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- Anmerkungen zum Text
Der Hochsommer des Jahres 1320 in Kajataris (Nordlande) und später dem Nordnorden; ein Trockenjahr.
Der Fengg
Der Pelzerlehrling gestand sich seine Angst nicht ein. Sein ganzes Leben hatte er in dem Eckhaus in der stinkenden Gerbergasse am Fluss verbracht, wo er sich ruhelos im Bett umher wälzte. In dieser Gasse, unweit von dem Eckhaus, gab es eine Kaschemme, deren Schild schon seit vielen Jahren vergilbt war und deren zugenagelte Fenster vom Pogrom des letzten Jahres zeugten. Dort trank der Söldner ein letztes Bier mit seinen Waffenbrüdern, die ihn aus Furcht oder Vernunft nicht begleiten wollten. Bog man von dort rechts in die Schusterstraße und dann links in das Viertel der Schiffsbauer, so gelangte man zum Seilertor, durch das der Student ritt. Er kam aus dem Süden und fror sich jetzt im Hochsommer eines Trockenjahres den Arsch ab. Oder war das die Angst?
Pelzerlehrling, Söldner und Student trafen sich am nächsten Tag im Kontor der Hugenheim-Gesellschaft an einem leeren, übergroßen Schreibtisch. Ihnen gegenüber saß ein parfümierter Mann in schwarzem Rock und legte einen dicken Papierstapel vor. Mit der Hand ‒ er hatte davon nur eine ‒ deutete er auf eine leere Stelle und sagte freundlich: »Hier unterschreiben bitte.«
Der Pelzerlehrling zögerte nicht. Ick bin, beruhigte er sich. Mit seinen schulterlangen, schneeweißen Haaren und dem hageren Körper glich der Asenbursche einer begehrten Jungfrau.
»Ich muss das erst lesen«, sagte der Student und kratzte sich am Kinn. Er musste Norwelsch sprechen, was ihm missfiel. Auch er war ein Asenjüngling, doch Student in Mentrich und Sohn eines Bürgermeisters, da gab er schrecklich viel drauf. Er war pummelig, hatte graues Haar und trug einen Reisemantel, von dem der Reichtum aufstieg wie Mief von der Kuhscheiße.
»Da steht nichts wichtiges«, sagte der Einarmige an den Studenten gerichtet, dann wandte er sich an alle: »Die Bezahlung ist hoch.«
»Wie viel?«, fragte der Söldner.
»Eintausend Taler für jeden.«
»Eiserne?«, staunte der Söldner. Er hatte mit fürstlicher Bezahlung gerechnet, aber das war eines Kaisers würdig!
»Aye.«
»Das is ja schön«, sagte der Pelzerlehrling munter und reichte Papierstapel und Feder dem Söldner, der beides entgegennahm und zögerte. »Kann man das denn überleb'n?«
»Natürlich«, versicherte der Einarmige
Unsinn, dachte der Söldner. Er war ein bulliger Mensch mit nur einem Auge und einer Narbe auf der Backe. Die Geschichten hatte er alle gehört ‒ eine Jagd nach der anderen war spurlos verschwunden oder desertiert, Freiwillige fanden sich keine mehr und geschulte Krieger wollte niemand vergeuden. Doch eintausend Eiserne? Der Söldner setzte ein krickeliges Kreuz.
Der Einarmige lächelte.
Im Papierstapel herumblätternd dachte der Student nach. Das klang alles gefährlich, aber die Geschichten mussten übertrieben sein, das wusste er. Menschen übertrieben gerne, dumm wie sie waren, und außerdem tat er es für die Wissenschaft. Sein Kreuz, das er schwungvoll auf das Papier setzte, bestand aus mehreren verschlungenen Buchstaben, die für Söldner und Pelzer keinerlei Sinn ergaben. Der Pelzer war mächtig beeindruckt, der Söldner schüttelte bloß den Kopf.
Der Einarmige ließ die Zettel in einer Schublade verschwinden. »Die Hugenheim-Gesellschaft bedankt sich für eure Mitarbeit. Nur eine Sache noch.« Aus der Schublade zog er einen faustgroßen, flachen Stein und warf ihn auf den Tisch. Eine orangene Rune leuchtete darauf.
Magie, unglaublich!, staunte der Pelzerlehrling. Der Söldner musterte die Rune skeptisch, er hasste Magie. Nur der Student konnte sie entziffern: modern, aber wenig verlässlich.
»Wir können euch jederzeit orten. Wenn ihr den Fengg erlegt habt, legt den Finder zur Leiche, ritzt hier eine Kerbe ein und kehrt nach Kajataris zurück. Wir übernehmen den Rest.«
»Sehr schön«, sagte der Lehrling und stand auf.
»Wann kann's losgeh'n?«
»Morgen früh. Wir haben alles für euch vorbereitet.«
Der Gasthof zum Nordtor bot vornehme Zimmer und Essen, raffinierte Schaumbäder und hübsche Huren. Im Stall machte der Söldner gerade sein Pferd startklar und genoss die Einsamkeit, als der Student vom Hauptgebäude her kam. Er hatte ein langes, schwarzes Paket in der Hand. »Morgen«, murmelte er. Sein Pferd war bereits gesattelt worden.
Asenschnösel, verfluchte der Söldner ihn. Ein Mann sollte so etwas selbst tun. »Wo bleibt der And're?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Hat die ganze Nacht gesoffen, glaub' ick.«
»Und es überrascht mich, dass du nicht bei ihm warst.«
Gekränkt schnaubte er. »Nur ein Narr zecht vor'm Kampf. Was habt Ihr gemacht, gestern?«
»Geschlafen«, log der Student. »Und gelesen.« Das zumindest stimmte. Während er sprach, befestigte er das Paket am Sattel.
Der Pelzerlehrling hatte tatsächlich gesoffen und wie er nun mit dröhnendem Kopf auf den Stall zulief, bereute er es ein wenig. Aber was soll's, sagte er sich. Sein Pferd war schon fertig, mit einem »Guten Morgen!« begrüßte er die Kameraden, dann klemmte er das geliehene Schwert an den Sattel. Ein Schießeisen hatte man ihm nur gegen Gebühr geben wollen, ein Pelzermesser hielt er in seinem Mantel verborgen. »Wie heißt ihr eigentlich?«, fragte er. »Ick bin Manhardt.«
»Lars«, grummelte der Söldner.
»Kastro von Abtenau. Für dich Monsieur Kastro, elender Säufer.«
»Es gab Freibier, da konnt' ick nich widerstehen«, verteidigte er sich. »Und das Mäd'l wollt' auch kein Gold.« Er grinste breit.
»Saufen und Ficken kannst'e nach der Jagd.«
»Geht auch vor der Jagd. Sag nich, du hast brav gepennt.«
»Ick hab' gefastet und gebetet, wie's sich gehört. Du stimmst die Götter gegen uns.«
»Ach, scheiß doch auf die Götter.« Die schockierten Blicke amüsierten ihn. Er wandte sich an Kastro: »Und du?«
Der Student funkelte ihn kalt an. »Ich bin adligen Blutes, für dich heißt es Ihr.«
Schmunzelnd stieg Manhardt auf sein Pferd. Ein wenig Angst hatte er, wenn er ganz ehrlich war, aber was sollte schon passieren? Sterben würde er nicht, das wäre lachhaft. Ick bin.
»Also los«, sagte Lars, als auch Kastro aufgestiegen war.
Der junge Student ritt gehobenen Hauptes voran. »Ich führe euch.«
»Unsinn.«
»Das ist mein Recht, Säufer.«
Manhardt schüttelte den Kopf, Lars schnaubte und dachte: Grüne Jungs, alle beide ... Was man nich für eintausend Eiserne tut.
Knapp vier Tage waren sie unterwegs, da verschwanden die Berge plötzlich und es offenbarte sich eine weite, weiße Ebene: Schnee. Im Hochsommer. In einem Trockenjahr. Kein einziger Baum wuchs auf der Fläche, die bis weit in den Horizont reichte. Eiskalter, salziger Wind schlug ihnen ins Gesicht. Sie zogen ihre Mäntel enger und trieben die Pferde auf die Ebene, die sie bald Nord, Süd, Ost und West einschloss wie ein gewaltiges Meer.
Lars ritt vorweg, denn er wollte alleine nachdenken und seinen Plan vollenden. Den Wasserfall des Geschwafels, der stetig aus Manhardts Mund floss, trieb ihn in den Wahnsinn: War dem Burschen denn die Ernsthaftigkeit dieser Reise gänzlich entgangen?
»Ick frag' mich ...«, sagte Manhardt, der weiter hinten neben Kastro ritt, »welche Legende wahr ist: So groß wie'n Pferd, 'n Baum oder gleich ne Scheune?«
»Gar keine davon.« Er war sich sicher. »Alles ersponnen.« In den Bibliotheken von Mentrich, Abtenau und Fürstenau hatte er nichts gefunden als Legenden. Aber Legenden waren nicht brauchbar für die Wissenschaft, also hatte er beschlossen, für seine Meisterarbeit einen eigenen Bericht zu liefern. Die Welt würde sich ewig an ihn erinnern.
»Unsinn«, plapperte Manhardt nur. »Zwanzig Ellen groß, Buckel, riesige Stoßzähne, Haare bis zum Boden, Menschen fressend ...«
»Warum sollte ein Menschenfresser hier leben?«
»Hm«, machte Manhardt. Er war irre gespannt auf den Fengg; ihm war flau im Magen, seit zwei Tagen hatte er Dünnschiss und er konnte seinen Mund nicht vom Reden abhalten. Gerade wollte er fortfahren, da sagte Kastro: »Überhaupt gibt es hier nichts zu Essen für irgendein Tier. Étrange.«
»HALT!«, rief plötzlich Lars. »Hier is was.« Er saß ab und fügte nach einer Weile hinzu: »Götter!«
Manhardt und Kastro schlossen zu ihm auf und fügten ebenso hinzu: »Götter!« und »Seigneur!«
Da waren Spuren im Schnee. Der Schnee war bloß eine dünne Sommerdecke, doch die Spuren pressten sich tief in die gefrorene Erde. Lars stellte sich in den Fußstapfen und streckte die Arme aus; bis zum Knöchel reichte er ihm und er konnte die Enden nicht fassen. Was für'n Biest ...
Es gab noch mehr Spuren, das Wesen musste zwei Beine haben und von Westen nach Osten oder andersherum gelaufen sein. Genau konnte man das nicht sagen, denn die Stapfen waren Ovale, mehr nicht.
»Is das der Fengg?«
»Was soll's'n sonst sein?«, erwiderte der Söldner.
»Ne Scheunen also ...«
»Riesig isses jedenfalls, das Drecksvieh. Und es latscht nach Westen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das sieht man doch.«
»Das sind Kreise.«
»Aye, aber ick kenn' mich aus mit sowas.«
»Lass uns lieber ne Münze werfen«, schlug Manhardt vor. »Der Herr hat doch sicher eine, oder?«, fragte er Kastro, doch der starrte nur kreidebleich in die Ferne. Die Ebene reichte, so weit das Auge reichte, der Himmel war ein helles blau und wolkenlos und ein eiskalter Wind umfegte sie. Der Student drückte seinen Reisemantel an sich.
»Was los, Herr? Kackt'a Euch ein?« Der Söldner kletterte aus dem Loch hervor und stieg wieder auf sein Pferd, Manhardt tat es ihm gleich.
»Wir müssen umkehren.«
Lars lachte laut. Ja, hau doch ab. Auch Manhardt schmunzelte: »Habt Ihr etwa wirklich Angst?« Seine eigene Angst hing an ihm wie eine lästige Zecke.
»Schau dir doch die Spuren an.«
»Wir ham nen Vertrach unterschrie'm und den halt'n'wa ein«, meinte Lars.
»Also, habt Ihr ne Münze?«
»Nach Westen«, grummelte Lars.
Manhardt seufzte. »Na gut.« Wie konnte man denn so grämlich sein? Aber der Mann hatte Erfahrung, er würde ihn brauchen. »Also, kommt Ihr mit?«, fragte er Kastro. Den würde er sicher nicht brauchen.
Kastro wollte nicht sterben. Konnten die Legenden wirklich wahr sein? Er dachte an die warmen Gärten und Parks von Abtenau, an die Alleen der Universität Mentrich und die rote Brücke der Weltakademie in Fürstenau. Würde er all das jemals wiedersehen? Wenn er umkehrte schon. Und doch ... ein Ase hielt sein Wort, das hatte Vater immer gesagt. Er seufzte und trieb sein Pferd voran. Für die Wissenschaft ...
Als sie den Wald erreichten, dämmerte es. Die Bäume sahen sie schon aus weiter Ferne. Sie stachen in den Himmel dick wie die Türme einer Burg und weiß wie Schnee, ihre braunen Nadeln hingen in unerreichbarer Höhe, der Boden war weiß und glatt, kein Strauch wuchs.
Kastro trug eine Rune bei sich, mit der sie ein Feuer entzündet hatten, das jedoch kaum Wärme spendete. Sie kauten auf ledrigem Trockenfleisch, während Manhardt palaverte und Kastro genervte Bemerkungen einwarf und Lars nichts sagte.
Erst als selbst Manhardt die Worte ausgingen, sagte der Söldner: »Also, ick hab'n Plan.«
»Der da wäre?« Kastro war noch immer bleich wie Milch und schien in eine Ferne zu schauen, die direkt vor ihm lag und nur er sehen konnte. In dieser Ferne sah er Maleen. Ich hätte sie heiraten können. Wäre er doch nur in Abtenau geblieben und nicht zur Uni gegangen ‒ der letzte Kuss war so kurz gewesen. Und jetzt sterbe ich im verdammten Nordnorden.
»Nu, das Vieh is groß«, erklärte der Söldner und starrte ins Feuer, »und große Viecher sind betulich. Dat dauert, bis der in Gang kommt. Also müss'n'wa uns beeil'n. Also icke. Ihr lockt es an und ick hocke auf nem Baum und spring' drauf und dann, zack, ham'wa's geschafft.«
»Das ist dein Plan?«, fragte Kastro, doch Manhardt nickte und sagte: »Und'n guter isses. Nur gefällt mir meine Rolle nich.«
»Der Plan ist Mist«, sagte der Student. »Ich werde mich nicht als Köder missbrauchen lassen.«
»Zu mehr seid'a doch eh nich zu gebrauchen.«
»Vorsicht, Balourd.«
»Pah!« Lars kannte das Wort nicht, aber wie Lars das sagte, klang es nicht freundlich. Er sprang empört auf, warf den Rest seines Fleisches ins Feuer. Es zischte. »Ihr seid Dösköppe, alle beide!«
»Beruhig dich«, befahl Kastro. »Ich führe diese Exkursion und ich verlange Ordnung.« Die Worte klangen nicht so mächtig, wie sie sollten, merkte er.
Der Söldner spuckte.
»Wir müss'n zusammenhalten.« Manhardt hatte lange geschwiegen. Die Angst, die Zecke, hatte sich festgebissen und saugte an ihm. Ick bin, versuchte er, sich zu beruhigen. Er durfte Lars nicht verlieren.
»Steck dir dein Ex-iwas in Arsch, Ase«, sagte der Söldner zu Kastro. Manhardt funkelte er nur böse an und stapfte dann zu den Pferden.
Eiskalte Fingerkuppen streichelten über Kastros Rücken. Er schüttelte das Gefühl ab. »Du kannst nicht gehen«, brachte er nur hervor.
»Warum nich?«
»Ich ... Ich verbiete es.«
»Ihr könnt mir nix verbiet'n«
»Dann komm' ick aber mit!«, rief Manhardt. Lieber Lars als Kastro.
»Pah! Piss dich!«, knurrte der Söldner nur, dann ritt er davon, tief in den Wald hinein und war froh, endlich allein zu sein.
»Alea iacta est«, murmelte Kastro. Er wollte umkehren, doch sein Stolz verbot es. Aber früher oder später würde Manhardt weiche Knie bekommen, da war er sich sicher.
Manhardts Knie waren Butter, als er am nächsten Morgen aufs Pferd stieg. Schweigend ritt er hinter Kastro her. Sie folgten noch immer den Spuren, die durch eine Schneise im Wald führten: Die weißen Mammutbäume waren hier abgeknickt wie Grashalme, der Boden tiefgetreten wie ein Flussbett. Das musste ein Trampelpfad sein ‒ der eines Fengg.
Es ging stetig bergauf, dann war da eine Klippe ‒ beinahe wäre Kastro hinabgestürzt. Einhundert oder mehr Schritt unter ihnen erstreckte sich ein Meer bis in die Ewigkeit: ein tiefes Blau, beinahe Schwarz, gesprenkelt mit dem Weiß flacher Eisschollen. War dies das Ende Arglons? Eine eigenartige Beklemmnis packte ihn und auch um Manhardts Hals legte sich ein raues Seil.
Die Fußstapfen endeten an der Klippe.
»Is das Viech Baden gegangen, oder was?«
Kastro schwieg.
»Was jetz'?«
»Sei still.«
Widerwillig leistete er folge und sah: Auf einer Eisscholle bewegte sich etwas. Etwas Riesiges. Und Weißes. Das Biest musste so groß sein wie die Mammutbäume des Waldes und trug auf dem Kopf ein mächtiges Elchgeweih. Der Fengg sprang ins Wasser und watete gemächlich davon.
Manhardt wurde blass. Angestreng versuchte er, gleichgültig gen Horizont zu schauen. Ick bin, sagte er, doch die Worte wollten nicht recht wirken. Zum ersten Mal in seinem Leben betete er.
Kastro trieb sein Pferd herum, um das blasse Gesicht zu verbergen. Ich habe mein Ziel erreicht ‒ es gibt die Fenggen. Ich sollte nach Hause zurückkehren. Aber er wollte es nicht zugeben. Schon einmal hatte er schändlich Schwäche gezeigt, dabei musste ein Ase stark sein. Auch das hatte Vater einst gesagt.
»Und jetzt?«, brachte Manhardt hervor.
»Also ich ...«
»Wir könn' ja wohl nicht umkehr'n«
»Natürlich nicht«, stimmte Kastro zu.
Also trieb Manhardt sein Pferd voran.
Der Plan war erbärmlich einfach: Ernst von Augustburg schrieb einst, ein Fengg werde von verbranntem Rybel angelockt, also hatte Kastro welches aus dem Süden mitgebracht. Dass von Augustburg den Fengg als schwarzhaarig und pferdegroß beschrieb, machte Kastro ein wenig Hoffnung: Vielleicht würde Manhardt ja aufgeben, wenn das Biest nicht auftauchte.
Das Rybel lag noch unverbrannt neben ihnen, das Feuer knisterte schon. Für Kastro duftete es nach Festmahl und zu Hause; er sah sich mit Maleen über die Tanzfläche gleiten. Er liebte sie, das merkte er jetzt. Manhardt erinnerte das Kraut aus dem Süden an nichts, aber er mochte den Geruch.
Den Schwertgriff fest umklammert stand Manhardt da. Er hatte nie jemanden geliebt, also dachte er an niemanden.
Kastro lud das Schießeisen, das in dem länglichen, schwarzen Paket gewesen war: eine edle Waffe mit der geschwungenen Aufschrift von Abtenau. »Sei ehrlich«, sagte der Student und überaschte damit Manhardt genauso wie sich selbst. »Hast du Angst? ‒ Ich schon.«
Ick töte ihn sowieso, dachte Manhardt und sagte: »Ja. Aber mir wird nichts geschehen.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Ick bin.« Er hatte das noch nie zu jemandem außer sich selbst gesagt.
»Was soll das heißen?«
»Glaubt Ihr an die Götter?«
»Natürlich.«
»Glaubt Ihr an nen Sinn? Hinter all dem hier?«
»Natürlich.«
»Könnt Ihr denken?«
»Natürlich.«
»Beweist es mir.«
Der Student schaute ihn nur irritiert an.
»Ick kann denken, aber Ihr könnt's nich. Euch gibt's nich und die Götter und nen Sinn auch nicht.« Manhardt stand auf und zerschlug mit dem Schwert die Luft. Er hatte noch nie mit einem Schwert gekämpft, nur mit der Faust, aber das durfte ja nicht viel anders sein.
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte Kastro nach einigem Überlegen. Was für ketzerischer Unsinn, so was hatte er noch nie gehört.
»Das Leben«, begann Manhardt, »ist ein Spiel. Und ick bin der Spieler, weil ick bin und Ihr nicht.« Er fuchtelte ungeübt mit dem Schwert herum. »Und ick will gewinnen.«
Kastro schüttelte nur den Kopf. So ein Unsinn. Der Bursche hielt sich wohl für unglaublich schlau.
»Also, kann's losgeh'n, das Spiel?«, fragte Manhardt. Seine Angst war fort, die Zecke endlich abgefallen.
Wortlos schmiss Kastro das Rybel ins Feuer und nahm seine Büchse auf den Arm. Seine Hose war feucht und er schwitzte wie verrückt, während um ihn herum der Wind den Schnee aufwirbelte. Sie saßen auf einer kleinen Lichtung inmitten der weißen Mammutbäume. Zur Heiligen Mutter betete er für Maleen und zum Heiligen Vater für sich selbst. Manhardt betete für nichts zu niemandem.
Die Erde bebte. Manhardt hatte keine Angst ‒ steif wie eine Säule stand er da und hielt sein Schwert vor sich, atmete ein, aus, ein, aus. Das war nichts anderes als all die Schlägereien, die er in der alten Kneipe durchgemacht hatte. Selten aus echten Gründen, meist aus Spaß. Und er hatte immer gewonnen. Meistens. Auch diesmal würde er gewinnen. Ick bin. Mir kann nix passieren.
Die Erde bebte. Kastros Herz fiel hinab in die Hose, die Nass war. Es stank nach Pisse. Und roch nach frischem Schnee, nach Terpentin, nach Meer und Wald und eiskaltem Wind. Er betete. Für seine Eltern und Maleen und am allermeisten für sich selbst. Fest umklammert hielt er das Schießeisen und zielte zitternd. Hätte er noch Pisse übrig gehabt, hätte er sich erneut eingenässt. Oh Vater, bitte, lass mich leben!
Die Erde bebte. Und dann kam durch den Wald etwas gestapft, etwas Weißes, Träges, Riesiges.
Zwei Scheunen, korrigierte Manhardt seine letzte Schätzung.
Oh Scheiße, dachte Kastro.
Das Vieh war riesengroß, weiß geborstet vom Fuß bis zum Schädel, der auf Höhe der Baumwipfel thronte und dem eines Elches glich: die Schnauze lang gezogen, die Nüstern breit und tief und die Augen nachtschwarze Kohlen. Auf dem Haupt trug der Fengg das Geweih eines mächtigen Elchbullen, das über den Bäumen tanzte. Die Bestie ging gebückt und trug auf dem Rücken einen Buckel, groß wie ein Hügel. Man hätte einen Wachturm darauf bauen können.
Und es gab keinen Plan. Keinen verdammten Plan.
Kastro schoss. Es knallte, rauchte, stank nach Magie, scharf und stechend. Seine Finger hatten von selbst abgedrückt. Als Manhardt schreiend auf den Fengg losrannte und wild mit dem Schwert herumwedelte, dachte Kastro noch: Wir schaffen das nicht, und fummelte unbeholfen mit der Büchse und dem Schießpulver herum. Fehlschuss. Falsch geladen. Scheiße. Laden, Fehlschuss. Hände zu schwitzig, zittrig, Fehlschuss. Dann ein Knall, Rauch, Gestank. Aber ins Leere. Der Fengg war längst fort.
Wie besessen schlug Manhardt auf den großen, ovalen Fuß des Fengg ein, bis dickes, rotes Blut hervorquoll und das Biest aufheulte ‒ tief und rau und lang.
Der Fengg schlug um sich.
Er flog weit, sah Erde, Schnee, Blut, Erde, Schnee, Himmel, Erde ‒ dann war Stille. Dann ein Schuss. Er rappelte sich auf. Die Zecke hatte sich wieder festgebissen.
In Abtenau hatte Kastro gerne Hasen gejagt mit seinem Vater. Er hatte ein Spiel daraus gemacht und die Hasen rennen lassen, bis sie erschöpft zusammenbrachen. Das würde er nie wieder tun, schwor er sich. Nie wieder. Denn jetzt wusste er, wie der Hase sich fühlte. Und wie der Hase rannte auch er.
Der Bastard rennt, fluchte Manhardt. Der Fengg humpelte hinterher. Die Erde bebte wie noch nie.
Kastro rannte. Oh Vater bitte bitte oh bitte ich flehe dich an oh Vater. Die Erde bebte hinter ihm. Er rannte, wie er nie gerannt war und schaute sich nicht um. Er sah deswegen nicht, wie der Fengg ihn packte und zerquetschte. Herr Kastro von Abtenau würde nie wieder Hasen jagen.
Der Fengg schüttelte die Leiche und betrachtete sie eingehend, schmiss sie dann lustlos fort und suchte Manhardt, doch der kauerte hinter einem Mammutbaum. Er könnte fliehen. Und dann? Bis er alt und runzelig war in der Gerbergosse Felle schneiden? Wenn man ihn nicht als Deserteur hängen würde. Nein. Er konnte sein Leben nicht so vergeuden und außerdem würde ihm nichts passieren. Das Schießeisen lag dreißig Schritt entfernt im roten Schnee, er musste es wagen.
Manhardt atmete tief ein und aus, sagte laut »Ick bin« und rannte von Stamm zu Stamm. Der Fengg humpelte wütend und verwirrt umher und schrie erneut. Die weißen Borsten seines linken Fußes waren rot, seine Augen glühten wütend. Doch das Biest sah Manhardt nicht, er war zu geschickt.
Endlich war er bei der Büchse, die geladen war. Ein Schuss also. Er schlich sich näher.
Der Fengg hechelte schwer. Die Verfolgung musste ihn erschöpft haben. Zu Manhardts Glück blickte das Biest sich nicht mehr um, sondern stand bloß da und schaute in die Ferne. Hören konnte es ihn auch nicht, dafür war es viel zu groß ‒ für eine solche Bestie glichen Manhardts Schritte dem Schlag eines Schmetterlingsflügels. Jedenfalls sagte er sich das, während er näher schlich; Ick bin ick bin ... Da war Angst, eine unergreifbare Furcht, die er nicht abschütteln konnte, doch er schubste sich vorwärts, immer näher auf das Monster zu.
Der Schuss ging gezielt in den Schritt, der Fengg bäumte sich auf, schrie und hielt mit den überlangen Armen die wunde Stelle. Es starb nicht, aber damit hatte Manhardt auch nicht gerechnet. Um sich schlagend wuchtete es Bäume aus und schrie, doch er war längst wieder verschwunden, und als das Monster endlich der Wut müde war und davonhumpelte, zog es eine Blutspur hinter sich her.
Einen Fengg zu töten war gar nicht schwer, so ohne Angst, stellte er bald fest. Wenn man nicht wahllos drauf losschoss, sondern die Sache ordentlich durchdachte, dann nützte dem Vieh auch seine Größe nichts. Er war der Blutspur bis in eine monströse Eishöhle gefolgt und hatte die Bestie dort im Schlaf überrascht, den Runenstein platziert, die Kerbe eingeritzt und wanderte jetzt zurück nach Süden.
IV
»Guten Tag«, grüßte Manhardt.
Lars erschrak und fluchte innerlich. Warum war der Bursche nicht tot? »Tag«, sagte er knapp. »Was willst'e?«
»Bist also geflohen, was? Feigling.«
»Ick wa' vernünftig, das'is alles. Erzähl nich, du hätt'st das Vieh erledigt, glaubt dir sowieso keiner.«
Manhardt lächelte nur und umgriff sein Pelzermesser. Er hätte den Mann ja am Leben lassen können, eine wirkliche Gefahr stellte er schließlich nicht dar, aber er hatte so schrecklich Lust auf Hasen und so schrecklich wenig Lust auf ein Gespräch.