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Der fliegende Mann und andere Missverständnisse
„Die Wirklichkeit hat ein Loch, durch das wir schauen können.“ - John Steinbeck
Nicht wirklich das, was man eine weiche Landung nennen würde.
Armer Lenny.
Man liegt flach auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt, die Finger krampfhaft in den kalten Steinfußboden gekrallt, als wäre der Zeitpunkt zum Festhalten nicht schon längst vorbei.
Der Körper ist in sich verdreht, seltsam gekrümmt, wie ein aus Knetmasse gefertigtes Kunstwerk:
„Der Mann, der sich für einen Vogel hielt. Bitte nicht berühren, zerbrechlich.“
Lenny war nicht tot. Im Himmel sah es anders aus; und in die Hölle fiel man tiefer.
Die Welt machte ihre üblichen Geräusche. Aus der Wohnung nebenan drang ein leises Knacken. Der Nachbar aß wieder seinen Zwieback, wie jeden Tag, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Zwieback. Könnte man in dieses Wort beißen - Er wäre der erste, der es täte.
Irgendwer hatte ihm verzapft, die alten Seefahrer hätten sich während ihrer Entdeckungsreisen monatelang ausschließlich von Zwieback ernährt. Da er kein Segelschiff besaß, beschränkte er sich auf seine Badewanne. Leider gab es in der Wanne außer einigen verkalkten Rohren nicht viel zu entdecken.
Gerade wollte Lenny zu dem verächtlichen Grunzer ansetzen, den er normalerweise an dieser Stelle von sich gab, doch was daraufhin aus seiner Kehle kam, war bloß ein jämmerliches Röcheln, wie das Pfeifen eines verrosteten Teekessels. Er versuchte sich noch an einigen weiteren Lauten; mehr als das klägliche Geröchel brachte er allerdings beim besten Willen nicht zustande. Lenny sah sich gezwungen, sich einmal genauer mit seiner Situation zu befassen. Als er den Kopf zu diesem Zweck ein Stück heben wollte, merkte er, dass irgendetwas mit seinem Hals nicht in Ordnung war. Da, wo der Hals sein sollte, war ein Loch.
Die Tatsache, dass er, wenn auch nur unter großen Mühen, immerhin noch atmen konnte, flößte ihm jedoch neue Zuversicht in dieser Sache ein und brachte ihn schließlich zu der Überzeugung, dass sein Hals lediglich sehr, sehr taub war.
Lenny überschlug die Kniffligkeit seiner Lage. Da ihm zu einem Ergebnis die nötigen Details fehlten, wurde es Zeit für eine...
Bestandsaufnahme:
Er hatte von Phantomschmerzen gehört, man spürte Körperteile, die man gar nicht mehr besaß. Eine üble Sache. Bei Lenny war es glücklicherweise anders, er besaß allerhand Körperteile, die er nicht mehr spürte. Er atmete tief durch und ging in sich, wanderte durch sein Inneres, unterhalb seines Adamsapfels jedoch stieß er auf eine Umleitung wegen vorübergehender Bauarbeiten im Rückratbereich.
Erst jetzt, was ihn selbst ein wenig überraschte, merkte Lenny, dass sein Herz nicht mehr schlug. Es brummte.
Eigenartig nur, dass das Brummen gar nicht aus seinem Innern zu kommen schien. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das nervtötende Gebrumm kam aus der Nachbarwohnung. Kein aufgebrachter Bienenschwarm, sondern die Infrarotlicht verströmende Beleuchtungsanlage der Nachbarin, die sich einredete, dass dieses ihrer Schwangerschaft zuträglich sei. Sie hatte mitgekriegt, dass man das bei den Kaninchen im Zoogeschäft so mache, wenn sie Junge kriegten. Würde ihr Nachwuchs infolgedessen genauso rasch heranwachsen wie die Stromrechnung, so dürfte dies auch die letzten Spötter zum Verstummen bringen.
So weit, so gut. An der Geräuschkulisse hatte sich also nichts geändert. Lennys Blick fiel auf den Tisch, an dessen beiden langen Enden gewöhnlich je zwei Stühle standen. Nun fehlte einer. Unweit seines rechten Armes fand er ihn in umgekipptem Zustand wieder. Was ihm das sagte? Nun, das konnte schon mal vorkommen, dass so ein Stuhl so mir nichts, dir nichts einfach umfiel.
Mit dem Eimer war es anders.
Auch er, der große rote Eimer, der immer unter der Deckenlampe gestanden hatte, lag auf der Seite und hatte seinen Inhalt, Hunderte tote Nachtfalter, über den Fußboden ergossen. Allerdings war der Behälter, seit er da stand, kein einziges Mal umgefallen. Anscheinend hatte Lenny ihn im Fallen umgestoßen. Nun lagen die Falter mit ihren Würstchenkörpern und starren Flügeln als ein halbkreisförmiger Fächer um die Eimeröffnung herum verstreut.
Gerade, als er seine bislang nicht sehr ergiebige Bestandsaufnahme wiederaufnehmen wollte, vernahm er eine wohlbekannte Stimme. Sie kam von oben, und zwar keineswegs aus himmlischen Sphären, sondern aus einem handtellergroßen Loch in Decke, hinter dem Lenny das ebenso übertrieben geschminkte wie verdutzte Gesicht des Fräuleins Immergrün entdeckte. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“, trällerte es zu ihm herunter.
„Mir geht es ausgezeichnet“, stieß Lenny gepresst hervor, „Danke der Nachfrage.“
Die Immergrün runzelte die Stirn und musterte ihn genauer, offenbar nicht gänzlich überzeugt durch seine Antwort. Es erfüllte ihn mit Unbehagen, wie ihre Blicke über seinen Körper wanderten, ziellos, aber hartnäckig wie eine verlaufene Ameisenfamilie, bis sie schließlich auf seinem Hals zur Ruhe kamen. „Was soll denn das Seil da? An Ihrem...an Ihrem Hals?“
Im ersten Augenblick überwog in Lenny die Erleichterung, endlich auch von anderer Seite das Vorhandensein seines Halses bestätigt bekommen zu haben, gleich darauf fasste er sich jedoch wieder, als ihm die Tragweite dieser Bemerkung zu Bewusstsein kam. Er raffte sich zu einer Antwort auf. „Ach, das Seil! Ja, das habe ich gebraucht, um...den Krawattenknoten zu üben. Sie wissen nicht zufällig, wie man den am besten hinkriegt? Ich meine ohne, dass...-“
„Ha!“, fiel ihm die Immergrün ins Wort, „Ich sehe doch genau, was Sie damit wollten. So leicht können sie mich nicht hinters Licht führen! Von wegen Krawattenknoten!“ Sie funkelte Lenny zornig an und schlug mit der Faust von oben auf die Decke, dass der Putz in flockigen Körnchen auf ihn herabträufelte. „Sie wollten mir hinterrücks den Boden unter den Füßen wegziehen mit Ihrem verdammten Seil! Haben wohl gedacht, die blöde Kuh da oben soll mal auf die Nase fliegen. Nix da!“
Lenny begann unruhig zu werden, seine Augen zuckten auf der Suche nach einem Fluchtweg nervös hin und her, doch der beste Fluchtweg nützt einem nichts, solange man zerschlagen wie eine glücklose Fliege und unfähig, auch nur den Finger zu rühren am Boden liegt. Lenny sah das nächste Unglück kommen. „Vorsicht!“, keuchte er bestürzt, „Sie schlagen noch die ganze Decke ein! Die ist nicht sehr stabil.“
Das Gesicht zog sich von dem Loch zurück und ein schallendes Gelächter war zu hören. Anschließend beugte sich das Fräulein erneut über die offene Stelle in der Decke. „Gerade Sie erzählen mir das! Gleich behaupten sie noch, das Loch da käme gar nicht von Ihnen, von Ihren aberwitzigen Aktionen!“ Wutentbrannt hämmerte sie weiter auf die Decke ein, mit Händen und Füßen malträtierte sie das Gebälk und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer fürchterlichen Fratze. Lenny bekam es mit der Angst zu tun. Wie Schnee rieselte der weiße Anstrich bei jedem Schlag von der Decke, lange würde sie nicht mehr standhalten. Das wäre dann wahrlich keine weiße Weihnacht mehr, sondern vielmehr eine mittlere Lawine.
„Das geschieht Ihnen ganz recht, dass Sie da so liegen, der Schuss ging wohl nach hinten los!“, tönte und höhnte es von oben, „Lassen Sie sich das mal eine Lehre sein! Ich helfe Ihnen da bestimmt nicht wieder raus. Das ist Ihr ganz persönliches Schlammassel!“ Ihre Stimme wurde immer schriller, sie stieg in ungeahnte Höhen und wurde zu einer Art jähzornigem Pfeifen, wie es bei aufgeregten Murmeltieren des öfteren zu beobachten ist. Und dann war es so weit. Die Decke gab nach, die Balken stöhnten auf, bogen sich und krachten splitternd in der Mitte durch. Und das Fräulein Immergrün purzelte mit einer nicht unwesentlichen Menge Staub und zerbrochenen Holzstücken in die Tiefe, direkt auf den in Schock erstarrten Lenny zu, der trotz fest geschlossener Augen dem unvermeidlichen Aufprall entgegensah.
Wie durch ein Wunder trafen ihn nur unerheblich große Holzteile, die er aufgrund seiner körperlichen Taubheit ohnehin nicht spürte. Dafür traf das Fräulein ganz genau. Mit einem Schlag war alle Luft aus seinen Lungen, Lenny riss die Augen auf und starrte entsetzt auf das staubverkrustete Makeup, unter dem er ein Gesicht vermutete, das nun direkt auf seinem liegen musste. Wieder zu Atem gekommen, wand er seinen Mund frei und verkündete leise, nicht ohne Trotz: „Sehen Sie! Jetzt haben wir den Salat.“ Das Fräulein antwortete mit einem Hustenanfall, in dessen Folge sich der Staub wolkenartig, wie eine Art grauer Heiligenschein, um ihr Gesicht legte.
„Scheiße“, wimmerte sie verzweifelt, „Ich kann meine Beine nicht bewegen. Ich spüre gar nichts mehr. Bin ich jetzt gelähmt, oder so?“ Sie blickte bestürzt zu ihm herab, und weil ihre Gesichter zu nah beieinander waren, sprangen ihre kleinen schwarzen Augen rastlos zwischen seinen beiden hin und her, von einer Nasenseite auf die andere, als wäre die Nase ein gespanntes Seil und ihre Blicke spielende Kinder. Und der Schweiß trat ihr auf die Stirn, immer mehr Schweiß, er sammelte sich in den feinen Rillen, und die Rillen traten über die Ufer, überschwemmten ihr Gesicht, bis ihre Schweißperlen auch in Lennys Gesicht herabsickerten und es benetzten. Er versuchte die glänzenden Tröpfchen wegzupusten, aber sie liefen ihm in Mund und Nase und er schmeckte das Salz auf der Zunge und konnte rein gar nichts dagegen tun.
„Woher zum Teufel soll ich wissen, wie sich so ne Lähmung anfühlt? Ich war noch nie gelähmt.“, versetzte er matt. Eine kurze Pause entstand. Sie verfielen beide in Schweigen, ein aggressives Schweigen voller stumm geführter Wortgefechte. Sie atmeten verhalten, hielten den Atem flach, um dem anderen nichts von ihrer inneren Unruhe zu verraten und so hörten sie das leise Bröckeln des Deckenverputzes, das Brummen der Infrarotbeleuchtung und das Knacken des Zwiebacks. Immer noch aß der Nachbar seinen Zwieback, er schien sich auf dem Weg zu einer bedeutenden Entdeckung hinter den Duschenstrudeln zu befinden.
Da kam Lenny ein furchtbarer Gedanke.
„Moment mal“, brachte er zögernd hervor, „Soll das etwa heißen, Sie können sich gar nicht mehr bewegen? So richtig überhaupt nicht mehr?“
„Keinen Zentimeter“, entgegnete die Immergrün resigniert, „Sieht so aus, als müssten wir uns zumindest für den Augenblick mit unserer...Lage abfinden.“
Lennys Augen weiteten sich in Entsetzen. Doch Lenny war niemand, der sich seinem Schicksal kampflos ergab, er fiel nicht einfach um wie ein einfacher Stuhl, er fiel um wie ein stolzer Ledersessel. „Hören Sie“, fauchte er, dass der Staub nur so wirbelte, „Das hier ist immer noch meine Wohnung. Und wenn sie nicht sofort etwas unternehmen, zeige ich Sie an. Wegen Hausfriedensbruch! Ha!“
Das ohnehin schon rote Gesicht des Fräuleins verfärbte sich noch ein wenig dunkler, ihre Schläfe lag heiß auf seiner Wange. Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab, sodass ihm ihre staubigen Haarsträhnen zwischen die Zähne rutschten und noch bevor er ihre Haarpracht angewidert wieder ausspucken konnte, brüllte die Immergrün mit gellender Stimme los. „Hilfe! Hilfe!“
Es dauerte nicht lange, da hörte man wilde Schritte die Treppe hinaufpoltern, kurz darauf ein hohles Krachen wie von splitterndem Holz. Anscheinend hatte sich niemand die Mühe gemacht, erst einmal versuchsweise die Klingel zu betätigen, bevor drastischere Mitteln zur Anwendung kamen. Sie hatten einfach gleich die Tür zertrümmert.
Wenig später standen sie alle in einem Halbkreis um den Tatort herum. Alle waren sie auf einmal da, als hätten sie nur auf ein Signal gewartet. Da war die schwangere Nachbarin, noch leicht glühend und umgeben von einem zartrötlichen Schimmer. Und da war der verrückte Nachbar, im Piratenkostüm, in der einen Hand eine Scheibe bröseligen Zwieback mit einer abgebissenen und einer feuchten Ecke, in der anderen ein überdimensionales Hackebeil, verkeilt in die Reste von Lennys Tür, der dem Aushilfspiraten solche Kompromisslosigkeit gar nicht zugetraut hätte. Auch der Hausmeister war aus seiner Erdgeschosswohnung heraufgestürmt und starrte unverwandt auf die beiden Hilflosen. Nach einem Moment des Erstaunens begann er missbilligend den Kopf zu schütteln.
Lenny war eifrig bemüht, das Missverständnis aus der Welt zu räumen. „Es ist nicht das, wonach es aussieht, bitte glauben Sie mir! Die Immergrüne ist an allem Schuld. Sie ist auf mich draufgefallen! Aus dem siebten! Ich hab sie ja nicht dazu aufgefordert."
Doch seine Verteidigung stieß bei den anderen auf taube Ohren, das Gesicht des Hausmeisters wurde hart und streng. „Reden Sie sich doch nicht raus, Sie Lüstling. Die...Sachlage ist mehr als eindeutig. Schämen Sie sich denn nicht, sich so an unserem armen Fräulein Immergrün zu vergehen? Kein Wunder, dass sie aus dem siebten Himmel fällt, daran sind allein Sie schuld! Glauben Sie ja nicht, dass wir Sie davonkommen lassen, wir alle haben schließlich gehört und gesehen, was wir gehört und gesehen haben! Und dann jammern Sie allen die Ohren voll, wie schlecht sie dran wären mit Ihrem ach so schrecklichen Gedächtnisschwund.“ Er vollführte eine gezierte Handbewegung und seufzte: "Ach, haben wir wieder mal vergessen, die Miete zu zahlen? Na, sowas!" Die Immergrüne ließ ein mädchenhaftes Kichern vernehmen, offenbar hatte sie die Lähmung doch besser weggesteckt als anfänglich zu vermuten gewesen war. Dann senkte der Hausmeister unvermittelt die Stimme und fuhr in gemäßigtem, verschwörerischem Ton, an die Umstehenden gewandt, fort: „Sogar umbringen wollte er sich deswegen schon. Aber sehen Sie sich diesen erbärmlichen Trottel mal an, selbst das hat er vergessen.“