin meinte, du sahst heute Morgen ziemlich mitgenommen aus. Es ist doch nichts mit deinen Eltern, oder?“ In Melissas Augen spiegelt sich echte Sorge. Sie hat sich immer blendend mit ihren Schwiegereltern in spe verstanden.
„Nein.“
„Oh, dann ist ja gut.“ Sie verharrt unentschlossen auf der Stelle. Jetzt wäre meine Chance, mich zu entschuldigen, ihr ein Kompliment zu machen, oder irgendetwas anderes zu sagen, das sie dazu bringt, unsere Trennung noch einmal zu überdenken. Mein Blick wandert über ihr zartes Gesicht mit den großen haselnussbraunen Augen.
„Du siehst hübsch aus.“ Es ist nicht genug. Das weiß ich sofort. Melissa wendet sich ab.
„Danke.“ Hilflos sehe ich ihr hinterher. Was ist nur los mit mir? Warum ist mir kein Satz mit mehr Gefühl eingefallen? Vielleicht hat Kitty ja recht und mein Herz ist wirklich nur ein vertrockneter schwarzer Klumpen.
2. Advent
Es ist neun Uhr. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal an einem Sonntag so früh auf den Beinen war. Doch heute habe ich eine Mission: Ich werde meine Mitmenschen mit so viel Liebe überschütten, dass Mutter Teresa dagegen wie ein Eisklotz wirkt.
An der Straßenbahnstation wartet eine Frau mit Kinderwagen. Ich helfe ihr beim Einsteigen und schiele zu Kitty, die ich heute in einem Einkaufsshopper durch die Gegend karre. Ihre Schnurrbarthaare zucken.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Nun ja, einen Versuch war es wert. Ich bin ja auch noch in der Aufwärmphase. Selbstbewusst marschiere ich die Shoppingmeile entlang und halte nach Menschen Ausschau, denen ich den Tag versüßen kann. Aber alle scheinen nur darauf bedacht zu sein, möglichst schnell ihre Besorgungen zu erledigen. Egoisten.
Endlich sichte ich eine Zielperson am Rande des Marktplatzes. Der Mann steht mit hochgezogenen Schultern da, als versuche er, in seiner grünen Regenjacke unterzutauchen. Als ich mich vor seinem Stand aufbaue, hebt er resigniert den Kopf. „Spenden für Greenpeace?“ Es klingt wie eine rhetorische Frage. Ich strahle ihn an.
„Gerne!“ Vor Überraschung fällt ihm fast das Klemmbrett aus der Hand. Doch schnell hat er sich wieder unter Kontrolle und mich mit einem Formular ausgestattet. Mit Argusaugen beobachtet er, wie ich den Zettel ausfülle. Er befürchtet wohl, dass ich mir einen Scherz erlaube und irgendwelchen Nonsens aufs Papier kritzle. An seiner Stelle wäre ich auch misstrauisch. Auf seinen kitzelnden Atem im Nacken könnte ich trotzdem gut verzichten.
„Wie viel muss ich denn spenden?“
„Ganz egal. Jeder Beitrag hilft“, antwortet der Mann beflissentlich. Natürlich kann er nicht wissen, dass die Frage nicht an ihn gerichtet war. Ich beschließe, auf Nummer sicher zu gehen, und spende 200 Euro. Der Aktivist bedankt sich überschwänglich bei mir, doch die Tatsache, dass Kitty bisher keinen Mucks von sich gegeben hat, macht mich nervös.
„Das zählt als gute Tat, oder?“, hake ich nach, sobald wir außer Hörweite sind. Kitty knabbert an einem Katzenleckerli, zu dessen Kauf sie mich irgendwie überredet hat.
„Nein.“ Ich reiße ihr die Tüte aus den Pfoten.
„Warum nicht?“
„Weil man sich eine gute Tat nicht erkaufen kann.“ Sie fährt die Krallen aus und fixiert die Leckerlis. Hastig lasse ich die Tüte fallen. Verdammt noch mal. Das heißt, ich habe gerade 200 Euro in den Wind geschossen.
Zwei Stunden später sitze ich deprimiert beim Bäcker und schlürfe Kaffee. Es ist unmöglich. Ich lebe nun mal nicht in einer Märchenwelt, wo alle naselang eine Jungfrau in Nöten oder ein armes Großmütterchen meinen Weg kreuzen. Kitty hätte bei ihrem Rebranding mal lieber ihre Anforderungen auf einen zeitgemäßen Standard bringen sollen. Ich habe gerade flirtenden Blickkontakt zu einem zuckerglasierten Donut aufgenommen, als sie zur Tür reinkommt. Wären wir in einem Film, wäre dies der Moment, in dem die Musik einsetzt.
Die alte Frau zuckelt mit winzigen Schritten zur Auslage. Der Einkaufskorb in ihrer rechten Armbeuge zieht sie fast zu Boden. Ich warte, bis die Verkäuferin ihre Bestellung abgewickelt hat, bevor ich lächelnd an sie herantrete.
„Darf ich Ihnen helfen?“ Die Frau starrt mich mit großen Augen an, reagiert aber nicht auf mein Angebot. Vielleicht ist sie schwerhörig.
„Ihr Korb!“, schreie ich und will danach greifen.
„Nein“, protestiert die Alte mit heiserer Stimme. „Der gehört mir!“
„Ja, ja, ich will ihn doch nur für Sie tragen.“ Um meine Absicht zu demonstrieren, lege ich eine Hand an den Henkel.
„Nein!“ Die Frau rafft den Korb so hastig an sich, dass sie kurz ins Taumeln kommt. So langsam verliere ich die Geduld. Das hier ist meine Chance, eine gute Tat abzuhaken, und die lasse ich mir nicht nehmen.
„Ich will Ihnen doch nur helfen, Sie sture, alte Tattergreisin!“
„Das ist genug!“ Kittys Stimme hallt durch meinen Kopf wie Donner. Erschrocken mache ich einen Schritt zurück. Erst jetzt wird mir bewusst, wie still es in der Bäckerei geworden ist. Die Kunden und Angestellten am Tresen starren mich an, als hätte ich vor ihren Augen einen Hundewelpen getreten. Mit vor Scham brennenden Wangen schnappe ich mir den Katzenshopper und fliehe aus dem Laden.
Erst an der Straßenbahnstation werde ich langsamer und lasse mich auf eine Bank fallen. Warum kann ich zur Abwechslung nicht mal was richtig machen?
„Till?“ Zögernd richte ich meinen Blick auf Kitty. Ihre Machtdemonstration beim Bäcker hat mich nachhaltig verstört. Bisher hatte ich in ihr nur einen kleinen, plüschigen Plagegeist gesehen. „Du bist mit Abstand der unfähigste Verfluchte, der mir je begegnet ist. Und ich mache diesen Job schon über 200 Jahre. Also interpretier das, was jetzt gleich passiert, bitte nicht falsch. Ich stehe nicht auf deiner Seite. Ich bin es nur leid, dir beim Versagen zuzusehen.“
„Hä?“ Ein Flyer flattert mir gegens Gesicht und bleibt an meiner Nase hängen. Igitt! Angeekelt rupfe ich ihn herunter. Wer weiß, wo der schon überall gelegen hat. Bevor ich das Papier wieder dem Wind übergeben kann, bleibt mein Blick an der obersten Textzeile hängen: Ein Fest der Wohltätigkeit. Ich streiche den Zettel glatt und lese weiter. Es handelt sich um einen Aufruf, alte Spielsachen für Heimkinder zu spenden. Das ist perfekt! Der Keller meiner Eltern ist voll von Gerümpel. Begeistert präsentiere ich Kitty den Flyer.
„Schau mal. Ich hatte gerade eine fantastische Idee!“ Kitty wirft mir einen spöttischen Blick unter halb gesenkten Lidern zu.
„Toll und da bist du ganz von allein drauf gekommen.“
Meine Mutter strahlt, als sie mir die Haustür öffnet.
„Ha–“ Ich vergesse, was ich sagen wollte, und starre auf den riesigen Strohhut, der ihren Kopf ziert. Dann erinnere ich mich an unser letztes Telefongespräch. Natürlich, der Trip ans Meer. Sie kann es wohl kaum noch erwarten.
„Till, was für eine schöne Überraschung!“ Meine Mutter reckt den Hals und ihr Lächeln bekommt einen kleinen Knacks, als sie niemanden hinter mir entdeckt.
„Wo hast du denn Melissa gelassen? Es ist ja eine Ewigkeit her, dass wir sie zuletzt gesehen haben.“
„Sie hatte keine Zeit.“ Ich werfe meine Jacke in die ungefähre Richtung der Garderobe und gehe schnurstracks auf den Keller zu. Kitty hat sich darauf eingelassen, für die Dauer des Besuchs im Garten meiner Eltern zu bleiben. Bedingung war, dass wir beim nächsten Einkauf bei der Fischtheke haltmachen. „Keine Sorge“, sage ich mit Seitenblick auf den Hut. „Ich halte dich nicht vom Packen ab. Ich will nur was von meinem alten Spielzeug abholen.“
„Dein Spielzeug?“ Meine Mutter klingt alarmiert. „Warte mal, Till! Ich will nicht, dass du die Sachen bei Ebay reinstellst. Viel kann man damit eh nicht mehr verdienen und vielleicht…“ Sie stockt und wirft mir einen abwägenden Blick zu, bevor sie leiser fortfährt „…vielleicht haben wir ja noch mal Verwendung dafür.“ Ich seufze. Was für ein subtiler Wink mit dem Zaunpfahl.
„Ich habe gar nicht vor, das Spielzeug zu verticken. Es ist für eine Spendenaktion vom Waisenheim.“ Ihre Miene hellt sich auf.
„Oh, wie nett. War das Melissas Idee?“
„Nein“, entgegne ich spitz. „Meine.“ Der überraschte Ausdruck im Gesicht meiner Mutter sollte mich weniger kränken. Ich weiß ja selbst, dass mir so etwas nicht ähnlichsieht. Aber das Armutszeugnis kann sie sich gleich mit ausstellen. Immerhin ist es auch ihr Verdienst, dass aus mir ein Arschloch geworden ist. Meine Mutter nestelt an der Krempe ihres Strohhuts herum.
„Wollen wir nicht noch einen Tee zusammen trinken, bevor du wieder verschwindest? Ich habe auch Plätzchen gebacken.“ Ich zögere. Dann fällt mein Blick auf das Esszimmerfenster und auf Kitty Christmas, die dahinter sitzt und sich die Nase an der Scheibe plattdrückt.
„Ich bin in Eile.“
„Na gut. Dann nimm wenigstens dein Geschenk mit. Wer weiß, ob wir uns vor Weihnachten noch mal sehen.“
„Ich habe aber gar nichts für euch.“
„Das macht nichts.“ Ich folge meiner Mutter ins Wohnzimmer, wo sie sich an einer Kommode zu schaffen macht. Nach kurzem Gewühle präsentiert sie mir ein Päckchen, dessen Verpackung zu akkurat aussieht, um selbst gemacht zu sein. Ich nehme das Geschenk entgegen und knautsche es zusammen. Socken. 100 %.
„Dieses Jahr kein neuer Pulli?“, frage ich halb im Scherz. Meine Mutter lächelt schief.
„Nein, keine Angst. Ich weiß ja, dass du dir aus sowas nichts machst.“ Tut sie das? Eine Weile stehen wir uns verlegen gegenüber. Ich überlege, ob ich mich für das Geschenk bedanken soll, obwohl ich ja offiziell noch nicht weiß, was es ist. Schließlich nimmt mir meine Mutter die Entscheidung ab.
„Ach, das hätte ich ja fast vergessen!“ Ihr Kopf verschwindet wieder in der Kommode. Dieses Mal kramt sie ein Buch hervor. Neugierig linse ich auf den Einband und versuche die verschnörkelte Schrift zu entziffern.
„K-o-c-.“
„Kochbuch“, kommt sie mir zu Hilfe. „Für Melissa. Ich bin erst gestern Abend damit fertig geworden und hatte noch keine Zeit, es einzupacken.“
„Hast du das selbst gemacht?“
„Ja, ein selbst kreiertes Kochbuch mit all meinen Lieblingsrezepten.“ Ich nehme das Geschenk entgegen und blättere durch die Seiten. Die Rezepte sind händisch reinkopiert und mit Fotos von den fertigen Gerichten illustriert. Der Anblick versetzt mir einen Stich. Wie lange sie daran wohl gesessen hat?
„Wie schön. Dass Melissa jetzt vegan lebt, hattest du aber mitbekommen, oder?“
Der entsetzte Ausdruck im Gesicht meiner Mutter verschafft mir nur kurz Befriedigung. Dann fühle ich mich schäbig. Hoffentlich hat Kitty das nicht mitbekommen. „Weißt du was? Ist halb so schlimm. Melissa kann die tierischen Produkte ja einfach durch etwas anderes ersetzen.“ Ich klappe das Buch zu und tue so, als würde ich den geknickten Blick meiner Mutter nicht bemerken. „Ich bin dann unten.“ Dieses Mal hält sie mich nicht auf.
Im Keller bleibt mir zum Glück eine größere Suchaktion erspart. Mein Vater hat ein Faible für Ordnung und alle Kartons nach Jahr sortiert gelagert und etikettiert. Das Projektmanager-Gen habe ich wohl von ihm geerbt. Ich ziehe den Karton mit der Aufschrift „Tills Spielzeug 10–14 Jahre“ heraus und schütte den Inhalt auf dem Boden aus. Das Erste, was mir entgegenfällt, ist mein Gameboy. Unglaublich, wie viel Zeit ich früher damit verbracht habe, ein zentimetergroßes Pixelmännchen auf- und abspringen zu lassen. Jetzt habe ich schon das Gefühl, wahnsinnig zu werden, wenn ich mehr als einen Abend ohne To-do-Liste verbringe. Aber das ist eben die Konsequenz des Erwachsenwerdens. Na ja, vielleicht nicht für alle. Melissa hat es immer geliebt, ihre Zeit mit so sinnlosen Aktivitäten wie Brettspielen zu vergeuden. Ich kann mich noch lebhaft an einen Spieleabend bei ihren Freunden erinnern, zu dem sie mich zu Beginn unserer Beziehung mitgeschleppt hat. Die ganze Truppe war locker am Plaudern, Essen und Trinken, während ich gegen den Drang ankämpfen musste, meine Faust aufs Spielbrett zu donnern und sie anzubrüllen, dass sie endlich ihren Zug machen sollen. Bei den nächsten Terminen hatte ich dann „Kopfschmerzen“.
Ich lasse den Gameboy zusammen mit einigen Spielen in die mitgebrachte Tasche wandern. Wahrscheinlich ist die veraltete Technik für Kinder heutzutage nicht mehr interessant. Aber dann lernen sie eben gleich die wichtige Lektion, dass man im Leben nicht immer alles bekommt, was man sich wünscht.
Nach und nach füllt sich die Tasche mit Büchern, Puzzles und Legosteinen. Als Nächstes bekommen meine Finger etwas Hartes zu fassen: Spiderman als Actionfigur. Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich habe meine Eltern damals mit allen Mitteln terrorisiert, bis sie mir das Spielzeug gekauft haben. Sogar einen Hungerstreik habe ich begonnen. Ziemlich übertrieben für das kleine Stück Plastik. Aber Spiderman war nun mal mein absoluter Lieblingssuperheld: kein Alien von einem anderen Planeten, kein Millionär; nur ein ganz normaler Typ, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Mein Lächeln vertieft sich, als ich daran denken muss, wie ich mich damals in der örtlichen Zoohandlung rumgedrückt habe, in der Hoffnung, dass eines der Tiere mir Superkräfte überträgt. Auf was für Ideen man als Kind so kommt. Selbst damals hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass bei dem Angebot im Laden maximal Hamsterman aus mir geworden wäre. Ich drehe die Figur in der Hand und lasse Spiderman in Angriffsstellung gehen. Im nächsten Moment komme ich mir albern vor und werfe das Spielzeug zu dem anderen Schrott in die Tüte.
Zu Hause mache ich mich sofort daran, das Geschenk einzupacken und stelle schnell fest, dass ich ziemlich aus der Übung bin, was den Umgang mit Geschenkpapier angeht. Ist aber auch nicht weiter verwunderlich. Ich kann mich kaum noch an eine Zeit erinnern, in der ich meine Geschenke nicht fertig eingepackt bei Amazon bestellt habe. Kitty ist mir auch keine große Hilfe. Jedes Mal, wenn ich gerade eine Kante umknicken will, springt sie dazwischen und hascht nach dem Geschenkband.
„Das ist purer Instinkt. Ich kann nichts dafür“, behauptet sie. Ich frage mich, ob es eine Zeit gab, in der sie mal eine ganz normale Katze war.
Schließlich trete ich einen Schritt zurück, um das Endergebnis zu begutachten. Mit dem Tesafilm hab ich es ein bisschen übertrieben, aber man kann es als Geschenk erkennen.
„Du hast die Actionfigur vergessen“, meint Kitty, als ich sie in den Katzenshopper setze. Ich schaue zum Bücherregal, wo Spiderman meine Lexika vor dem Bösen beschützt.
„Zu spät. Jetzt ist das Geschenk schon eingepackt.“
Eine Stunde später finde ich mich vor einem Backsteingebäude wieder, hinter dem sich laut Google Maps das städtische Waisenheim verbirgt. Ganz schön abgelegen der Laden. Ich musste zwei Mal umsteigen, um hierherzukommen.
„Es wird doch funktionieren, oder?“ Ich wäre ziemlich angepisst, wenn der ganze Aufwand am Ende umsonst war. Kittys Augen leuchten mir aus dem Dunkeln der Tasche entgegen.
„Das weiß ich erst, wenn es so weit ist. Das Erlassen einer Schuld funktioniert rein instinktiv. Ich habe das nicht unter Kontrolle.“ Ich seufze. Kitty und ihre komischen Magieregeln. Dann bleibt es also spannend bis zum Schluss.
Ich folge dem Schotterweg zum Eingang und greife nach der Klinke. Im selben Moment wird die Tür von innen aufgestoßen. Ich schaffe es nicht, meinen Arm rechtzeitig zurückzuziehen und werde hart am Handgelenk getroffen.
„Argh. Verdammte …“ Ich beiße die Zähne zusammen und bringe den Fluch in Gedanken zu Ende.
„Oh Gott, Till! Das tut mir leid.“ Mein Blick schnellt zu der anderen Person.
„Melissa!“ Hastig straffe ich den Rücken. „Was machst du denn hier?“
„Das wollte ich dich gerade fragen. Sag bloß, du willst auch ein Paket für die Waisen abgeben.“ Ich knirsche mit den Zähnen.
„Ja, allerdings. Und ich wäre dankbar, wenn alle deswegen etwas weniger überrascht wären.“ Melissa hat nicht mal den Anstand, betroffen zu reagieren. Aber sie lächelt und das ist fast genauso gut.
„Du hast recht. Ich bin tatsächlich überrascht – aber im positiven Sinne. Vielleicht lernst du nach all den Jahren ja doch noch, ab und zu mal an jemand anderen als dich selbst zu denken.“
Der letzte Satz war ein bisschen gemein, wenn auch nicht gänzlich unverdient. Und wenn mich nicht alles täuscht, schwingt in ihm eine leise Hoffnung mit. Wer weiß? Vielleicht muss ich das Kochbuch meiner Mutter am Ende doch nicht dem Altpapiercontainer schenken.
3. Advent
Ich mustere den magischen Zirkel, der Gudruns Haustür auf Augenhöhe ziert, wo normale Leute vielleicht einen Kranz anbringen würden.
„Muss ich das wirklich tun?“
„Ist letztendlich deine Entscheidung“, erwidert Kitty. „Ich glaube aber nicht, dass du es dir leisten kannst, wählerisch zu sein.“ Bedauerlicherweise hat sie recht. Das Geschenk für die Waisenkinder hat mir meinen ersten Etappensieg im Kampf gegen den Fluch beschert. Doch seitdem hat sich keine Gelegenheit für eine weitere gute Tat ergeben. Und bis Heiligabend ist es nur noch etwas mehr als eine Woche. Ich stoße einen schweren Seufzer aus und drücke auf die Klingel.
Aus dem Inneren des Hauses nähern sich Schritte. Dann wird die Tür aufgezogen und Gudruns Kopf erscheint in der Öffnung. Ihre Wangen glänzen rosig, was hoffentlich eine Nebenwirkung des versprochenen Apfelpunsches ist. Ich weiß nicht, ob ich den Abend ohne Alkohol überstehen werde.
„Schön, dass du da bist. Komm rein.“ Ich folge Gudrun ins Wohnzimmer, wo Kaito bereits auf dem Sofa sitzt. Als wir den Raum betreten, löst er den Blick von der Zettelsammlung auf dem Tisch und hebt die Augenbrauen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst.“ Ich auch nicht.
„Tja, Überraschung! Ich habe übrigens meine Katze mitgebracht.“ Die beiden haben sie schließlich schon gesehen und ich will es Kitty nicht zumuten, die ganze Zeit in der Tasche eingepfercht zu bleiben. Ich gehe in die Knie und öffne den Verschluss für Kitty, die herausstolziert kommt wie eine Diva auf den roten Teppich. Gudrun und Kaito wechseln einen verstohlenen Blick. Ja, genau, ich bin der Freak in unserem Trio. Die Gastgeberin fängt sich als Erste wieder.
„Ich finde es immer wieder schön zu sehen, wie stark die Bindung zwischen Mensch und Tier sein kann. Eine Freundin von mir hatte mal ein Eichhörnchen als Weggefährten.“ Sie geht vor Kitty in die Knie und krault sie hinter den Ohren. „Wie heißt sie denn?“
„Kitty Christmas.“ Vom Sofa her ist ein Schnauben zu hören.
„Etwas Alberneres ist dir wohl nicht eingefallen?“ Augenblicklich versteift sich Kitty und löst sich aus Gudruns Händen. Grinsend verfolge ich, wie sie Kaito mit ihrem Killerblick anvisiert und sich langsam an ihn heranpirscht.
„Attacke!“, feuere ich sie an. Kaito gibt sein Bestes, ungerührt zu bleiben. Kurz bevor Kitty ihn erreicht, gerät seine Fassade ins Bröckeln und er springt vom Sofa hoch. „Ich seh mal nach dem Punsch.“
Ich setze mich auf seinen Platz und vertiefe mich in Gudruns selbstgeschriebenes Skript. Zu meiner Überraschung ist es weniger peinlich als befürchtet. Im Kern handelt es sich um eine typisch kitschige Geschichte über einen griesgrämigen Typen, der vom weihnachtlichen Geist bekehrt wird. Bisschen klischeehaft vielleicht.
Nachdem der erste Alkohol geflossen ist, beginne ich langsam, mit meiner Rolle warmzuwerden.
„Für euch Geschäftsleute ist Weihnachten doch nur eine kommerzielle Strategie, um Geld zu scheffeln“, poltere ich und richte meinen Glühweinbecher anklagend auf Kaito.
„Mja.“ Er schluckt und wischt sich ein paar Stollenkrümel aus dem Mundwinkel. „Aber wenn du nicht mitmachst, stehst du als Geizkragen da. Und das willst du doch nicht, oder?“ Gudrun verfolgt unsere Debatte händeringend.
„Also ich finde dieses Gerede schrecklich. Weihnachten ist doch das Fest der Liebe!“
Eine Oscarnominierung werden wir für die Performance wohl nicht bekommen. Aber irgendwie hat Gudrun es geschafft, die Rollen so zu verteilen, dass wir uns nicht groß verstellen müssen. Was nicht heißen soll, dass ich im wahren Leben eine notorische Spaßbremse bin.
Gudrun faltet das Skript zusammen und schafft zwischen den Kuchentellern und Tassen eine kleine freie Fläche, auf der sie es ablegen kann.
„Ich glaube, wir sind fit für die Weihnachtsfeier.“
„Oh, okay.“ Fast bin ich ein bisschen enttäuscht. Ich war gerade so gut drin. Gudrun kippt den letzten Rest Apfelpunsch in meine Tasse.
„Wie verbringt ihr denn die Feiertage?“
„Ich weiß noch nicht“, murmele ich und trinke einen Schluck ab. „Meine Eltern sind verreist. Das traditionelle Weihnachtsfest fällt also ins Wasser.“ Innerlich wappne ich mich schon für die mitleidigen Blicke, doch Kaito zuckt nur mit den Schultern.
„Ich zocke an Heiligabend traditionell Metal Gear.“
„Fliegst du nicht zu deiner Familie in …“ Ich stocke, als mir bewusst wird, dass ich Kaitos Akzent gar nicht so genau einordnen kann. „…Chi–thai–ko?“ Er lächelt milde.
„Japan, genau. Nee, wir feiern Weihnachten zwar, aber nicht in der Familie. Das ist bei uns eher so ein Pärchending, Valentinstag 2.0 sozusagen.“ Oh, wie gut, dass ich nicht in Japan lebe. Ein Tag geheuchelte Romantik ist schon mehr als genug.
„Und du, Gudrun?“, gebe ich die Frage an sie zurück.
„Ach, ich weiß auch noch nicht. Eigentlich nehme ich über die Feiertage immer an einem Regenerationsseminar teil, das von den Erben des Heiligenblutes organisiert wird. Aber dieses Jahr hat es nicht ganz gereicht.“
Wow, wie kommt man nur auf die Idee, sich einer Gruppe anzuschließen, die sich Erben des Heiligenblutes nennt? Davon abgesehen stört mich noch etwas Anderes an dem Satz. Doch bevor ich es richtig zu fassen kriege, springt der Kuckuck aus der Uhr und lässt mich so heftig zusammenzucken, dass ich um ein Haar den Punsch verschütte. Wer sich so eine Vorrichtung anschafft, steht wohl eher mit dem Teufel im Bunde. Ich warte, bis der Kuckuck zum elften und letzten Mal in seinem Holzhaus verschwunden ist, bevor ich mich aufrichte.
„Ich muss los. Die letzte Straßenbahn fährt um halb zwölf.“ Ich schätze, ich sollte dem Vogel dankbar sein. Von allein wäre mir nicht aufgefallen, dass es bereits so spät geworden ist.
„Kitty!“, rufe ich in Richtung Heizung. „Abmarsch!“ Inmitten des weißen Plüschs öffnet sich ein Auge. Begleitet von ausgiebigem Gegähne und Gestrecke kommt Kitty auf die Beine und trottet zum Katzenshopper. Kaum dass ich sie reingehoben habe, kringelt sie sich am Boden zusammen und schläft weiter. Ich wünschte, mich würde auch jemand nach Hause tragen.
An der Garderobe ziehe ich meine Sachen an und drehe mich zu Gudrun um, die mich bis zur Tür begleitet hat.
„Gute Nacht und danke für die Einladung.“
„Warte, ich komme mit.“ Ehe ich es verhindern kann, hat Kaito seine Jacke übergestreift und sich hinter mir nach draußen geschoben. Mich beschleicht das dumpfe Gefühl, dass der harmonische Abend gleich zu Ende gehen wird. Tatsächlich wartet er gerade mal ab, bis Gudruns winkende Gestalt außer Sichtweite ist, bevor er mich am Arm packt.
„So, jetzt aber mal Klartext. Was bezweckst du mit dieser Aktion?“ Ich mache mich von ihm los und beschleunige meine Schritte.
„Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Kaito bleibt mir dicht auf den Fersen. „Es hat mit Gudrun zu tun, oder?“ Ich schweige. „Wenn ich es errate, gibst du es dann zu?“ Das Risiko kann ich wohl eingehen. Hauptsache, er lässt mich endlich in Ruhe.
Ich bleibe im Kegel einer Straßenlaterne stehen und drehe mich zu ihm um.
„Du hast drei Versuche.“
„Einverstanden.“ Kaito reibt sich mit dem Daumen übers Kinn. „Du hast herausgefunden, dass du adoptiert bist und Gudrun deine leibliche Mutter ist.“ Ich lache auf.
„Falsch.“
„Dann seid ihr Geheimagenten und habt in dem Skript einen Code versteckt, der eurem Kontakt auf der Weihnachtsfeier das Signal gibt, die Halle zu stürmen.“ Ich grinse. Was für ein Spinner.
„Nah dran, aber trotzdem daneben. Letzter Versuch.“ Kaito macht einen schnellen Schritt auf mich zu.
„Dann willst du Gudrun um den kleinen Finger wickeln, weil sie herausgefunden hat, dass du mit der Konkurrenz unter einer Decke steckst.“ Im Nu vergeht mir das Lachen.
„Nein.“ Kaitos Augen wandern forschend über mein Gesicht. Ich lasse seine Musterung ungerührt über mich ergehen.
„Na dann ist ja gut.“ Er will sich an mir vorbei schieben, aber jetzt bin ich es, der ihn zurückhält.
„Das ist es, oder? Der Grund, aus dem du Gudrun einen Gefallen schuldest.“ Ein Blickwechsel und ich weiß, dass ich richtigliege, ein zweiter und er weiß, dass ich es weiß. Wenn der Abend etwas bewiesen hat, dann, dass wir beide lausige Schauspieler sind. Kaito seufzt und lässt sich auf einen Mauervorsprung fallen.
„Da hab ich mich jetzt wohl verpokert. Ich dachte … ich war mir sicher, dass du meinen Platz eingenommen hast.“
„Deinen Platz bei der Konkurrenz?“
„Ja.“ Er senkt den Blick auf seine Schuhspitzen. „Ich bin auf der After-Work-Party nach der letzten Messe mit einem IT-Experten von KCT Software ins Gespräch gekommen. Im Laufe des Abends hat er immer wieder angedeutet, dass seine Firma für die Manipulation unserer Software einige Scheine springen lassen würde. Ich war ziemlich schlecht drauf und noch dazu betrunken. Da war die Hemmung nicht allzu groß.“ Ich kann nicht fassen, was ich da höre.
„Du warst betrunken? Was für eine armselige Ausrede ist das denn? Gib wenigstens zu, dass du kein Rückgrat besitzt.“ Kaito stößt ein kurzes abgehacktes Lachen aus.
„Okay, du hast recht. Nachdem ich drei Jahre lang mit dem Kopf gegen eine Wand gerannt bin, war meine Loyalität dieser Wand gegenüber ein wenig angebröckelt.“
„Was soll das denn heißen?“
„Du weißt es vielleicht nicht. Aber ich wurde ursprünglich eingestellt, um für die Sicherheit unserer Systeme zu sorgen. Nur blöd, dass ich diese Aufgabe nicht erfüllen kann, wenn all meine Vorschläge mit der Begründung abgeschmettert werden, dass sie zu teuer oder zu aufwendig sind. Stattdessen darf ich antanzen, wenn mal wieder bei jemandem der Bildschirm eingefroren ist oder sich ein Kabel gelockert hat. Ich habe mein Studium als Jahrgangsbester abgeschlossen, verdammt!“ Er hebt trotzig das Kinn.
„Ich dachte, es wäre an der Zeit, den Managern zu demonstrieren, wie schnell ein Hacker ihre lächerlichen Sicherheitshürden überwinden kann.“ Ich vergrabe die geballten Hände in den Jackentaschen, um mich selbst zu zügeln.
„Du kleiner Egoist. Ist dir eigentlich klar, dass wir alle den Bach runtergegangen wären, wenn du deinen Plan durchgezogen hättest? Haben wir es etwa verdient, unsere Jobs zu verlieren, nur weil du mit deinem unzufrieden bist?“
Er scharrt mit den Füßen und sucht – offenbar vergeblich – nach einer schlagfertigen Antwort.
„Darüber habe ich nicht nachgedacht“, gibt er schließlich zu. Toll. Das besänftigt mich jetzt total.
„Und wie ist ausgerechnet Gudrun dir auf die Schliche gekommen?“
„Über die Telefonrechnung.“
„Du hast die Konkurrenz von deinem Bürotelefon aus angerufen? Du bist echt ein lausiger Spitzel.“ Kaito lächelt schwach.
„Ja, das bin ich wohl. Ich dachte, ich bin geliefert, als Gudrun mich mit den Beweisen konfrontiert hat. Aber in ihrer Sekte haben sie ihr beigebracht, an das Gute im Menschen zu glauben. Sie wollte, dass ich mich von selbst richtig entscheide. Als Zeichen ihres Vertrauens hat sie sogar alle Beweise vernichtet.“ Ich klatsche mir mental die Hand vor die Stirn.
„So naiv kann auch nur Gudrun sein.“
„Du wirst lachen, aber es hat funktioniert. Ich konnte es nicht durchziehen.“ Bis jetzt vielleicht nicht. Aber wer sagt, dass er nicht irgendwann seine Meinung ändert? Wenn es stimmt, was er über die Sicherheitslücken in unserem System gesagt hat – und daran zweifle ich keine Sekunde – wäre es unverantwortlich, ihn weiter walten zu lassen. Das wird auch Gudrun einsehen. Wenn sein Wort gegen meines steht, wird sie bestimmt nicht für ihn lügen.
Kaito kann sich wohl denken, was gerade in meinem Kopf vorgeht. Hastig kommt er wieder auf die Beine und knetet seine Hände.
„Die Sache ist durch, ich schwöre.“
„Warum sollte ich mich darauf verlassen?“ Hilfloses Schulterzucken. „Keine Ahnung. Vielleicht glaubst du ja auch an das Gute im Menschen?“ Tue ich nicht. Zumindest nicht so uneingeschränkt wie Gudrun. Aber in letzter Zeit habe ich mir oft gewünscht, dass irgendwer an das Gute in mir glauben würde. Sieht so aus, als wäre es nun an mir, den ersten Schritt zu machen. Ich nicke Kaito zu.
„Also gut.“ Seine Augen weiten sich. Wenn möglich, guckt er noch verdatterter als der Typ von Greenpeace nach meinem schnellen Einlenken.
„Wirklich? Danke!“ Einen Moment lang scheint er drauf und dran, mich zu umarmen. Vorsorglich gehe ich einen Schritt auf Abstand.
„Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, plötzlich nett zu mir zu sein. Ich brauche wenigstens eine Person in meinem Leben, die ein noch größeres Arschloch ist als ich.“
„Okay!“ Ein befreites Lachen löst sich aus Kaitos Kehle. „Ich verspreche, im Büro immer deine Lieblingstasse zu klauen und keine Miene zu verziehen, wenn du einen Witz machst.“
Einhellig setzen wir unseren Weg fort. Die Stille um uns herum behagt mir nicht. Aber jetzt mit Small Talk anzufangen, wäre auch irgendwie komisch.
„Ich wünschte, wir hätten diese Auseinandersetzung in der Nähe der Straßenbahnstation gehabt“, sage ich nach ein paar Metern. „Worüber reden wir denn jetzt den ganzen Rückweg?“
„Du kannst ja so tun, als ob du was vergessen hast“, schlägt Kaito vor. Ich denke nicht, dass es ihm sonderlich schwerfallen wird, sein Versprechen einzuhalten.
Zu Hause falle ich todmüde ins Bett. Kurz bevor ich in den Schlaf drifte, schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Schlaff taste ich nach meinem Smartphone, tippe eine Erinnerung ein und schlafe noch mit dem Gerät in der Hand ein.
Die nächsten Tage gibt es so viel auf der Arbeit zu tun, dass ich darüber die Weihnachtsfeier und das Theaterstück völlig vergesse. Als Gudrun am Donnerstag vor Heiligabend den Kopf in mein Büro streckt und sich mit den Worten „bis heute Abend“, von mir verabschiedet, kommt das einem Schwall Eiswasser im Gesicht gleich. Eine geschlagene Minute vergeht, ehe ich mich aus meiner Starre löse. Dann durchwühle ich den Rollcontainer und ziehe das Skript hervor, welches ich seit der Probe nicht mehr angefasst habe. Ich lese die ersten Textzeilen und frage mich, wie ich jemals habe denken können, dass das Skript gar nicht so schlimm sei. Es ist furchtbar! Der Inhalt ist klischeehaft, die Ausdrucksweise kindisch und von den Witzen wird kein einziger zünden.
„Ich dachte mir schon, dass du irgendwann kalte Füße bekommst.“ Mein Blick trifft auf Kittys, die sich wieder mal nicht an unsere Abmachung hält und für alle Augen sichtbar auf der Fensterbank thront. Aber momentan habe ich ganz andere Probleme.
„Hey Kitty“, beginne ich schmeichelnd und bemühe mich, die Panik aus meiner Stimme zu verdrängen. „In der Altstadt hat ein neues Fischrestaurant aufgemacht, das wir unbedingt mal ausprobieren sollten. Wie wäre es, wenn wir die Weihnachtsfeier vergessen und stattdessen heute Abend dahin gehen?“ Kitty seufzt.
„Dir ist klar, dass du nur noch vier Tage hast, um den Fluch zu brechen?“
„Wie wäre es, wenn wir den Fluch ebenfalls vergessen? Du darfst dafür auch zehnmal die Speisekarte rauf- und runterbestellen.“
„Netter Versuch.“ Sie senkt herablassend die Lider. „Reiß dich zusammen. Es ist nur ein Theaterstück.“
Ein Theaterstück, das ich vor 200 Leuten aufführen werde, die ich die nächsten Jahre jede Woche 40 Stunden lang sehen werde. Das ist ein nicht zu verachtender Teil meiner Lebenszeit, den die Kollegen mir zur Hölle machen können. Vor meinem inneren Auge spielen sich bereits Mobbingszenen ab, die wohl selbst für eine Highschool-Teenie-Komödie einen Tick drüber wären.
Die Begrüßungsrede unseres Chefs zieht an mir vorbei wie Werbung vor dem Spielfilm. Er könnte gerade über die positive Jahresbilanz sprechen oder seine Harry Potter-Fanfiction vortragen. Ich würde keinen Unterschied bemerken. Mechanisch und ein paar Takte zu spät falle ich in das Klatschen der Kollegen ein. Wenig später wird ein Suppenteller vor mir abgestellt. Ich klemme das Besteck zwischen meine schwitzenden Finger, kann mich aber nicht dazu überwinden, den Löffel in die Brühe zu tauchen. Gudrun, die zu meiner Rechten sitzt, wirft mir einen besorgten Seitenblick zu.
„Ist alles okay?“, erkundigt sie sich flüsternd. „Du siehst blass aus. Ist dir schlecht?“ Ich schlucke.
„Ja. Ich glaube, ich muss mal eben an die frische Luft.“ Ich befinde mich schon in der Aufwärtsbewegung, als ich den warnenden Druck einer Gabel am linken Oberschenkel spüre.
„Du bleibst schön hier“, zischt Kaito mir zu. „Wir sind gleich dran.“ Okay, Plan B: Ich ertränke mich in der Suppe. Aber wenn ich jetzt sterbe, wird Kitty wahrscheinlich dafür sorgen, dass ich in der Hölle lande. Gefühlte zehn Sekunden später verschwindet die unangetastete Vorspeise aus meinem Gesichtsfeld und es folgt die unvermeidliche Ansage:
„Und auch in diesem Jahr haben sich wieder einige Kollegen zusammengetan und einen lustigen Sketch für uns vorbereitet.“
Mit der Unterstützung von Kaitos Gabel komme ich auf die Beine und schleppe mich zur Tanzfläche wie ein Verurteilter zur eigenen Hinrichtung. Während Gudrun die Zuschauer in das Stück einführt, starre ich in das Meer aus Gesichtern, das sich in die Tiefe des Raumes erstreckt. Die Marketingabteilung sitzt mit gezückten Handykameras in der ersten Reihe. Mein Blick begegnet Melissas, die als eine der wenigen nicht filmt. Ihre Augenbrauen sind gefurcht.
„Der Inhalt mag ja derselbe sein wie immer, aber die Verpackung hat ein neues weihnachtliches Motiv. Da ist es doch logisch, dass wir das Produkt teurer machen müssen.“ Die Aussage bleibt unkommentiert im Raum stehen. Kaito nickt mir unauffällig zu. Ich glaube, er wartet auf meinen Einsatz. Aber selbst, wenn ich jetzt den Mund aufbekäme, würde maximal ein raues Krächzen herauskommen. Kaito räuspert sich ein paar Mal. Als ich mich nicht rühre, beginnt er zu improvisieren. „Willst du die Schokolade jetzt kaufen, oder nicht?“ Er dreht sich mit dem Rücken zu den Zuschauern und wirft mir einen versteckten Blick zu, der das Versprechen eines langsamen Todes birgt. Mir ist klar, dass ich die Situation mit meiner Sprachlosigkeit nur noch schlimmer mache. Aber ich kann nichts dagegen tun. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Kaito macht eine wegwerfende Handbewegung. „Dann sag halt nichts und gib mir einfach nur dein Geld. Komm schon! Ich brauche für meinen roten Angeber-Porsche noch Sitzbezüge aus italienischem Leder.“
Eisige Stille legt sich über den Saal. Weder Gläserklirren noch Husten sind zu hören. Die Anspielung auf das neueste Spielzeug des obersten Chefs ist wohl niemandem entgangen. Hätte Kaito sich nicht ein weniger spezifisches Beispiel ausdenken können? Mittlerweile würde ich liebend gern im Boden versinken, selbst wenn das hieße, dass ich in der Hölle lande.
Da wird das Schweigen von einem einzelnen Laut durchbrochen.
„Ha!“ Die Faust des Chefs donnert auf den Tisch und bringt das Besteck zum Hüpfen. „Hahaha!“ Zögerlich fallen weitere Leute in das Lachen ein, bis der ganze Saal am Prusten ist.
Danach ist der Knoten geplatzt. Mir kommen die Zeilen wieder flüssig von den Lippen und Kaito kann auf weitere Freestyle-Einlagen verzichten. Am Ende ernten wir einen Applaus, der zwar nicht einem Begeisterungssturm gleicht, aber doch über das höfliche Maß hinausgeht. Ich bin so erleichtert, dass ich erst am Ende des Buffets an meine Belohnung denke.
„War das nun eine gute Tat?“ Ich zucke zusammen, als die Antwort nicht aus der erwarteten Richtung kommt.
„Komische Ausdrucksweise, aber es war auf jeden Fall nett, dass du die beiden nicht hast hängenlassen.“ Ich drehe mich zu Melissa um, die mich wohlwollend anlächelt.
„Ich wollte kurz nach draußen, frische Luft schnappen. Kommst du mit?“ Was für eine Frage. Ich springe auf, höre das Räuspern und schnappe mir zähneknirschend den Rucksack. Darf ich denn nicht mal ein kleines bisschen Privatsphäre haben?
Melissa tritt nach draußen und zieht mich weiter, bis wir außer Sichtweite der Raucher sind.
„Wo willst du denn …“ Mein Satz verliert sich, als ich den Ausdruck in ihrem Gesicht sehe. Ihre Augen funkeln. Oder ist das nur das Mondlicht, das sich in ihren Pupillen spiegelt? „Was–“, setze ich erneut an, dann legen sich Melissas Lippen auf meine und der Gedanke rückt in den Hintergrund. Ich schlinge die Arme um ihre Taille und ziehe sie näher an mich heran. Ihr Körper an meinem fühlt sich warm und wohltuend an. Warm und wohltuend, protestiert ein Stimmchen in meinem Kopf. Wie eine schöne Tasse Tee? Mein rechter Daumen streicht am Saum von Melissas Oberteil entlang und ertastet ein Stück warme Haut. Okay, Schluss mit »warm«. Was wir hier tun, ist »heiß«. Heiß wie … eine Herdplatte. Hm, an meinen Vergleichen muss ich noch arbeiten.
Bevor ich eine Metapher finde, die nicht im Themenbereich Küche angesiedelt ist, rückt Melissa ein Stück von mir ab. Ihre Augen fahren über mein Gesicht, was mir das unangenehme Gefühl gibt, auf dem Prüfstand zu stehen.
„Wenn ich gewusst hätte, dass Rollenspiele dich scharf machen, hätte ich eher was in der Richtung versucht.“ Ich muss nervös sein. Andernfalls hätte dieser dumme Spruch es nicht am Filter in meinem Kopf vorbeigeschafft. Melissas Mimik nimmt einen säuerlichen Touch an.
„Ich habe mich gerade davon überzeugt, dass du dich zum Guten verändert hast. Mach das jetzt nicht kaputt.“
„Ja, entschuldige.“ Ich zögere, unsicher, ob ich es wagen soll, die Frage zu stellen, die mir unter den Nägeln brennt. Schließlich gebe ich mir einen Ruck. „Heißt das, du hast mir verziehen?“ Melissa legt den Kopf schief und tut so, als müsste sie darüber nachdenken.
„Ich schätze, eine Chance kann ich dir noch geben.“ Bevor ich sie in die Arme schließen kann, presst sie warnend eine Handfläche gegen meine Brust. „Aber Till, ich schwöre dir, das ist das letzte Mal. Also vermassele es nicht wieder.“
„Werde ich nicht.“ Ich wünschte, ich wäre nur halb so überzeugt, wie ich klinge.
„Du hast mir immer noch keine Antwort gegeben“ bemerke ich, als ich nach dem Zähneputzen unter die Bettdecke krieche. „Habe ich mir mit dem Theaterstück nun eine gute Tat verdient?“ Kitty, die eingekringelt am Fußende liegt, hebt die Lider, lässt das Kinn aber auf den Pfoten ruhen.
„Ja.“ Na, Gott sei Dank! Dann fehlt jetzt also nur noch die Letzte. Es sei denn …
„Was ist mit dem, was danach passiert ist? Zählt das auch?“ Kittys Schnurrbarthaare zucken.
„Du meinst, ein Kuss von dir kommt einem selbstlosen Geschenk gleich? Du hast ja Selbstvertrauen.“ Ich schnaube.
„Sehr witzig. Ich rede von der Tatsache, dass ich Melissa dazu gebracht habe, mir zu verzeihen. Eigentlich wollte sie das doch schon die ganze Zeit. Alles was sie brauchte, war ein guter Grund. Und den habe ich ihr geliefert. Jetzt ist sie glücklich und jemanden glücklich zu machen, ist etwas Gutes, oder nicht?“ Kitty blinzelt ein paar Mal und klappt dann die Augen zu. Das war wohl eine Abfuhr. Schade. Ich war so stolz auf meine Kausalkette.
Bevor ich mich über Kittys undurchsichtige Regeln beschweren kann, zieht ein Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich. Verwundert greife ich nach dem vibrierenden Handy. Wer könnte das zu so später Stunde noch sein? Doch auf dem Display blinkt mir kein Anruf, sondern eine Erinnerung entgegen. Mit gerunzelter Stirn lese ich das Memo und brauche eine Weile, bis ich kapiere, welche Idee ich damals im Halbschlaf festhalten wollte. Dann springe ich aus dem Bett.
„Was wird das denn jetzt?“, fragt Kitty irritiert, als ich meinen Laptop und das Ladekabel aufs Kopfkissen schmeiße. „Solltest du nicht langsam mal schlafen? Du musst morgen früh raus.“
„Das hier ist wichtiger.“ Denn wenn ich richtigliege, ist mir meine dritte gute Tat schon so gut wie sicher.
Mein Körper zahlt mir die kurze Nacht mit dröhnenden Kopfschmerzen heim. K. o. stempele ich auf der Arbeit ein und schleppe mich die Treppen hoch. Ich will wie immer am Büro der Marketingabteilung vorbeihuschen, als ich aus den Augenwinkeln Melissas Winken bemerke. Richtig, ab heute ist hier wohl wieder ein kleiner Zwischenstopp angesagt. Gehorsam trete ich an ihren Schreibtisch und hole mir meinen Begrüßungskuss ab. Zwei Plätze weiter wird dies mit einem unappetitlichen Laut kommentiert. Melissa dreht sich zu ihrer Kollegin um.
„Hast du ein Problem?“
„Nicht doch“, winkt Kathrin ab. „Ich bin überglücklich, dass du dich entschieden hast, eine weitere Runde im Teufelskreis zu drehen. Bei der nächsten Trennung kannst du dich dann aber bei jemand anderem ausheulen.“ Sie wirft mir einen eisigen Blick zu. „Dass Melissa auf Arschlöcher steht, haben wir ja mittlerweile alle begriffen. Aber ich verstehe nicht, warum du dich nicht von ihr fernhalten kannst. Bist du ein Sadist, oder so?“
„Das reicht jetzt, Kathrin!“ Die beiden Frauen verstricken sich in eine hitzige Debatte. Ich nutze den Umstand, dass sie abgelenkt sind, für einen strategischen Rückzug. Im Büro angekommen lasse ich mich ächzend in meinen Stuhl fallen.
„Es macht mir keinen Spaß, Melissa zu verletzen“, stelle ich klar, weil ich Kittys bohrenden Blick im Nacken spüre.
„Sonderlich gestört scheint es dich bisher aber auch nicht zu haben.“
„Quatsch.“ Ich drehe mich von ihr weg und checke die E-Mails auf meinem Smartphone, während der PC noch hochfährt. Die Nachricht eines unbekannten Absenders poppt auf. Der Betreff sieht nach Spam aus. Mein Finger schwebt schon über dem Papierkorb-Icon, als mir klar wird, dass es tatsächlich jemanden gibt, der sich für meine Spende bedanken könnte.
„Schau mal, Kitty. Eine Mail vom Waisenhaus.“ Ich zeige ihr das angehängte Bild vom Geschenkeberg, in dem mein Tesafilmgemetzel heraussticht wie ein Straßenköter in einem Rudel frisierter Pudel.
Wir schrecken beide hoch, als die Tür ohne Anklopfen aufgerissen wird. Glücklicherweise ist es nur Kaito, der sein charakteristisches Schnauben ausstößt, als er uns beide über das Handy gebeugt vorfindet.
„Lässt du deine Katze neuerdings deinen Twitter-Account verwalten?“
„Haha“, mache ich müde. „Was willst du?“
„Dich fragen, ob du Gudrun gesehen hast. Ich kann sie nirgends finden. Im Urlaubskalender steht sie aber nicht als abwesend drin.“ Ein flaues Gefühl breitet sich in mir aus. Die Aktion gestern Abend wird doch nicht nach hinten losgegangen sein?
„Hier war sie jedenfalls nicht“, versichere ich Kaito und scheuche ihn aus meinem Büro. Ich muss nachdenken.
Die nächsten Stunden bleibt Gudrun verschollen. In der Mittagspause beschließe ich, mir Klarheit zu verschaffen, und fahre mit Kitty zum Haus der Kollegin. Meine ungute Vorahnung bestätigt sich, als ich den verschmierten Zirkel auf ihrer Haustür entdecke.
Ich drücke auf die Klingel und warte. Im Haus rührt sich nichts. Erst nach mehrmaligem Läuten nähern sich schlurfende Schritte und die Tür wird einen Spaltbreit aufgezogen. Ich erhasche einen kurzen Blick auf Gudruns ungeschminktes Gesicht und ihre zerzausten Locken, bevor sie mir die Tür vor der Nase zuschlägt. Kitty seufzt.
„Was hast du angestellt?“ Ich schlucke.
„Ich schwöre, ich hatte die besten Absichten.“ Skeptisches Schweigen aus dem Rucksack. „Na schön, ich erkläre es dir, dann wirst du mir zustimmen.“ Ich lasse mich auf dem Schwellenabsatz nieder und ziehe die Tasche so weit auf, dass ich Kittys Gesicht im Blick habe. „Du erinnerst dich doch noch an die Glaubensgruppe, die Gudrun bei unserer Probe erwähnt hat, oder?“
„Die Erben des Heiligenblutes?“
„Genau. Die Art, wie sie von dem Verein gesprochen hat, hat mich stutzig gemacht. Gestern habe ich dann ein paar Nachforschungen angestellt und mein Verdacht hat sich bestätigt. Die Erben des Heiligenblutes wurden bereits mehrfach verklagt, weil sie ihren Anhängern Unsummen für inhaltslose Seminare abgeknüpft haben oder für irgendwelchen Schrott, der angeblich therapeutischen Nutzen hat.“ Kitty kräuselt das Näschen.
„Lass mich raten: Du hast alles, was du herausgefunden hast, kommentarlos an Gudrun weitergeleitet und fragst dich jetzt, warum sie nichts mehr mit dir zu tun haben möchte?“ Na ja … ja!
„Ich habe mir ihretwegen die halbe Nacht um die Ohren geschlagen. Sie sollte mir dankbar sein.“
„Ach, Till.“ Kittys Ton ist der einer resignierten Lehrerin, die bereits zum fünften Mal etwas völlig Banales erklären muss. „Vielleicht kann ich es dir ja anhand eines Beispiels begreiflich machen. Also: Stell dir vor, du wärst der Besitzer eines wunderschönen Einhorns.“ Ich stöhne auf, aber Kitty lässt sich nicht aus dem Konzept bringen. „Du besitzt ein wunderschönes Einhorn. Doch eines Tages kommt jemand daher und behauptet, dass es gar keine Einhörner gibt. Und kaum, dass er es ausgesprochen hat, erkennst du, dass das, was du für ein Einhorn gehalten hast, in Wahrheit ein lahmender Ackergaul ist. Jetzt ist die Frage: Wärst du dieser Person dankbar?“ Ich verschränke die Arme vor der Brust.
„Ja, denn es wäre mir lieber, die Wahrheit zu kennen, als in einer Traumwelt zu leben.“
„Okay, das ist deine Meinung. Aber hattest du das Recht, diese Entscheidung für Gudrun zu fällen?“ Einen Moment lang habe ich Zweifel. Doch dann erinnere ich mich wieder an die schamlosen Methoden der Glaubensgruppe.
„Die Erben des Heiligenblutes haben Gudruns Gutgläubigkeit ausgenutzt. Es war richtig, sie aufzuklären, bevor sie den Aasgeiern noch mehr Geld in den Rachen stopft.“
„Da stimme ich dir zu.“ Mir fällt die Kinnlade runter.
„Was zur Hölle, Kitty! Was sollte dann das Geschwafel von dem Einhorn?“
„Ich wollte nur nicht, dass du es dir zu einfach machst.“ Als ob irgendetwas einfach gewesen wäre, seit Kitty sich auf meinem Sofa materialisiert hat. „Trotzdem hättest du sensibler vorgehen müssen“, fügt sie streng hinzu. „Du hättest das Gespräch unter vier Augen suchen können, statt eine unpersönliche E-Mail zu schreiben.“ Vielleicht hat sie recht. In meinem übernächtigten Zustand gestern war ich nur darauf aus, die Sache möglichst schnell hinter mich zu bringen.
„Dann hole ich das jetzt nach.“ Ich komme auf die Beine und drücke erneut auf die Klingel.
„Geh weg, Till“, hallt Gudruns Stimme dumpf von der anderen Seite. Offenbar hat sie sich während meines Gesprächs mit Kitty nicht von der Stelle gerührt.
„Es tut mir leid“, rufe ich zurück. „Kitty Christmas hat mir einen Fluch auferlegt. Um ihn zu brechen, muss ich drei gute Taten bis Heiligabend vollbringen. Ich dachte, wenn ich die Wahrheit über deine Religion enthülle, wird mir das angerechnet. Das war egoistisch von mir.“ Es knarrt leise und Gudruns rechtes Auge linst durch den Türspalt.
„Hast du deshalb auch bei dem Theaterstück mitgemacht?“
„Ja“, antworte ich überrascht. „Heißt das, du glaubst mir?“
„Na ja, deine Erklärung klingt immer noch einleuchtender, als das, was ich mir zusammenfantasiert habe.“ Ihr Umriss verschmilzt mit den Schatten im Haus. Ich schiebe die Tür weiter auf und folge Gudrun ins Wohnzimmer. Mein erster Blick landet auf dem Couchtisch, über den sich eine Flut benutzter Taschentücher ergossen hat. Sofort nagt wieder das schlechte Gewissen an mir.
„Es tut mir wirklich leid“, murmele ich und lasse mich neben ihr aufs Sofa fallen. Gudrun schnaubt sich die Nase und wirft das Taschentuch zu den anderen auf den Haufen.
„Ist schon gut, mein Junge. Es war höchste Zeit, dass jemand mal Klartext mit mir redet.“ Ich werfe ihr einen verwunderten Seitenblick zu. „Ja, glaub nicht, dass ich nichts von den Lästereien hinter meinem Rücken mitkommen habe.“
„Aber warum hast du dann nichts dagegen unternommen?“
„Ich hatte doch keine Wahl!“ Ihre Unterlippe bebt. Vorsorglich rupfe ich ein frisches Taschentuch aus dem Spender und reiche es ihr. „Danke.“ Ein weiteres Papierknäuel landet auf dem Tisch. „Die Wahrheit ist, dass ich weder Familie noch Freunde habe – zumindest nicht bei mir in der Nähe. Die Kirche war der einzige Ort, an dem ich mich zugehörig gefühlt habe.“ Sie streicht eine Strähne, die an ihrer nassen Wange klebengeblieben ist, hinters Ohr. „Aber im Herzen wusste ich immer, dass ich über den Tisch gezogen werde. Als Buchhalterin brauchte ich schließlich nur eins und eins zusammenzuzählen. Ich schätze, ich hatte zu große Angst vor dem, was passiert, wenn ich der Wahrheit ins Gesicht schaue.“
„Was ist denn passiert?“ Gudrun macht eine Geste, die sie selbst und den besudelten Tisch umfasst.
„Na, das hier! Ich bin auf dem besten Weg, eine verlotterte Einsiedlerin zu werden.“
„Aber wieso denn!“, widerspreche ich energisch. „Du hast doch Kaito. Und wenn das kein großer Trost ist – was ich verstehen kann – hast du immer noch mich. Und Kitty!“ Mein Protest ringt Gudrun gerade mal ein schwaches Lächeln ab.
„Ich dachte, du und Kitty seid nur zu mir gekommen, um den Fluch zu besiegen.“ Verlegen kratze ich mich am Kinn.
„Na ja, am Anfang vielleicht, aber da wusste ich ja auch noch nicht, dass du ein Glücksbringer bist.“ Ein verwirrtes Schniefen.
„Wie meinst du das?“
„Also.“ Ich hebe einen Finger. „Zuerst einmal hat der oberste Chef von meiner Existenz erfahren. Dann habe ich etwas über Kaito herausgefunden, das mir einen lebenslangen Freifahrtschein für Computercrashs beschert hat. Und drittens“, schließe ich und hebe einen weiteren Finger, „bin ich wieder mit Melissa zusammen. Und das alles nur, weil ich mich in deine Theaterliste eingetragen habe. Wenn das kein Glück ist.“ Gudruns strahlendes Lächeln sagt mir, dass ich zur Abwechslung mal die richtigen Worte gefunden habe.
„Gut gemacht“, bestätigt mir Kitty. Zum ersten Mal seit wir uns kennen, wirkt sie voll und ganz zufrieden mit mir.
Heiligabend
Ich stehe am Fenster und sehe den Flocken dabei zu, wie sie zu Boden rieseln und den dreckigen Gehweg unter einer dichten Schneedecke begraben. Weiße Weihnacht. Wer hätte gedacht, dass wir das in Zeiten des Klimawandels noch mal erleben?
Es hätte die perfekte Kulisse für mein Happyend sein können. Doch meins ist das Märchen vom Prinzen, der sich durch die Dornenhecke schlägt, nur um am Ende im Burggraben zu ersaufen. Ich war so nah dran. Aber ohne die letzte gute Tat sind die Strapazen der vergangenen Wochen bedeutungslos. Genausogut hätte ich zu Hause bleiben und Horrorfilme bingen können. Auf der anderen Seite möchte ich die verbrachte Zeit nicht missen. Was ich zu Gudrun gesagt habe, war durchaus ernst gemeint: Ich habe die letzten Tage viel Gutes zurückbekommen.
Kitty drückt die Schlafzimmertür mit ihrem Dickschädel auf und schlendert zu mir herüber.
„Interessantes Outfit“, kommentiert sie und meint damit meine Kombi aus Anzughose und selbstgestricktem Weihnachtspulli.
„Als ich unten angefangen habe, war ich noch der Meinung, dass ich etwas Angemessenes für die Weihnachtsfeier bei Melissas Eltern anziehen sollte, aber als ich dann bei der Oberbekleidung angekommen war, dachte ich mir, »Was soll’s«. Ab morgen wird mein Weg eh von Fettnäpfchen gepflastert sein, also sollte ich besser meine Schamresistenz trainieren.“ Kitty legt den Kopf schief.
„Guter Plan.“ Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Mitleid?
„Ich hätte da noch eine Idee, wie ich den Fluch besiegen könnte. Wie wär’s, wenn ich dich einfach aus dem Fenster schmeiße?“
„Das würde dir nichts bringen“, erwidert Kitty trocken. „Ich habe noch drei meiner neun Leben übrig.“ War das ein Scherz? Bei Kitty kann man sich da nie so ganz sicher sein. Aber ich zweifle nicht daran, dass im Laufe der Jahrzehnte schon mal jemand versucht hat, den Fluch auf diese Weise loszuwerden. Und die Tatsache, dass Kitty vor mir steht, ist wohl Beweis genug, dass es nicht funktioniert hat. Ich verspüre auch nicht den geringsten Drang, es auszuprobieren. Kitty mag zwar ein Plagegeist sein, aber letztendlich macht sie auch nur ihren Job.
Kurz nach drei steht Melissa vor der Tür, um mich zur Weihnachtsfeier ihrer Eltern abzuholen. Ihr verdatterter Gesichtsausdruck, als sie meinen Pulli erblickt, ist zum Totlachen. Zumindest in der Theorie. Praktisch ist mir nicht nach Lachen zumute.
„Bist du noch nicht fertig?“ Ich stemme selbstbewusst die Hände in die Hüften.
„Doch, wieso?“ Sie verdreht die Augen, verzichtet aber auf einen Kommentar.
„Dann komm. Wir sind spät dran.“ Ich folge Melissa den Gartenweg hinunter, den Blick auf ihren sorgsam frisierten Hinterkopf gerichtet. Aus ihrer Hochsteckfrisur blitzt mir die perlenbesetzte Haarspange entgegen, die ich ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe. Mit einem Mal habe ich einen Kloß im Hals. Ich mache noch ein paar Schritte und bleibe dann stehen.
„Es tut mir leid.“
Melissa dreht sich mit einem ungehaltenen Laut zu mir um. Doch als sich unsere Blicke begegnen, wandelt sich ihre Mimik in Sorge.
„Was meinst du?“
„Mein ganzes Verhalten. Du tust alles, um mir zu gefallen, und ich danke es dir, indem ich dich mit diesem Clownsoutfit bei deinen Eltern blamiere.“ Melissas Züge werden weich.
„Schwamm drüber. Ich finde es eigentlich ganz süß, dass du den selbstgestrickten Pulli deiner Mutter trägst. Und die Kommentare der anderen sind mir eh egal.“ Sie ist ein Schatz – ein Schatz, den ich nicht verdient habe.
„Danke.“ Ich räuspere mich, um das Kratzen in meinem Hals loszuwerden. „Trotzdem frage ich mich, warum ich immer wieder so etwas mache. Wieso schaffe ich es nicht, mich dir zuliebe zusammenzureißen?“
„Na ja.“ Melissa lächelt verzagt. „Du bist eben ein ziemlicher Holzkopf.“ Wenn es doch nur das wäre. Es fällt mir schwer, die Wahrheit auszusprechen, aber ich weiß, dass ich nicht darum herumkomme, sie ein letztes Mal zu verletzen.
„Eine Freundin von mir hat bis vor Kurzem in einer kaputten Beziehung gelebt. Es war mir ein Rätsel, warum sie nicht schon viel eher Schluss gemacht hat, aber dann hat sie es mir erklärt: Sie hatte Angst davor, allein zu sein.“ In Melissas Augen tritt ein beklommener Ausdruck. Spätestens jetzt hat sie begriffen, in welche Richtung das Gespräch geht.
„Ich versteh nicht, was du mir damit sagen willst“, flüstert sie. „Ich habe keine Angst vor dem Alleinsein.“ Ich schlucke. Warum ist es nur so schwer, das Richtige zu tun?
„Aber ich. Und deshalb habe ich dich an mich gekettet, obwohl …“ Ich zögere, als ich die ersten Tränenspuren auf Melissas Wangen sehe. Doch es muss sein. Ein letzter Schritt, nach dem es kein Zurück mehr gibt. „…obwohl ich dich nicht liebe.“
„An Weihnachten mit jemandem Schluss zu machen, ist echt das Allerletzte.“
„Ich weiß.“
„Da wird Melissa noch lange dran zu knabbern haben.“
„Ich weiß.“
„Es war trotzdem die richtige Entscheidung.“ Ich schweige. Dann hebe ich das Gesicht vom Kissen und schaue zu Kitty, die neben meinem Bett hockt.
„Ich weiß.“
„Gut.“ Kitty senkt den Blick auf ihre Pfoten. „Jetzt, wo du gerade so down bist, sollte ich dir vielleicht etwas beichten.“ Ich hebe meine Hand und bringe sie so zum Schweigen.
„Nope. Mein Bedarf an deprimierenden Gesprächen ist für heute gedeckt. Ich verbringe meinen letzten Tag in Freiheit jetzt so, wie ich es von Anfang an hätte tun sollen.“
„Soll heißen?“
„Alkoholisiert!“ Ich schwinge meine Beine aus dem Bett, marschiere in die Küche und mache mich daran, den Vorratsschrank zu plündern. Meine Beute trage ich ins Wohnzimmer, wo ich die Flaschen in der Reihenfolge aufstelle, in der ich sie zu trinken gedenke. Eine To-do-Liste ganz nach meinem Geschmack.
Ich habe gerade den Riesling geöffnet, als es klingelt. Seufzend stelle ich die Flasche auf den Tisch zurück und laufe in den Flur. Ich öffne die Haustür und schaffe es nicht mehr, rechtzeitig auszuweichen. Der Schneeball trifft mich mitten im Gesicht. Kaito stößt ein triumphierendes Lachen aus, von dem sich so mancher Comic-Bösewicht noch eine Scheibe abschneiden könnte.
„Der Pulli steht dir echt gar nicht“, informiert er mich, während er sich im Flur an mir vorbeischiebt.
Hastig schüttele ich den Schnee aus meinem Haar und will mich schon mit Wutgebrüll auf ihn stürzen, als sich Gudruns treuherziges Gesicht in mein Blickfeld schiebt.
„Ich habe versucht, ihn aufzuhalten. Ehrlich.“ Sie drückt mir eine Flasche Apfelpunsch in die Hand. „Der hat dir doch beim letzten Mal so gut geschmeckt.“ Klasse, der wandert direkt an den Anfang der Reihe.
Zusammen gehen wir ins Wohnzimmer, wo Kaito sich bereits – mit deutlichem Sicherheitsabstand zu Kitty – aufs Sofa gesetzt hat.
„Siehst du, Gudrun. Ich hab dir doch gesagt, er hockt alleine zu Hause und betrinkt sich.“
„Immer noch weniger bedenklich, als alleine zu Hause zu hocken und Killerspiele zu zocken.“ Kaito schnaubt.
„Killerspiele? Du klingst wie ein Klatschreporter nach einem Amoklauf.“
„Hört auf zu streiten“, weist Gudrun uns zurecht. Dann drückt sie jedem von uns ein Glas Riesling in die Hand. „Auf ein Weihnachten in lustiger Gesellschaft.“
„Frohe Weihnachten!“ Wir lassen die Gläser aneinanderklinken. Ich habe gerade den ersten Schluck genommen, als Kitty ihre Stimme erhebt.
„Frohe Weihnachten, Till! Was ich dir vorhin noch sagen wollte: Du hast den Fluch besiegt!“
„Was?!“ Ich knalle das Glas auf den Tisch zurück und presche hinter Kitty her, die pfeilschnell ins Schlafzimmer geflüchtet ist. Einen halben Meter hinter ihr überquere ich die Schwelle und sehe gerade noch, wie ein weißer Blitz auf die Fensterbank und von dort aus weiter auf den Schrank zischt. Außerhalb meiner Reichweite. Hat sie das so geplant? Ich nähere mich ihrem Versteck und blicke an der Schrankwand hoch.
„Ich habe den Fluch also besiegt?“ Ich weiß nicht, warum Kitty glaubt, dass sie sich vor mir in Sicherheit bringen muss. Warum sollte ich sauer sein? Das sind doch fantastische Neuigkeiten!
„War es die Aussprache mit Melissa?“ So mies wie ich mich danach gefühlt habe, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, das Ganze als Akt der Nächstenliebe zu werten.
„Die Trennung war eine gute Tat.“ Kitty zögert. „Deine fünfte um genau zu sein.“ Ich starre sie an. Es dauert eine Weile, bis die Bedeutung ihrer Worte zu mir durchdringt. Okay, jetzt bin ich doch sauer.
„Wann?“, ist alles, was ich herausbringe. Kitty versteht trotzdem, was ich meine.
„Der Sketch auf der Weihnachtsfeier war deine dritte gute Tat. Danach warst du theoretisch frei. Die Gespräche unter vier Augen mit Kaito und Gudrun wurden dir zusätzlich angerechnet. Es muss nämlich nicht immer eine große Geste sein. Manchmal reicht es schon, ein bisschen Verständnis zu zeigen und seine Mitmenschen mit ein paar freundlichen Worten aufzubauen.“
Ich bin völlig sprachlos. Die Sorgen, das Kopfzerbrechen, die ständige Bedrohung, die wie eine Gewitterwolke über mir geschwebt hat. All das hätte schon am Donnerstag vorbei sein können.
„Warum hast du mich angelogen?“
„Ich habe dir nur die Wahrheit verschwiegen.“
„Das läuft ja wohl aufs Gleiche hinaus!“ Kitty senkt den Blick. Dann springt sie auf die Fensterbank hinunter, wo sie sich auf Augenhöhe mit mir befindet.
„Du warst noch nicht so weit“, erklärt sie und wirkt dabei so aufrichtig, dass meine Wut augenblicklich verpufft. Die ganze Beschäftigung mit den Gefühlen Anderer hat mein Herz weicher werden lassen als ein Marshmallow. Schöner Mist.
Ich strecke die Hand aus. Kitty schließt die Augen und öffnet sie gleich darauf einen misstrauischen Spaltbreit, als sie nur meine kraulenden Finger am Kinn spürt.
„Dann ist deine Mission hier wohl erfüllt.“ Kitty schmiegt sich sachte gegen meine Hand.
„Ja.“
„Was mache ich denn dann ohne meinen moralischen Kompass?“
„Tja, ab morgen wirst du alleine klarkommen müssen. Aber das schaffst du schon.“ Ich sage nichts, weil ich sehen kann, dass es hinter ihrer Stirn noch arbeitet. „Es wäre ein wenig unorthodox“, fährt sie schließlich zögernd fort. „Aber es steht nirgendwo geschrieben, dass ich in die Götterwelt zurückkehren muss. Und bis zur nächsten Adventszeit bin ich quasi arbeitslos. Ich könnte dir also weiterhin Gesellschaft leisten, wenn du das wirklich willst.“ Ich grinse.
„Machst du Witze? Wann hat man schon mal die Gelegenheit, eine sprechende Katze zum Mitbewohner zu bekommen? Ich sorge dafür, dass der Kühlschrank immer mit Fisch gefüllt ist, und du biederst dich bei den Singlefrauen in der Nachbarschaft an und findest heraus, bei welcher es sich lohnt, Zucker auszuleihen. Das wird super!“ Kittys Augen verengen sich.
„Weißt du, Till, es ist durchaus möglich, zwei Jahre in Folge verflucht zu werden.“ Ich lache auf und bin erleichtert, als Kitty in mein Lachen einfällt. Das wäre ein Cliffhanger für eine Fortsetzung, die nun wirklich niemand braucht.