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Der Fisch

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03.11.2003
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Der Fisch

Der Fisch.

Es war einmal ein Fischer an einem Fluß. Er war nicht sehr alt; nicht so alt, wie die anderen alten Fischer. Aber er fühlte sich so, nein, noch viel älter. Er hatte das Gefühl, in den wenigen Jahren seiner Kindheit kein Kind, in den wenigen Jahren seiner Jugend kein Jugendlicher gewesen zu sein. Immer beschäftigte ihn das was vorher gewesen war. Und was gewesen war, bevor er ein Kind gewesen war, das wußte er nicht, oder er konnte sich nicht daran erinnern, zu lange lag dies schon zurück. Er sagte, wenn er so nach den Vergangenheit fischte, "mein Netz ist nicht weit genug, diesen großen Fisch zu fangen. Und wäre es das, wäre es nicht stark genug, diesen Fisch zu halten". So fand er ein wenig Ruhe, ein wenig von der Einfalt, mit der alle Fischer die großen, starken Fische ziehen ließen.
Eines Tages aber warf der Fischer sein Netz aus, sein altes, gebrauchtes Netz. Es hatte Löcher, durch welche die begehrten, klugen Fische hindurchschwammen. Alle anderen Fischer sagten ihm: "Wenn ich so ein großes Netz hätte, wie würde ich es flicken, welches starke Seil würde ich nehmen, es zur Falle für den großen, starken Fisch zu machen. Sag, Fischer, schämst Du Dich nicht?" Aber der Fischer antwortete immer: "Wieso soll ich mehr fangen, als ich essen kann? Es reicht mir der Fisch, den ich fange, sei er klein oder schwach, ich werde satt.". An diesem Tag also warf der Fischer sein durchlöchertes Netz aus, sein altes, großes Netz. Die anderen Fischer begannen wieder, sich über ihn lustig zu machen, so, wie sie es immer taten, wenn der Fischer sein Netz auswarf. Aber nach einer Weile, es ging nicht lange, fühlte er das Zappeln eines großen Fisches im Netz. Er holte ein und sah, daß er einen jungen, großen Hecht gefangen hatte. Es wunderte ihn, daß dieser stolze Fisch sich nicht aus seinem Netz befreit hatte, hatte er doch trotz seiner offensichtlichen Jugend genug Kraft, dieses Netz zu zerreißen, hätte er sich nur ein wenig angestrengt.
Zuhause versuchte er, den Fisch zuzubereiten, aber da sah er, daß der Fisch noch nicht tot war.
Und der Fisch sprach zu ihm:" Bitte, Fischer, töte mich nicht, denn es war Absicht, daß ich in Dein Netz gegangen bin. Ich sah Dich aus dem Fluß und ich sah Dein Netz, Dein zerrissenes, altes Netz. Ich habe in Dir das gesehen, was ich bei den anderen Fischen nie gesehen habe; deshalb bitte ich Dich, lieber Fischer, töte mich nicht, sondern laß uns Freunde werden."
Der Fischer war verblüfft, aber er konnte sich der lieben Worte, dieser süßen Klänge des Fisches nicht entziehen, hatte er doch Vergleichbares noch nichteinmal von Menschen gehört. Er fragte den Fisch: "Sag, Fisch, was hast Du in mir gesehen, daß Du den Tod in Kauf nehmen wolltest?"
Der Fisch antwortete: "Ich habe Deine Augen gesehen. Und ich wußte, daß Du mich nicht töten wirst, weil Du Augen der Seele hast."
Der Fischer gab dem Fisch ein Becken, in das er ihn ließ. Heimlich wurde er Freund mit ihm. Keiner der Fischer wußte von dem Verrat des Fischers, keiner der Fische ahnte den Verrat des Fisches. Jeden Abend versuchte der Fischer, im Becken mit dem Fisch zu schwimmen, aber er bekam keine Luft im Wasser, so daß er immer wieder an die Oberfläche zurückschwamm. Jede Nacht versuchte der Fisch, das Wasser zu verlassen, aber seine Kiemen waren nicht für die Luft geschaffen. Beide machten sie sich nichts daraus, daß sie nicht zueinander finden konnten. Sie genossen die wenigen Augenblicke zu zweit, in denen der Mensch ein falscher Fisch, der Fisch ein falscher Mensch war.
Eine Weile schien es, als könnten sie beide glücklich sein, doch dann fragte der Fischer eines Tages: "Lieber Fisch, ich vermisse einen Gefährten. Es ist nicht, als seist Du nicht der meine, aber wir können nur immer kurze Zeit Gefährten sein, denn Du bist ein Fisch, ich ein Fischer. Eigentlich sind wir Feinde.".
Der Fisch antwortete: " Wir sind nur dann Feinde, wenn Du im Wasser bist oder ich an der Luft bin."
" Aber das sind doch die wenigen Augenblicke unseres Glücks!", trotzte der Fischer. Der Fisch sagte: " Es ist kein wahres Glück. Erinnerst Du Dich daran, daß ich durch Deine Augen Deine Seele gesehen habe? Damals war ich im Wasser. Meine Augen sind für den Fluß geschaffen. Bin ich an Land, sehe ich so verschwommen, wie Du es unter Wasser tust. Dann kann ich nur noch vertrauen, daß Du der Fischer mit den Augen bist, die ich so sehr liebe."
Der Fischer wehrte sich: " Ich zweifle nie daran, daß Du mein Fisch bist. Niemals! Ich weiß, daß Du es bist!"
Seufzte der Fisch: "Nein, es ist nicht so, mein Freund. Ich schwimme in Deinem Becken, deshalb kannst Du Dir sicher sein, daß ich es bin. Wäre ich im Fluß, würdest Du mich unter Wasser nicht erkennen unter den anderen."
Der Fischer sagte nun etwas, das er erst später verstehen sollte: "Die Liebe ist sehen, wenn man nicht mit den Augen sieht. Das ist das Göttliche in uns. Wer zur wahren Liebe fähig ist, kann sehen ohne Augen. Ich kann nicht ertragen, Dich nicht zu erkennen. Ich lasse Dich frei. Du sollst nicht meine Seele sehen, weil Du weißt, daß es in unserer Heimlichkeit nur die meine sein kann, die Du siehst. Im Fluß suche Dir einen Fisch, den Du sehen kannst. Und ich suche mir eine Frau, die ich erkennen kann."
Der Fisch wurde sehr traurig, wehrte sich aber nicht. Am nächsten Tag schon brachte der Fischer den Fisch an den Fluß. Er brachte es nicht übers Herz, den Fisch anzusehen. Gesenkten Kpfes warf er in in die Fluten und weinte. Er weinte so sehr, daß der Fluß anschwoll und den Fisch mit allen anderen Fischen flußabwärts trieb, irgendwohin.
Der Fischer fing weiter Fische, der Fisch schwamm irgendwo flußabwärts im Fluß. Beide schauten sie sich ihre Augen aus, den anderen suchend. Aber nie sahen sie den anderen. Der Fisch sah Fische im Wasser, den Feind über Wasser. Der Fischer sah Fischer oben, Beute unten.
Eines Tages kam ein großer Sturm auf. Der Fluß schwoll an, als hätten tausend Fischer an ihm geweint. Niemand war am Ufer. Das Wasser war dreckig braun, kein Fisch zu sehen. Und da berührte Gott mit beiden Händen des Fischers und des Fisches Seele. Der Fischer sprang in die Fluten, blind. Der Fisch sprang ans Ufer, irgendwo flußabwärts. Beide brauchten sie die Augen nicht zu schließen, sie sahen nichts.
Und als sie starben, sahen sie, ein jeder, blind das Auge des anderen.

© Borna Cesljarevic 1999

 

Hi, Borna.

Als ich dein Märchen las, assoziierte ich die geradlinige, liebevolle Erzählungsweise sofort mit einem Gebrüder-Grimm-Märchen und ich hoffe, in gewisser Weise ist es das, was du mit deinem Schreibstil beabsichtigste.

Zum Inhalt: Ein weiterer Zweig im "Alter-Fischer"-Märchen-Baum, doch finde ich die Idee und die inhaltliche Umsetzung sehr gut. Vor allem die Liebes-Botschaft, dass man den Anderen nicht mit den Augen sehen muss, finde ich gelungen. Desweiteren finden sich in deinem Märchen einige Wendungen, die mir sehr gefielen wie zum Beispiel: "Als hätten tausend Fischer geweint".

Zum negativen: Ich persönlich fühlte mich vom Ende der Geschichte wie "erschlagen". Du beschreibst bis zum letzten Absatz hin geduldig und souverän die Geschehnisse, doch im letzten Abschnitt klatschst du alles hin, vor Allem der letzte Satz zeugt davon.

Fazit: Gute Geschichte, gute Umsetzung, jedoch verbesserungswürdiges Ende.

Auf gutes Schreiben.

Halbarad

 

Da kann ich mich Halbarad nur anschließen...
Die Absätze sind übrigens toll *thumbs up*

 

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