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Der Fisch mit den Knopfaugen

Seniors
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06.02.2001
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Der Fisch mit den Knopfaugen

DER FISCH MIT DEN KNOPFAUGEN

Tiefe Stille herrscht im Wasser,
Ohne Regung ruht das Meer,
Und bekümmert sieht der Schiffer
Glatte Fläche rings umher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuern Weite
Reget keine Welle sich.

--- Johann Wolfgang Goethe ---

1. Juni 1995
Wenn ich das hier schreibe, liegt das Schlimmste noch vor mir. Die Zeit heilt alle Wunden – hat mal wer gesagt - aber das ist nicht wahr.
Mein Kopf ist schwer, meine Augen brennen vom vielen Weinen – und ich höre immer noch die Stimme meines kleinen Bruders... Ich höre ihn direkt aus mir heraus schreien. Er schreit: „KANNST DU IHN SEHEN? KANNST DU DEN FISCH SEHEN?!“
O mein Gott. O mein Gott, ich glaube nicht, daß ich dazu bereit bin; ich kann es mir noch nicht von der Seele schreiben, so, wie Doktor Monte es gesagt hat.
KANNST DU IHN – schrie mein kleiner Bruder Felix, am 1. Juli 1965.
KANNST DU IHN SEHEN?!
Ja, Felix. Ich kann ihn sehen, bei Gott, ich kann ihn nicht nur sehen, ich kann ihn auch spüren.

6. Juni 1995
Doktor Monte ist ein wirklich hartnäckiger Bursche; er läßt einfach nicht locker.
„Schreiben Sie“, sagt er. Ich muß immer an das Funkeln seiner Brillengläser denken. Ich glaube, er hat ein Dutzend Brillen zu Hause – und manchmal kommt es mir wirklich so vor, als würde er sie täglich auswechseln...
Doktor Monte ist schon seit `93 mein Arzt. Ich leide unter Depressionen. Mein Arm tut mir immer weh – mein linker Arm. Es heißt, daß ich mir das nur einbilde – aber das ist nicht wahr. Mittlerweile ist Doktor Monte für mich mehr als nur ein Arzt – er ist mir ein Freund geworden.
Trotzdem habe ich ihm nie von Felix und dem 1. Juli 1965 erzählt. Das hat Klara für mich getan - o Klara! Sie ist meine Frau... Na ja, eigentlich ist sie vielmehr meine Freundin, denn wir haben nie geheiratet. Unsere Konfessionen passen nicht zusammen. Und ihre strenggläubige Familie hat damals, als wir ans Heiraten dachten, mit ihr gebrochen. Ich habe sie angefleht, zu ihr zurückzukehren – aber sie wollte nicht.
Sie wollte ja lieber bei mir bleiben. Selber Schuld. Haha.
„Ben“, sagte sie und zwang mich, ihr in diese traurigen, unschuldigen Rehaugen zu sehen. Ich wollte etwas erwidern, aber sie legte mir einen Finger auf die Lippen. „Ben, ich werde bei dir bleiben, es sei denn, du schmeißt mich vor die Tür. Aber sei gewarnt; dazu gehört schon Einiges. Ich bin gar nicht so zerbrechlich, wie du mich vielleicht gern hättest.“
Ich mußte lächeln und schließlich lachten wir zusammen. Ich habe ihre Eltern nie zu Gesicht bekommen und als uns die Nachricht ihres Todes erreichte – Doppelselbstmord -, fühlte sie sich schuldig und verreiste ein paar Tage: sie wollte bei der Beerdigung von ihnen Abschied nehmen. Ich blieb zu Hause.
Ich war damals davon überzeugt, daß sie nie mehr zu mir zurückkommen würde. Ich sah ihr an der Haustür nach – ich sah, wie sie in das Taxi stieg und mir einen letzten Blick zuwarf – diese traurigen, rehbraunen Augen... Ich würde sie nie mehr wiedersehen, o ja. Nie, nie mehr wieder...
Aber ich irrte: Nach einer Woche stand Klara wieder vor der Tür und ich weiß noch, was sie rief, noch ehe ich die Treppe hinunter geeilt war, um ihr zu öffnen. Ich hatte sie vom Schlafzimmerfenster aus kommen sehen.
„Du wirst mich so leicht nicht los, Ben! Falls du ein Mädchen bei dir haben solltest, versteck‘ sie gut, denn ich komm jetzt gleich rauf...“
Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloß – und ich riß gleich darauf die Tür auf, um sie in die Arme zu schließen.
„Klara“, flüsterte ich. „Ich dachte, du kommst nie mehr...“
Sie erwiderte die Umarmung und als es ihr zu sentimental wurde, stieß sie mich zur Seite, packte ihre Koffer und eilte mit einem „Verdammt, wie sieht’s denn hier aus? Männer! Zu allem unfähig!“ ins Haus.
Ich hab sie seitdem nie mehr wirklich losgelassen. Sie ist mein Leben. Nein, sie ist mehr als das für mich geworden.

8. Juni 1995
Ich hab Doktor Monte erzählt, daß ich über alles Mögliche schreibe, nur nicht über Felix und den Fisch. Er sagt, das sei ganz normal und ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Das sagt er aber immer und ich weiß nicht recht, ob ich ihm glauben soll oder nicht... Aber okay, er ist der Arzt – ich vertraue ihm. Ich habe ihm allerdings nicht immer vertraut. Anfangs habe ich ihn noch nicht mal für voll genommen.
Monte ist nicht nur Arzt, sondern auch Psychiater. Jedenfalls für mich – haha. Er ist ein außergewöhnlicher Mann mit einer außergewöhnlichen Vergangenheit – aber keine Sorge, mir hat er nie viel davon erzählt. Nur manchmal läßt er Bruchstücke eines vergangenen Abenteuerlebens fallen, die „keinen was angehen“, die er aber trotzdem gerne erzählt... Er sagt immer: „Die Vergangenheit eines Menschen erkennt man an seiner Nasenspitze.“
Nun, dann hoffe ich mal, daß meine Nase nicht allzu verkrüppelt ist.

9. Juni 1995
Allmählich gewöhne ich mich ans Schreiben – ist das nicht komisch? Man hört ja immer wieder, daß das die Seele reinigen soll... Man sagt Worten allgemein immer mehr Macht zu, als sie tatsächlich haben. Zumindest sehe ich das so.
Von meinem Fenster aus kann man noch eine richtige Landschaft sehen – es ist einfach alles so, wie es früher gewesen war; hier und da ein paar Baumkronen, Hügel, Getreide-, Kartoffel- und Maisfelder, soweit das Auge reicht. An der Stelle, an der es passiert ist, ein kleiner Wald – der aber nicht der Rede wert ist. Hauptsächlich sehe ich Bahnschienen. Es könnte ein Urwald vor mir liegen, ich würde diese bedrohlichen, häßlichen Bahnschienen trotzdem sehen.
Seit meinem 15. Lebensjahr verfolgen sie mich. Ich komme mir selbst wie ein Zug vor... Ich komme mir grausam, unberechenbar, schnell und furchtbar lang vor... Ich – ach scheiße.
Ich bin seit meinem 15. Lebensjahr auch nicht mehr mit dem Zug gefahren – ja, warum eigentlich? Ich glaube, man könnte behaupten, ich hätte sowas wie `ne Phobie bekommen; ich kann es einfach nicht. Da brauche ich gar nicht Montes Rat zu hören, ich weiß selbst, warum ich es nicht kann.
Einmal habe ich es trotzdem versucht – da war ich 23 oder so. Schrecklich; diese vielen Leute auf engem Raum... Aber das Schlimmste ist das Kreischen der Bremsen, wenn der Zug hält. Mein Gott, wie das quietscht! Wie das in den Ohren WEH TUT... Ich kann es nicht beschreiben. Vor allem, weil ich dann immer an Felix denken muß. An meinen kleinen Bruder, der damals...
Aber ich glaube, das geht zu schnell. Ich sollte langsamer an die Sache heran gehen.
„Nur nichts überstürzen“, sagt Klara immer. Nur immer ganz ruhig bleiben...
„Vielleicht sind die Erinnerungen noch zu frisch“, habe ich zu Monte gesagt.
„Sie sind jetzt 45 Jahre alt. Damals waren Sie 15 Jahre alt. Wie alt wollen Sie noch werden, bis Sie endlich mit der Vergangenheit Frieden schließen?“
Wie soll ich mit etwas Frieden schließen, das mein Leben zerstört hat? Das MICH zerstört hat? Das mir ALLES geraubt hat? Wie soll ich das können?
Aber ich weiß; er hat ja so recht. Trotzdem glaube ich nicht, daß er die Seelenqual der ganzen Sache wirklich ermessen kann.
Oder ich rede es mir ein, daß er das nicht tun kann. Ich verschanze mich in meinen Schmerzen.
Aber ich werde darüber reden. Irgendwann werde ich es schaffen, da bin ich ganz sicher...
12 Uhr. Klara, der Doktor und ich gehen jetzt gleich zum Unfallort. Ich bin gespannt, was vom Teich noch übrig geblieben ist. Sie wollten ihn heute morgen zu betonieren und einen Försterparkplatz draus machen. Ist mir wirklich nur recht.
Hoffentlich haben sie ihn ausgelöscht, denn das ist ein Teich des Bösen, des Schlechten, des...
Es klopft an der Tür.

10. Juni 1995
Ich war mit meiner Frau und Doktor Monte am Teich. Sie haben ihn ordentlich zu betoniert. Vor ein paar Tagen suchte mich noch ganz deutlich die Vergangenheit heim – sie überrollte mich förmlich mit ihrer Wucht und riß mich zu Boden.
Ich kann mich dran erinnern, wie ich am Teich gestanden habe; allein. Monte und Klara hatten abseits auf mich gewartet.
„Sie müssen versuchen, das mit sich selbst auszumachen. Wenn Sie Hilfe brauchen... Wir sind da drüben...“
Ich war dort gestanden und ich hatte nachgedacht. Viel nachgedacht. Und plötzlich war mir, als sähe ich diesen riesengroßen, orange schimmernden Fisch wieder. Als sähe ich seine großen Knopfaugen, die auf mir ruhten, wie sie, als ich 15 war, auf mir geruht hatten.
Diese Kälte. Der größte Fisch der Welt.
„Hey, Felix – komm her! Komm mal her! Das ist vielleicht ein Fisch! O mein Gott, das ist der größte Fisch der Welt!!!“
Ich erinnerte mich so gut daran, als wäre es erst gestern gewesen; der riesige Fisch, der Zweidrittel des Teiches einnahm. Der riesige Fisch, der meinen Blick fesselte.
Als Felix das erste Mal kam, war er verschwunden.
„Ich seh‘ nichts ich seh‘ nichts, Ben! Ich kann ihn nicht sehen! Wo ist er hin? Du hast doch nicht gelogen, oder, Ben? Sowas würdest du doch nicht tun, oder, Ben?“
Mein kleiner Bruder ließ sich auf die Knie fallen und beugte sich weit über das Ufer.
Ich packte ihn am Kragen und zog ihn zurück.
„Bei aller Liebe, aber du darfst das nicht machen! Du könntest reinfallen und von dem riesigen Fisch gefressen werden!“
„Das war kein Märchen, Ben?“
„Nein, Gottverdammt, wieso sollte ich dir Märchen erzählen? Du bist doch schon ein großer Junge!“

Stolz blitzte in seinen Augen. Unsicherheit in den meinen; war man mit sechs Jahren schon ein großer Junge? Ich war mir nicht ganz sicher.
Wir stellten Wachen auf. Natürlich war das eine einseitige Geschichte; nur er und ich. Die meiste Zeit saß ich am Teich und starrte hinein – immer in der Hoffnung, den Fisch wieder zu erblicken und ihn meinem kleinen Bruder zu zeigen. Der freute sich riesig und malte sich den Charakter des Fisches bereits aus: „Er ist ein Prinz, Ben. Ist er ein Prinz?“
Felix lag im Gras neben dem Teich und starrte in die Sonne.
„Woher soll ich wissen, was er ist?“
„Oder wer er ist...“
„Ja, oder wer er ist.“

Wir schwiegen. Ich wiegte mich vor und zurück. Es wurde dunkel. Wir hörten zig Züge an uns vorbeirauschen, denn die Bahngleise waren kaum zwanzig Schritte von uns entfernt.
„Meinst du, der Zug erschreckt ihn?“ hat mich Felix gefragt.
„Ich glaube nicht. Er lebt hier doch schon seit er ein kleines Baby ist.“
Das hatte ihn damals beruhigt und er lehnte seinen kleinen Kopf an meine Schulter.
In diesem Moment sah ich etwas Orangegelbes im Wasser blitzen. Ich stieß Felix an, der am Einnicken gewesen war, und deutete mit dem Finger in den Teich.
„Da! Da ist er! Sei leise... psst, sei leise, sonst erschreckst du ihn.“
Felix richtete sich natürlich sofort auf – und tatsächlich; diesmal sah auch er ihn.
Obwohl mich der Fisch faszinierte, weil er so unheimlich groß war und so wahnsinnig edel aussah, mußte ich den Blick von ihm abwenden – und meinen kleinen Bruder mustern; seine Kinnlade war herunter gerutscht, seine Augen drohten ihm aus den Höhlen zu kullern und ich hätte beinahe laut aufgelacht, als er seinem Bauch ein tiefes „Oh“ entlockte. Das war so goldig! Das war so niedlich! So süß!
Ich mußte lächeln und widerstand dem Bedürfnis, ihn ganz fest an mein Herz zu drücken.
„Oh“, machte er.
Als ich wieder hinsah, war der Fisch verschwunden, aber Felix hörte immer noch nicht auf, „Oh“ zu machen und in den Teich zu starren.
„Na, jetzt ist‘s aber genug, Felix. Laß uns nach Hause gehen.“
„Darf ich Mama davon erzählen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Das ist unser kleines Geheimnis, okay? Das ist ein Geheimnis, das nur uns gehört, ja?“

Ich konnte mir denken, daß Ma nicht sehr erfreut davon wäre, wenn sie erführe, daß wir uns hier so nah an den nicht mal abgezäunten Bahnschienen herumtrieben. Und dann auch noch ganz in der Nähe eines Teiches! Ich war zwar schon fünfzehn Jahre alt, aber das spielte für sie keine Rolle; sie gehörte zu den Müttern, die ewig und immer angst haben, egal, was man tut.
Und deshalb wollte ich nicht, daß Felix mit seinen blitzenden Augen, seiner kindlichen Freude, es ihr erzählte. Weil ich wußte; das kleine Abenteuer, das gerade begonnen hatte, wäre sofort wieder zu Ende gewesen.
„Laß uns jetzt nach Hause gehen“, sagte ich und verwuschelte ihm das Haar.
„Wer zuerst bei der Straße ist, hat gewonnen!“ schrie er und rannte entzückt los.
Das tat er immer an dieser Stelle. Immer, wenn ich sagte „Laß uns jetzt nach Hause gehen“, fing er an, wie hysterisch los zu rennen. Manchmal stolperte er dabei über seine eigenen, kleinen Füße – aber nur einmal hatte es ihn der Nase nach auf den steinigen Feldweg gehauen.
Heute blieb ich stehen, anstatt ihm hinterher zu hechten. Ich blieb stehen und sah ihm zu.
Natürlich würde ich ihn einholen, ich hatte ihn immer eingeholt.
„Wo bleibst du denn? Hä? Wo bleibst du denn, Ben? Wo bist du? Ich bin fast DA!“ kreischte er über die Schulter.
Ich beschloß, ihn mal gewinnen zu lassen und setzte gaaaanz langsam einen Fuß vor den anderen.

11. Juni 1995
„Ich hab angefangen, darüber zu schreiben“, hab ich heute morgen beim Frühstückstisch zu Monte gesagt.
„Das ist ja großartig!“ - gab er mir mit einem heftigen Nicken zur Antwort. „Schreiben Sie weiter. Schreiben Sie alles am Besten an einem Stück auf – dann fällt es Ihnen leichter.“
„Scheiße“, flüsterte ich daraufhin und erntete einen besorgten Blick von Klara.
„Was ist los?“ fragte der Doktor.
„Wissen Sie, wie viele Rechtschreibfehler ich machen werde, wenn ich es an einem Stück aufschreibe?“
Sie lachten. Ich ging auf mein Zimmer und wollte schreiben. Aber dann hat mich ganz plötzlich die Erschöpfung heimgesucht (das kommt vermutlich von den Anti-Depressiva-Tabletten, die ich schlucken muß) und ich konnte mich gerade noch bis zu meinem Bett schleppen. Ich hab zwei Stunden geschlafen – dann wurde ich durch ein Klopfen an der Tür geweckt.
„Ben, bist du gut vorangekommen?“
„Ja, Liebes“, flüsterte ich ins nasse Kissen. Ich hatte es doch tatsächlich wieder vollgesabbert. Alte Angewohnheit von mir.
„Ben?“
„Ja, Liebes“, sagte ich jetzt etwas lauter.
„Gut. Das ist wirklich gut. Ich geh‘ mit Monte ein bißchen spazieren. Kannst du ungestört arbeiten? Brauchst du irgendwas?“
„Nein, danke.“
Ihre Schritte verhallten auf dem Gang.
Wir hatten Einzelzimmer, weil Monte darauf bestanden hatte. Er sagte, das sei wichtig für die Therapie... und lauter so Zeug.
Sie geht mit Monte spazieren... Sie geht mit Monte spazieren... schoß es mir die ganze Zeit durch den Kopf. Ich stand auf und setzte mich an den Schreibtisch.
Ich schrieb auf ein leeres Blatt Papier: „Sie geht mit Monte spazieren“, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb.
Das ist meine Privattherapie gegen Eifersucht.
Ich setzte den Stift an und legte los.

Ich hatte in der Schule nie viele Freunde gehabt. Die Leute mochten mich nicht, weil ich ein unruhiger Kerl war, der mit den Gedanken nicht lange an einem Ort bleiben konnte... Jedenfalls nicht, wenn er nicht wollte. Ich ließ die Menschen nicht an mich heran, was meine Eltern oft dazu zwang, mit meinen Lehrern zu reden.
Aber das war mir egal. Für mich gab es immer nur die Familie; für sie tat ich alles. Und mein Bruder? Mein Bruder war mein bester Freund. Mein kleiner, bester Freund. Er war etwas ganz Besonderes, das konnte ich spüren.
Monte hätte jetzt wahrscheinlich auf seine Nasenspitze getippt und gesagt; „der Charakter eines Menschen kann man an seiner Nasenspitze ablesen.“
Felix hatte eine Stupsnase und wunderschöne, hellblaue Augen. Ich hätte gern gewußt, was Monte zu ihm gesagt hätte. Felix hatte blondes Haar – ganz im Gegensatz zu mir. Ich erfuhr erst später, daß wir nicht denselben Vater hatten... Aber das spielte keine Rolle. Es hätte auch damals keine Rolle gespielt.
Wir gingen in der darauffolgenden Woche, nachdem wir den Riesenfisch entdeckt hatten, jeden Tag zum Teich. Meistens wartete Felix zu Hause auf mich – er war noch nicht eingeschult worden und würde sehr wahrscheinlich auch erst in einem Jahr eingeschult werden. Manchmal holte er mich aber auch von der Schule ab – natürlich immer in Begleitung unserer Ma. Aber meistens war er zu Hause und begrüßte mich mit seinen ausgebreiteten Kinderärmchen schon an der Eingangstür und ich mußte mit ihm dann immer eine Runde Bauklötze und „Schwarzer Peter“ spielen. Ätzend!
Wir saßen stundenlang neben dem Teich und starrten hinein. Selbst der Regen machte uns nicht viel aus; ich legte meine Jacke um uns beide und so saßen wir dann da, bis es wieder aufhörte. Wenn es schlimmer wurde, dann rannten wir lachend nach Hause – und kamen sofort wieder, wenn der starke Regen in Nieselregen überging.
Ma sah das natürlich nicht gerne, aber was konnte sie schon tun? Wir waren Kinder, wir hatten es uns in den Kopf gesetzt, jeden Tag auf Entdeckungsreise zu gehen – und das mußte sie dulden.
Sie tat es auch. Zumindest am Anfang.
Lachend rannten wir durch die Stadt auf den Feldweg zu, der uns zum Teich führte.
„Heute sehen wir ihn! Heute sehen wir ihn wieder!“ schrie Felix am 1. Juli 1965, als wir den Feldweg passiert hatten. Er war voller Euphorie; seine Augen blitzten und strahlten vor Glück und Freude. Er breitete die kleinen Kinderarme weit aus, fiel hin und kam mit ein paar Purzelbäumen, die sehr schmerzhaft aussahen, zum Stehen.
„Hast du dir was getan? Verdammt, Felix, du sollst hier nicht immer rumrennen wie ein Irrer! Hast du dir was getan?“ Ich kniete mich neben ihn.
Er sah mich mit seinen großen, blauen Augen an und streckte mir die Zunge heraus.
„Nein! Neeeinnn! Ich will den Fisch sehen...“ Mit diesen Worten robbte er sich bis zum Teich vor und blieb dort schweigend liegen. Ich rollte mit den Augen und tat es ihm gleich.
„Heute werden wir ihn sehen“, wiederholte er. Aber er würde ihn nicht sehen. Ich würde ihn sehen – nein, nicht nur sehen, sondern auch spüren.

13. Juni 1995
Morgen gehen wir wieder nach Hause. Bis jetzt hat es nicht viel geholfen und ich weiß nicht, ob es wirklich richtig war, hier her zurückzukommen... Ich weiß auch nicht, woher Monte wußte, daß sie den kleinen Teich zu betonieren würden... Den alten, kleinen Teich, nicht weit von den Bahnschienen entfernt, die mittlerweile übrigens eingezäunt sind. Ich hab den Doktor heute morgen gefragt, warum er glaubt, daß es wichtig für mich gewesen wäre, hier her zu kommen... Er hat eine Weile geschwiegen und daraufhin geantwortet: „Sie schreiben darüber. Ich weiß nicht, ob Sie das auch getan hätten, wenn wir nicht hier her gekommen wären.“
„Bestimmt“, sagte ich. Er schwieg.
Morgen ist es dann soweit. Heute werde ich es zu Ende bringen – und morgen werde ich endgültig damit abschließen. Ein für allemal.
Sind tagsüber auch Sterne am Himmel? fragte mich Felix, als wir uns in meinen Winterferien zusammen unter seine Bettdecke gekuschelt hatten. Ich weiß noch, wie ich ihm damals „Die Schatzinsel“ von Robert Lois Stevenson vorgelesen hatte...
Ich denke schon, antwortete ich ihm.
Und warum sieht man sie dann nicht?
Weil es hell ist. Die Sterne siehst du nur im Dunkeln.
Warum ist das so, Ben?
Ich weiß es nicht.
Doch, du weißt es.
Warum sollte ich es wissen?
Du weißt alles, Ben.
Nein.
Doch.

Warum fällt mir das jetzt wieder ein? Es ist schon so lange her. Es muß begraben werden – wie alles andere auch. Es muß mit der ganzen Vergangenheit begraben werden.
Noch heute. Heute. Heute. Heute.
Ich möchte es nicht mit nach Hause nehmen. Ich möchte mit Klara von vorn anfangen und das kann ich nur, wenn ich mit der Vergangenheit Frieden schließe.
Ob sie heute auch wieder mit Doktor Monte spazieren geht?

Es geschah am 1. Juli 1965. Ich werde diesen Tag nie mehr vergessen. Ich werde nie mehr Felix‘ Gesicht vergessen... Seinen letzten Blick... Seine letzten Worte...
Aber von vorn; wie ich vorhin ja schon erzählt habe, begrüßte mich Felix an der Eingangstür... wir gingen dann hinunter zum Teich... Er stürzte und schließlich unterhielten wir uns wieder über diesen Riesenfisch:
„Ich glaub immer noch, daß er ein Prinz ist“, sagte mein kleiner Bruder.
„Kann ja auch sein.“ Ich war zwar schon 15 Jahre alt, aber ich wollte Felix nicht die Freude an Märchen nehmen.
„Heute sehen wir ihn.“
„Das hast du jetzt schon viermal gesagt. Abwarten.“
„Ich WEISS, daß wir ihn heute sehen...“

Das Funkeln seiner Augen. Am Anfang unserer Entdeckung habe ich es für kindliche Freude gehalten, jetzt fiel mir auf, daß es doch etwas anderes war... Zumindest vermischte es sich mit etwas Anderem; Felix war besessen von dem Gedanken, den Fisch zu sehen. Vielleicht wollte er ihn auch spüren, ich weiß es nicht – soweit ist es ja nicht gekommen... Aber er wollte ihn auf alle Fälle noch mal sehen.
„Was ist, wenn wir ihn einfach fangen?“
„Was?“
fragte ich ihn verblüfft.
„Wir fangen den Fisch, ziehen ihn heraus und schauen ihn uns dann an. Dann tun wir ihn ganz schnell wieder in den Teich, damit er nicht stirbt.“
Ich konnte mir nur mit Müh und Not das Lachen verkneifen.
„Wir können ihn doch gar nicht fangen. Wir haben nicht die richtigen Geräte dazu. Außerdem würde er sofort sterben. Und weil er so riesig ist... könnten wir ihn doch gar nicht an Land ziehen. Und stell dir vor, wir hätten ihn an Land; wie sollen wir ihn dann wieder ins Wasser kriegen?“
Felix zog die Unterlippe vor und schmollte. Aber er wußte, daß ich recht hatte. Und deshalb schwieg er.
„Er wird schon kommen, keine Sorge“, versuchte ich ihn aufzumuntern.
„Vielleicht sollten wir ihm was zu essen geben?“ fragte Felix, der für seine sechs Jahre schon ein ziemlich heller Kopf war.
„Wir haben nichts dabei.“
„Ich laufe nach Hause und hole was...“
Er richtete sich schon auf, als ich ihn am Arm packte und zu Bedenken gab: „Du weißt doch gar nicht, was er frißt. Er kann doch genauso gut Fleischesser sein.“
Okay, das war wirklich Quatsch - aber mir fiel nichts Besseres ein. Ich hatte das Gefühl, auf Felix wirklich aufpassen zu müssen. Das Funkeln in seinen Augen gefiel mir gar nicht.
Er setzte sich wieder hin. Ich lag neben ihm. Wir schwiegen ein paar Minuten, dann stand er erneut auf.
„Ich will hier nicht blöd rumsitzen und warten.“
„Was willst du dann tun?“
„Ich geh ein bißchen spazieren... Nicht weit, du mußt mir schreien, wenn du ihn siehst. Ich bin dann ganz schnell wieder hier.“

Diese Idee gefiel mir auch nicht. Aber ich fand sie immerhin besser als die, daß er ganz alleine nach Hause rennt...
Er war auch schon losgestürmt; ich drehte mich um, da sah ich ihn schon zum Waldrand laufen. Ich lächelte.
Dann schrie ich ihm hinterher: „Aber nicht zu lange, verstanden? Du bist in fünfzehn Minuten wieder da!“
„JA!“
brüllte er zurück.
Das war das letzte Mal, daß ich meinen Bruder neben mir liegen hatte.

Ich starrte in den ersten Minuten mehr lustlos in den Teich. Irgendwann wurde mir das zu blöd und ich wühlte ein bißchen in der Erde neben mir herum. Immer mal wieder warf ich dann ein paar Erdbrocken in den Teich und sah zu, wie sie versanken.
Ich wußte, daß ich so wohl kaum den Fisch jemals wiedersehen würde. Weder ich noch Felix würden ihn sehen, wenn wir mit Erde nach ihm warfen. Also hörte ich damit auf. Zwar mit einem überdeutlichen Seufzer, aber ich hörte damit auf.
Ich umklammerte meine Beine mit beiden Armen und wiegte mich vor und zurück – den Kopf stützte ich auf die Knie und starrte in den Teich.
„Lalalala“, summte ich lustlos vor mich hin.
Und plötzlich... Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber plötzlich sah ich etwas Orangenes vielleicht ein oder zwei Meter unter der Wasseroberfläche vorbei huschen.
Mein Gott, spätestens jetzt hätte ich handeln müssen. Spätestens jetzt hätte ich aufspringen und nach Felix rufen müssen...
... aber ich tat es nicht. Warum? Das ist ein Warum, das mich Zeit meines Lebens verfolgt. Das mich seit dem 1. Juli 1965 verfolgt und auffrißt... Ich habe nie verstanden, wie ich damals einfach nur auf die Knie gehen und mich über den Teich beugen konnte... Ich weiß es selbst jetzt noch nicht. Ich weiß nur, daß in mir etwas danach verlangte, diesen Fisch wieder zu sehen.
Und ich glaube, ich sah genauso aus wie Felix, als er den Fisch zum ersten Mal gesehen hatte... Ich war fasziniert... Ich hatte das Verlangen, ihn wieder zu sehen, ihn vielleicht sogar zu spüren...
Vielleicht rief ich deshalb nicht nach Felix. Hätte ich es doch getan... Hätte ich...
Plötzlich kam der orangegelbe Fisch bis an die Wasseroberfläche. Er war so schön! So unglaublich schön! Seine großen Kiemen... Sein aufgerissener Mund! Aber das Schönste an ihm waren seine Augen; seine großen Knopfaugen... Sie sahen nicht wie Fischaugen aus. Nein, sie sahen eher wie Menschenaugen aus, sie...
--- zogen mich in ihren Bann. Und ehe ich mich versah, entlockte ich meiner Seele ein „Oh“. Ein großes „Oh“, ein...
Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich kann nicht beschreiben, wie unglaublich fasziniert ich damals gewesen war. Wie... hingerissen. Wie... mitgerissen... Ich kann es nicht. Ich habe geglaubt, ich könnte es, aber ich kann es nicht. Ich...
Der Fisch ging nicht weg. Selbst, als ich meinen Arm ausstreckte und ins Wasser tauchte, ging er nicht weg. Schwamm er nicht davon. Er blieb, wo er war. Seine Knopfaugen ruhten auf mir.
„Oh“, entfuhr es mir.
Und dann berührte ich ihn. Dann berührte ich ihn an der glatten, leicht schuppigen Stelle zwischen den Augen, die nicht auf der Seite waren, wie bei anderen Fischen, sondern mitten in seinem GESICHT. Das war kein Fischgesicht, das war...
In diesem Moment hörte ich Schreie. Ich hörte meinen Bruder. Ich drehte den Kopf ärgerlich, fast widerwillig in Richtung Wald – aber da war er nicht.
Ich spürte, wie der Fisch mir entglitt und davon schwamm... Ich wagte aber nicht, hinzusehen.
Ich drehte den Kopf in Richtung Bahnschienen.
Und da stand er.
Da stand er und hielt sich den Arm. Verdammt, er stand mitten auf den Schienen!
„FELIX! MEIN GOTT KOMM DA RUNTER! KOMM DA RUNTER!!!“ brüllte ich und sprang auf die Füße.
Das Quietschen des Zuges, wenn er am Halten ist. Der viele Rauch, der in den Himmel steigt. Die großen Räder, die auf einen zu eilen...
Felix gehorchte mir nicht. Er sah mich nur an – aus verweinten Augen. Er preßte einen Arm an seine Brust und hielt ihn mit der anderen Hand umklammert.
„Es hat mich gebissen“, sagte er traurig.
„KOMM DA RUNTER! KOMM DA RUNTER FELIX, GOTT, KOMM DA RUNTER!!!!“ Das war der Auslöser; ich setzte mich in Bewegung. Ich rannte in seine Richtung. Es war ja nicht weit.
Der Zug. Der Zug. Der Zug. Das Quietschen. Die großen Räder. Und Felix auf den Schienen.
Mein Gott...
Felix sah mich wieder an, diesmal lächelte er.
Mein kleiner Bruder. Mein kleiner, unschuldiger Bruder. Was hat dich gebissen? Was hat dir weh getan? Was hast du an den Bahnschienen zu suchen gehabt? Warum bist du nicht gesprungen? Gott, warum hast du nicht gemacht, daß er springt? Warum hast du zugelassen, daß er...
„Kannst du ihn sehen? Kannst du den Fisch sehen, Ben?“
Seine Augen. Sein Blick. Sein trauriges Lächeln.
Seine Augen waren wie die des Fisches gewesen. Jetzt erinnere ich mich. Er hatte für den Moment die gleichen, großen Augen gehabt. Sie waren nicht mehr blau, sie waren...
„Kannst du ihn sehen? Kannst du den Fisch sehen, Ben?“
Ich rannte, stolperte und ging zu Boden – ein paar Meter vom Unglück entfernt, haute es mich hin. Ich kniete. Ich breitete meine Arme aus und brüllte verzweifelt: „Spring! Spring doch!“
Aber der Zug war schon da. Felix hätte es nicht mehr geschafft, selbst, wenn er es gewollt hätte:
Der Zug erfaßte seinen kleinen, unschuldigen Kinderkörper und schleifte ihn noch etliche Meter mit sich, ehe er grausam quietschend zum Stillstand kam.

14. Juni 1995
Wir befinden uns auf dem Nachhauseweg – im Zug. Hergekommen sind wir mit dem Taxi. Zurück wollten wir mit dem Zug. Das war von Anfang an Montes Plan gewesen – ‚Wenn ich dich erst mal soweit habe, daß du wieder Zug fährst, dann haben wir gewonnen!‘ muß er sich gedacht haben. Zumindest etwas Ähnliches.
Nun, ich habe zugestimmt. Ich habe ja nichts mehr zu verlieren.
„Weil Sie’s sind“, hab ich gelacht, als wir vor der Tür unseres Hotels standen und noch ein bißchen das Taxi warten ließen, das uns zum Bahnhof brachte. Klara fiel mir in die Arme vor Glück und Freude.
„Er hat seinen Frieden gemacht... Scheiße, er hat endlich seinen Frieden gemacht!“ flüsterte sie mir immer wieder in den Nacken. Ich mußte die Tränen unterdrücken und mit Mühe mein Lächeln auf den Lippen behalten.
Monte aber erlöste mich aus diesem Mienenspiel, in dem er den Kopf abwandte und sich wieder um die Brille auf seiner Nasenspitze kümmerte.
„Wir werden uns nicht mehr sehen, nicht wahr?“ fragte ich den Arzt. Klara hatte sich soweit wieder unter Kontrolle; sie stand nun neben mir.
„Nein“, sagte er und putzte seine Brille. Sein Gesicht wirkte abgespannt und leer, als er mich ansah.
„Brauchen Sie das, was ich aufgeschrieben habe?“
„Nein“, sagte er wieder und setzte die Brille zurück auf seine Nase. „Ich bin nicht sicher, ob ich es lesen will. Nein... das ist so nicht ganz richtig; ich weiß, daß ich es nicht lesen will. Behalten Sie es oder werfen Sie es weg.“
„Ich glaube, das wäre zumindest Stoff für eine Kurzgeschichte“, sagte ich und lachte.
Ich drückte Klaras Hand und warf ihr einen dankbaren Blick zu.
„Ja“, meinte Monte. „Ja, bestimmt... Kommen Sie, lassen Sie uns jetzt nach Hause fahren.“
„Mit dem Zug“, sagte ich.
„Du schaffst das schon, Liebling“, sagte Klara. „Du bist schon so weit gegangen, du schaffst auch die letzten Meter – nach Hause...“ Sie hatte angst, ich könnte im Zug durchdrehen.
„Doktor?“
„Ja?“
„Woher haben Sie das gewußt... Woher haben Sie gewußt, daß der Teich zu betoniert wird? Woher haben Sie gewußt, daß wir... daß es mir helfen würde, hier her zurück zu kommen?“
Monte schnappte sich seine beiden Koffer und wollte auf das Taxi zugehen, das wir uns gerufen hatten und das uns zum Bahnhof bringen sollte. Der Fahrer war schon ausgestiegen und wollte seiner Wut freien Lauf lassen... --- Wir ignorierten ihn.
Doktor Monte drehte sich zu mir um, nachdem er eine halbe Ewigkeit einfach so dagestanden hatte. Er drehte sich um und sah mir tief in die Augen.
Ich erschrak bei seinem Anblick. Diese Augen... Diese Augen... Sie erinnerten mich plötzlich an den riesigen Fisch im Teich. An Felix‘ Fisch... An Felix‘ Augen...
Monte legte den Kopf schief und sagte: „Ich bin nicht nur Doktor, Ben, ich bin auch Psychiater und Mensch.“
Dann war der Moment vorbei; er drehte sich um und ging langsam auf das Taxi zu. Klara drückte meine Hand und ließ sie dann los – sie hob ihren Koffer auf und machte ein paar Schritte, ehe sie stehenblieb und mich fragend ansah.
„Kommst du?“
„Ja“, sagte ich und mir war, als wäre ich soeben aus einem schlechten Traum erwacht. „Ja, natürlich, Schatz. Geh‘ ruhig schon voraus.“
Seine Augen... Felix‘ Augen... Die Augen des Fisches, der nun tot war. Der tot sein mußte...
Ich packte meinen Koffer ebenfalls und stieg als Letzter in das Taxi ein.
„Doktor?“
„Ach, nennen Sie mich doch endlich mal beim Vornamen.“
„Okay... Ähm... Doktor?“
„Was denn nun schon wieder?“
„Wie ist Ihr Vorname?“
„Himmelherrgott, das wissen Sie nicht? Sie kommen zwei Jahre lang in meine Praxis, machen mit mir diesen wundervollen Ausflug und wissen meinen Vornamen nicht? Ja sowas aber auch!“
„Beruhigen Sie sich, Doktor“, warf Klara ein.
„Ich heiße Harald. Schreiben Sie es sich hinter die Löffel, ja? Harald F. Monte – alles klar?“
„Ja.“
„Gut. Dann können wir ja jetzt die Landschaft genießen.“
„Und die Zugfahrt“, sagte ich. „Und die Zugfahrt zurück nach Hause.“

1. Juli 1995
Ich sitze schon den ganzen Tag über auf Kohlen. Nachher werden Klara und ich zu Felix‘ Grab gehen, wie immer am 1. Juli. Er wäre heute 36 Jahre alt, wenn er noch leben würde. Sein Geburtstag war der 1. März 1959.
Ich habe in letzter Zeit, seit der Sache mit unserem kleinen Ausflug, nicht mehr so oft an ihn gedacht. Einerseits überkommen mich Schuldgefühle deshalb, andererseits spüre ich, wie gut es tut, Felix loszulassen. Diese ständigen Selbstvorwürfe, die ich mir immerzu gemacht habe... Diese Qualen in meiner Seele und in meiner Brust.
Hättest du ihn doch nur früher gerufen! Und Ach, wärst du doch nur früher los gerannt! fraßen mich auf. Machten mich fertig. Machten aus mir einen Mann, der mehr an der Grenze des Todes als an der des Lebens gestanden hatte – all die vielen Jahre lang... Da konnte mir nicht mal Klara helfen.
Jetzt aber ist es vorbei. Ich denke anders an damals zurück. Ich denke anders über alles, was passiert ist... Ich habe nur noch eine Frage, die ich aber auch loslassen muß, weil sie mir keiner beantworten kann: Was zur Hölle hat Felix dazu getrieben, auf die Bahnschienen zu gehen? Dann gibt es da natürlich noch mehr Unklarheiten, die mir jetzt allerdings nicht mehr so wichtig sind, wie sie früher für mich waren: Was hat ihn gebissen? Wie hängt der Fisch damit zusammen möchte ich schon gar nicht mehr fragen, weil ich es sowieso nicht weiß... Und weil ich mir nur wieder den Kopf darüber zerbreche.
Der Fisch hat mich abgelenkt und er war auch derjenige, der meinen Bruder getötet hat... Vielleicht dadurch. Der Fisch ist nun selbst tot. Spätestens, als sie diesen Försterparkplatz aus dem Teich gemacht haben...
Aber es hilft nicht mehr, darüber nachzudenken. Es ist vorbei. Ich spüre wieder die Seele in mir, ich spüre wieder die Lebensfreude. Ich spüre wieder das Glück. Ich kann wieder mit dem Zug fahren, ich kann wieder... Ich...
Klara hat mich gestern gefragt, ob ich nicht Kinder haben möchte. Ich hab sie um Bedenkzeit gebeten. Aber ich glaube, ich weiß, wie meine Antwort ausfallen wird.
Ein neues Leben hat begonnen.

20. August 1995
Gestern ist Doktor Monte gestorben. Er hat mir einen Brief hinterlassen, in dem stand, daß er damals einer der Passagiere des Zuges gewesen war, der meinen Bruder tötete. Und zwar einer von denen, die einen Blick auf die verstümmelte Leiche von Felix warfen.
Deshalb wußte er also Bescheid. Deshalb wollte er mir so brennend helfen, als er merkte, daß ich `93 einer seiner Patienten geworden war.
Meine Klara ist schwanger. Es wird ein Junge. Ich glaube, wir werden ihn Harald nennen - ganz sicher bin ich mir aber nicht, weil Frauen ja immer das letzte Wort in puncto Namengebung haben müssen.
Harald F. Guttenberg. Das hört sich doch ganz ordentlich an...

© by Stefanie Kißling, 21. – 24. Februar 2002

 

Klasse, Stephy! :thumbsup:
Super Idee und super Umsetzung! Du hast alle Personen sehr gut in Szene gesetzt.
Die Story baut sehr gut aufeinander auf. Hast du im Moment eine depressive Stimmung? Ist "Der Großvater" und dann sowas. :rolleyes:
Ich frage mich dasselbe wie der Protagonist: Was hat Felix gebissen? Hat das eine hintergründige Bedeutung mit dem Fisch, oder hat ihn irgendetwas unwichtiges gebissen?
Ich finde die Geschichte nicht seltsam genug. Gut, so ein großer Fisch ist schon seltsam, aber nicht seltsam genug. Von der Handlung würde ich sagen, Alltag. Oder vielleicht auch Horror? Hm, nee.

Sie wollten ihn heute morgen zu betonieren
Hast du nicht einmal gesagt, dass du Probleme mit der Getrenntschreibung hast? Ich glaube hier wird es "zubetonieren" geschrieben. Getrennt werden zwei Verben geschrieben. Zum Beispiel: kennen lernen. Nun gut. Morgen wird dort glaube ich großgeschrieben.

Wie gesagt: Super Story! :thumbsup:

 

Hi Uffmucker!

Vielen lieben Dank für Deine Kritik! Freut mich echt riesig!!!!!!
Depressive Stimmung? Eigentlich nicht, im Gegenteil. ;) Die Geschichte ist auch etwas älter als der "Großvater"... :)
Mit der Rubrik könntest Du echt Recht haben; ich weiß nämlich wirklich nicht, ob die hier richtig steht oder nicht... Ich hab halt gedacht, der Fisch ist schon komisch und so... - also in "Alltag" wollte ich die Geschichte dann doch nicht stecken... Ist immer so'n Problem - wohin damit... :rolleyes:
Wenn sie aber eindeutig falsch steht, dann kann sie ruhig verschoben werden.

Was diese zusammengeschriebenen Wörter angeht, hast Du totsicher Recht. Das ist mein großes Problem. Ich geh's nochmal durch und guck, ob ich noch mehr Fehler ausmerzeln kann... :baddevil:

Und zum Schluß: Danke nochmal für die Kritik! Ist echt lieb von Dir! Und auch vielen Dank, daß Du Dir die Zeit genommen hast, das Ding zu lesen!

Griasle,
stephy

[ 23.05.2002, 23:46: Beitrag editiert von: stephy ]

 

Hi stephy,

Klasse, wirklich, einsame Klasse. Diese Geschichte hat wirklich von allem etwas: Sie ist geheimnisvoll, sie ist traurig, die Figuren aber auch alltäglich genug, dass sie nicht "abgehoben" wirken. Fast wie ein Märchen. Die Dialoge zwischen den Brüdern fallen besonders ins Auge, sie sind so lebensecht und liebevoll ausgefeilt. Felix' Parts absolut "kindgerecht", sympathisch, und auch der fünfzehnjährige Ben kommt glaubhaft 'rüber.

Ein bißchen hast du mich in die Irre geführt, weil du Klara ständig mit Dr. Monte spazieren gehen ließest. Halb habe ich schon damit gerechnet, dass sie Ben verlässt, weil ihr seine ewigen Depressionen zuviel werden, und stattdessen mit dem Doc über alle Berge geht. Das (unerwartete) Happyend hat mich um so mehr gefreut.

Ja, was ist eigentlich in der letzten Zeit mit dir los? Ich habe zwar schon immer gerne Geschichten gelesen, aber seit "Großvater" und diesem hier... Hast du eine Super-Geschichten-Produktions-Pille geschluckt oder was? Wenn ja, hätte ich auch gerne ein paar davon.

Was kommt als nächstes?

 

Wow.

Ich war jetzt einige Minuten in Deiner Geschichte versunken. Am Anfang habe ich noch oft über Ben und sein Verhalten gelacht, bis man dann erahnte was er zu verarbeiten hat. puuhh.....

Du hast Spannung erzeugt. Und die Beschreibung der einzelnen Figuren war so gut, dass sie in der eigenen Vorstellung lebendig wurden. Sogar den Fisch konnte ich sehen.

Das einzige was mich gestört hat, war der Vorname des Arztes. Der Nachname klang so schön....und dann war das ein Harald :-)

Eine super Story.

Gruß, Melani

 

Hi stephy,

beim Lesen deiner Geschichte bekam ich stellenweise Gänsehaut. Das Grauen, das deinen Protagonisten bei der Erinnerung an die traumatische Ereignisse überfällt, konnte ich gut nachempfinden. Und die Idee mit dem Fisch – super!
Eine Kleinigkeit hat mich gestört:

Er breitete die kleinen Kinderarme weit aus, fiel hin und kam mit ein paar Purzelbäumen, die sehr schmerzhaft aussahen, zum Stehen.
Finde ich ein bißchen übertrieben. Wenn er auf einem Feldweg hinfällt, kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich gleich mehrere Male überschlägt...
Ansonsten hat mir die Geschichte sehr gut gefallen!

Viele Grüße
Cat

 

Hi stephy!

Mehr als die anderen kann ich auch nicht sagen.
Die Geschichte ist einfach super! :thumbsup:

Der Wechsel, zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit ist dir genial gelungen.
Ich konnte mich richtig gut in den Protagonisten hineinversetzen.
Als zum Schluß dann herauskam weshalb sich dieser Pudding ... ähem Doktor Monte so ausgiebig mit dem Mann beschäftigt hat, da bekam die ganze Story einen anderen, zusätzlichen Hintergrund für mich und ich hab mir die Geschichte aus dieser neuen Perspektive nochmals durchgelesen.

Bei den "Szenen" mit seinem Bruder lief mir teilweise ein Schauer über den Rücken, weil es so realistisch, gefühlvoll und einfach schön beschrieben war.

Gruß
LoC

 

Hallöchen!

Vielen lieben Dank für die Kritiken!

@ Cat
Jepp, das hört sich wirklich etwas komisch an. Ich werd's nochmal durchgehen - wenn ich Zeit hab - und editieren. Danke für den Tip!

Auch ein großes Dankeschön an Euch alle! Freut mich echt, daß die Geschichte Euch gefallen hat! :)

Thanx!
stephy

 

Äh, ja gut. Nun nochmal zu meiner Frage:
Was hat den Felix gebissen? War es etwas Unwichtiges oder etwas, was tiefgründiger ist?

 

Hallo Uffmucker,

keine Ahnung, was den Kleinen gebissen hat. :confused:
Ist halt etwas... ähm... seltsam. Oder so. :susp:

Gruß,
stephy

 

Sag doch einfach: "Das war eine Schlange mit Nervengift. Deswegen konnte auch Felix nicht mehr von den Schienen gehen."
Nungut, nur ein Vorschlag.

[ 24.05.2002, 19:15: Beitrag editiert von: Uffmucker ]

 

Stimmt. Das war eine Schlange mit Nervengift! Gerade ist es mir wieder eingefallen! :D :naughty:

Grizze
stephy

 

1. Dann ist ja gut, Stephy.
2. Nenn mich Uffi.
3. Herzlichen Glückwunsch zum 3000. Beitrag.
4. So.

 

Wow, einfach super Geschihcte , stephy.
Ich hatte stellenweise echt Pipi in den Augen.
Wnderbar, wie einfühlsamm du die Beziehung zwischen den Brüder herausgearbeitet hast.
obschon ich Ben ein bißchen komisch finde, das er in dem Alter sich so viel um seinen kleinen Bruder kümmert.
Aber das hast du ja auch erläutert.
Auch superschön, wie du zwischen den Erinnerungen und der Jetztzeit wechselst.

Die Anspielung auf den Doc hätte mich noch interessiert, weil benn für einen Momend die Augen des Fisches, statt der des Doctors sieht, hatte ich für einen Moment das gefühl, der Doc könnte so etwas wie die Reinkarnation des Fisches sein, der helfen will, weil es im Endeffekt seine Schuld war, das felix sterben mußte.
Hm..aber vieleicht hab ich auch nur zuviel Phantasie.

Auf alle Fälle

Super Ding hast du da hingezaubert.

Rub.

 

@ Uffi

Danke! ;)

@ Rub.

Vielen lieben Dank für Deine Kritik! Freut mich echt, daß Dir die Geschichte gefallen hat. ;)
Ich glaub nicht, daß Dir da die Phantasie durchgeht. Ich mein, die Geschichte ist doch wirkliche in bißchen... komisch. Da kann alles möglich sein, oder? ;)

Gruß und Dank an alle, weil Ihr Euch die Zeit genommen habt, die Geschichte zu lesen!

stephy

 

Stephy, was in aller Welt ist bloss mit Dir passiert ??
Du postest nur noch Wahnsinnsgeschichten...

eine Anmerkung hab ich aber noch..versuch bei der Stelle mit der Schulpflicht das zweite"einschulung" zu vermeiden, das macht es an der Stelle etwas holperig..

Bin immer noch beeindruckt, wohl auch wegen der seltsam schönen Augen des Fisches, und dem tiefen Verständnis des Arztes, der wohl unter dem Bild des kleinen zerstörten Lebens zu seinen Füssen genauso gelitten haben mag.

mit Hochachtung

Lord

 

Hi Stephy!

Ich muß sagen, ich bin positiv beeindruckt von Deiner Geschichte! Hat mich wirklich fasziniert, wie Du Deinen Protagonisten dieses einschneidende Erlebnis hast verarbeiten lassen! Und der Schluß als Auflösung, warum der Therapeut alles wußte, kommt dann mit dem eigentlichen Ende der Geschichte nochmal gut rüber. :thumbsup:

Was mich interessiert: Hat Dich das Gedicht von Goethe zu dieser Geschichte inspiriert, oder warum steht es da?


Einige nach Korrektur bettelnde Stellen sind mir beim Lesen über den Weg gelaufen:

"Johann Wolfgang Goethe" - Johann Wolfgang von Goethe

"Seit meinem 15. Lebensjahr" - fünfzehnten
"da war ich 23 oder so." - dreiundzwanzig
usw., bitte die Zahlen ausschreiben, macht sich einfach besser bei solchen Texten. Das mit "bis zwölf ausschreiben" gilt ja eigentlich für Geschäftsbriefe...

"Sie wollten ihn heute morgen zu betonieren..." - zubetonieren
"Sie haben ihn ordentlich zu betoniert." - zubetoniert

"der riesige Fisch, der Zweidrittel des Teiches einnahm." - zwei Drittel

""Meinst du, der Zug erschreckt ihn?" hat mich Felix gefragt." - erschreckt ihn?", hat...

"die ewig und immer angst haben,..." - Angst haben

"...und gesagt; "der Charakter eines Menschen kann man an seiner Nasenspitze ablesen."" - den Charakter

"daß sie den kleinen Teich zu betonieren würden..." - zubetonieren

" Sind tagsüber auch Sterne am Himmel? fragte mich Felix,..." - Anführungszeichen vor und nach "Sind tagsüber auch Sterne am Himmel?", fragte mich...

""Was?" fragte ich ihn verblüfft. - "Was?", fragte... Ich würde auch nach Was ein "?!", klingt verblüffter.

"...wie der Fisch mir entglitt und davon schwamm..." - davonschwamm

""...DA RUNTER!!!" brüllte ich und sprang auf die Füße." - Beistrich/Komma nach der Aussage. Ich würde auch "die Füße" ausradieren, die verlangsamen das ganze schnelle Geschehen. Außerdem klingt es, als wären die Füße schon unten gelegen und er springt drauf...

"...nicht mehr sehen, nicht wahr?" fragte ich den Arzt." - wahr?", fragte...

"Sie hatte angst,..." - Angst

"..., daß der Teich zu betoniert wird?" - zubetoniert

"daß es mir helfen würde, hier her zurück zu kommen?" - hierher zurückzukommen

So, das wars aber. ;)
Alles liebe
Susi

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Häferl!

Vielen lieben Dank für's Lesen der Geschichte! Ich werd' sie nochmal überarbeiten und Deine Verbesserungsvorschläge berücksichtigen! Wobei ich diese Geschichte noch nach der alten Rechtschreibung geschrieben habe... Aber überarbeiten werde ich sie nochmal! Danke! :)

Achso:

Was mich interessiert: Hat Dich das Gedicht von Goethe zu dieser Geschichte inspiriert, oder warum steht es da?

Nee, eigentlich nicht. Ich hab ein Faible für Zitate und da dachte ich, das von Goethe paßt hier ganz gut... ;)

Gruß!
stephy

 
Zuletzt bearbeitet:

Wobei ich diese Geschichte noch nach der alten Rechtschreibung geschrieben habe...

Liebe Stephy!

Das habe ich auch gesehen und Dir nichts bei den Korrekturen von alter auf neue Rechtschreibung "umgebessert". :)

Aber beim Auseinanderschreiben kommt Dir die neue Rechtschreibung ja sehr entgegen... :D

Habe übrigens vorhin Leif den Ausdruck zum Lesen gegeben, was er auch sofort getan hat... :)

Alles liebe
Susi

 

jonger vadder! do legsch de nieder ond schtohsch nemme auf!

Soviel zu konstruktiver Kritik! ;)

Hammer Geschichte! Alles andre wurde ja schon gesagt. :)

Bin beeindruckt!

 

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