Der Feind
Uniform an Uniform, Schulter an Schulter, den Blick nach vorn gerichtet, Reihe um Reihe, bilden wir die Glieder einer atmenden Kette, eine Einheit. Einen Zusammenhalt gleicher Entschlossenheit. Ein Denken und ein Handeln. In seiner Ansprache appelliert er an unsere Verantwortung, an unser patriotisches Soldatenherz, daran, dass wir einen Eid abgelegt haben, die Nation und deren Menschen mit all unser Können, all unserer Kraft und letztendlich mit unserem Leben zu beschützen. Er betont, dass wir eine lange Zeit des Kämpfens und des Leidens vor uns haben, dass Blut, Schweiß und Tränen fließen werden, dass viele von uns nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren werden, doch dies alles nur eines Zieles wegen passieren würde, des Sieges wegen, denn ohne Sieg gebe es keine Überlebenden. Und keine Überlebenden hieße das Ende der Menschheit!
"...dies ist der größte Kampf in der Geschichte der Menschheit!"
Wir alle, wie wir hier stehen, glauben seinen Worten, vertrauen ihnen, stehen in unseren Uniformen mit den auf hochglanzpolierten Kampfstiefel dafür ein. Auch wenn jedem einzelnen, der hier steht, eher nach Fluchtergreifen als zum Kämpfen zumute ist, haben wir allen Mut zusammengenommen und uns hier eingefunden! Was blieb uns auch anderes übrig, immerhin geht es hier um den Erhalt der eigenen Rasse. Auch wenn jeder einzelne von uns darauf bedacht ist, keine Angst oder Unsicherheit zu zeigen, durch das Versteinernen der eigenen Mimik, erkennt man in unseren Augen die Angst vor dem Tod und dem Ungewissen. Auf unserer Seite hat es bereits hohe Verluste gegeben - der Feind scheint übermächtig zu sein. Er ist ohne Vorwarnung gekommen, hat uns mit heruntergelassenen Hosen dastehen lassen, unvorbereitet. Das einzige, das wir ihm entgegenzusetzen haben, sind verängstigte Männer und Frauen, die man über Nacht mobilisiert und in Uniformen gesteckt hat, die noch zu jung sind, um im echten Krieg eine maßgebliche Rolle zu spielen. Überall hat man provisorische Ausbildungscamps eingerichtet, in denen jeder, der dem äußerlichen Schein nach fähig ist, eine Waffe abzufeuern, eine kurze Ausbildung an jener genießt, ein einwöchiges exerzieren an der Waffe, kurze Einweisungen in Taktik, und das Erkennen und Deuten bestimmter Handzeichen; man hat eine eigentlich mehrere Monate dauernde Ausbildung inklusive Basis-Fitness-Test auf wenige Tage heruntergekürzt. Man wird in eine von drei Klassen eingeteilt, A, B oder C und dann auf Luftwaffe, Heer oder an die Marine, wie Brosamen an hungrige Kinder, verteilt. Männer, und auch Frauen, ohne Kampferfahrung, werden erst mal in die Klasse C einsortiert, ehemalige Soldaten, Reservisten in die Klasse B und Männer und Frauen, die erste Kriegserfahrungen gemacht haben, Kriegmaschinen steuern, einfachen Soldaten Einweisungen geben können, kommen in die Klasse A. Sollte man durch alle drei Klassen gefallen sein, muss man zumindest dafür sorgen, dass die Waffen stets sauber und funktionsfähig sind, keine hungrigen Soldaten in den Tod geschickt werden, verängstigte Kinder versorgt werden. Ein einwöchiger Drill soll alles aus ihnen herausholen, was zur Verfügung steht, denn die Zeit sei knapp, da der Feind immer näher rückt, mit seiner Überlegenheit in Größe und Technik, den Überraschungeffekt auf seiner Seite.
Ein Zug Soldaten maschiert - von einem kleinen wütenden Ausbilder angeführt - an unseren Zug vorbei. Die meisten davon noch Kinder. Von überall werden gebellte Befehle vom Wind herübergetragen, Kampfjets schießen über unseren Köpfen in den azurblauen Himmel. Entferntes Bombardement lässt jeden von uns zusammenzucken und zu jenen Kindern werden, die bei jedem kleinen Chinaböller, der zu Silvester abgefeurt wurde, zusammengezuckt sind. Mehrere Santitäter mit Krankenbarren eilen in das nächstgelegene Kranken- bzw. Totenlazarett, um weitere Verletzte zu versorgen oder weitere Tote in die eigens dafür ausgehobene Massengräber zu verscharren. Der Mann neben mir, groß und athletisch, das Musterbild eines Soldaten, jedoch mit Tränen in den Augen, schluckt trocken und heftet seinen Blick wieder auf den Hinterkopf des Vordermannes, nachdem er den Sanitätern solange folgte, bis sie im Zelteingang des Lazarett verschwunden sind. Ich kann seine Angst nachempfinden.
Der Feind hat uns lange Zeit studiert, unsere Schwachstellen herausgefunden, hat seine Soldaten an strategisch güngstigen Punkten positioniert, auf den alles entscheidenen Befehl warten lassen. Uns hat man gesagt, dass man kurz davor stünde, den wunden Punkt des Feindes zu kennen, es dauere nicht mehr lange. Beruhigende Worte. Nur was bedeutet, kurz davor? Und bedeutet das jetzt, dass wir bisher nur als Kanonenfutter dienen?
Ein trockenes Schluchzen, stumme Lippenbewegungen. Ein stummes Gebet, ich lese von seinen Lippen ein Amen, dann eine kurze Bekreuzigung. Der Truppentransporter poltert über loses Gestein, über die Ziegel zerstörter Häuser, über die Erinnerungen der Toten und deren Gebeine. Schräg gegenüber von mir sitzt eine junge Frau, kurzgeschorenes Haar, ausgezerrtes Gesicht, alles Weibliche zu Hause gelassen.Tränen laufen über ihre Wangen. Zwischen ihren Beinen, in der Umklammerung ihrer beiden Händen, ruht ein Sturmgewehr, es wirkt fremd und deplaziert. Wie etwas, das nicht zu ihr gehört, nie zu ihr gehören wird. Wir sind zu sechst. Keiner von uns ist dafür ausreichend vorbereitet worden. Wir denken an unsere Familien, an unsere Freunde. An die Menschen, die während der ersten Angriffswelle ums Leben gekommen sind.
Wenn der Truppentransporter anhält, sollen wir so schnell wie möglich Schutz suchen, auf weitere Befehle warten, und, wenn uns ein Feind vor dem Lauf unserer Gewehre kommt, abdrücken und den Abzug erst wieder loslassen, wenn der Feind zuammengesackt im Dreck liegt.
Drei, nein, vier Panzer brettern an uns vorbei, aus der Luke ragt der behelmte Kopf eines Soldaten, der das MG bedient. Er grüßt uns, in dem er zwei Finger an den Helm legt. In der Ferne, zwischen den Ruinen unserer Häuser blitzt es immer wieder auf. Nach jedem Blitzen ertönt ein hochfrequentiertes Surren und dann Boom! Unsere Waffen sind nur mit Platzpatronen geladen.
Unsere Köpfe mit Angst gefüllt.
"Gehen sie verflucht nochmal in Deckung!", ich werde am Kragen gepackt und hinter einer zum größten Teil weggesprengten Mauer eines ehemaligen Tante Emma Ladens gezogen. Der Soldat hat Staub und Dreck im Gesicht. Seine rechte Gesichtshälfte wird immer wieder von den bläulichen Blitzen erhellt, als stünde er im Stroboskoplicht. Er fragt mich, wie viele volle Magazine ich bei mir habe, ich sage ihm, dass ich das nicht wüsste. Er sagt, dass es besser sei, wenn ich erstmal hier bleiben würde, hier sei's einigermaßen sicher. Einigermaßen. Sicherer als wo? Er lässt mich allein. Nachdem er mir ein volles Magazin aus meiner Brusttasche entnommen hat. Das Sturmgewehr in meiner Hand ist kalt und schwer und fremd. Ich habe es zwei mal abgefeuert, auf Pappkameraden, unbewegliche Feinde ohne Waffen. Das hier ist kein Spaß. Hier sterben echte Menschen mit echten Erinnerungen an echte Freunde und Verwandte. Kaum etwas erinnert noch an die Welt, die es vor wenigen Tagen noch gegeben hat. Diese Welt gibt es nicht mehr, sie ist durch diese Hölle ersetzt worden. Immer wieder erschüttern Explosionen die Welt um mich herum, lassen Betonwände vibrieren, in sich zusammen brechen. Es riecht nach Pulverdampf und Tod. Rauch und aufgewirbelter Staub verhindern eine ungetrübte Sicht.
Der Feind ist groß und mächtig!
Der Feind ist böse und herzlos!
Bekämpft den Feind mit allen Mitteln!
Vergesst niemals, für was ihr ins Gras beißt!
Vergesst nicht, dass es um den Erhalt der eigenen Rasse geht!
Um alles!
Der Feind lauert in den eigenen Reihen!
Man hat mich in ein kleines Lager geführt, gebrochene Menschen hocken dicht beieinander. Faltenzerfurchte Gesichter, grau vom Staub. Männer und Frauen, einheitliche Gesichter, auf alt getrimmte Schaufensterpuppen. Auf Angst geeichte Köpfe, panisch herumsuchende Augen. Ein Mann hält ein kleines silbernes Kruzifix in seiner Hand, reibt mechanisch dran. Seine Lippen formen stumme Gebete, an einen Gott, der uns alle verlassen hat. Eine Frau unbestimmten Alters wiegt sich immer wieder vor uns zurück, wie unter Zwang, schüttel dabei unentweg mit dem Kopf, als verneine sie die gesamte Situation, den ganzen Krieg, der von einem auf den anderen Tag über uns hineingebrochen ist. Ihre Augen blicken wie leere Fenster in eine Zeit fernab von dieser. Die Menschen, die sich hier eingefunden haben, sind nur noch die leeren Hüllen ihrer einstigen Körper. Als habe man sie allen Lebens beraubt und sie mit seelenlosem Schaumstoff gefüllt, an Fäden aufgehängt und zu Marionetten gemacht.
Ich schließe mich einer kleinen Gruppe von Soldaten an, die wie bewafftnete Gespenster durch leergefegte Straßen und Gassen, an weggebombten Läden und aufgerissenen Straßen vorbeigeistern. Sie sehen ausgezerrt aus, fertig mit den Nerven, fertig mit der Nation. "Lasst die Dächer nicht aus den Augen - sie kommen meist von oben!" Einer von ihnen trägt eine Bazooka, ein Relikt aus dem 2. Weltkrieg. Ich überlege, ob er sie richtig hält. Alle sind angespannt. Ruine um Ruine reiht sich wie an einen Faden gespannt aneinander. Die Straßen sind übersät von Munitonshülsen, Blindgänger-Granaten, Blindgänger-Soldaten. Soldaten, die nicht im richtigen Moment gezündet haben. Wie wertloser Müll an den Straßenrand gekehrt. Die Leichen gefallener Soldaten bauen in der Gruppe eine depressive Spannung auf. Den Glauben an verdammt nochmal gar nix! Gott hat diese Männer und Frauen verlassen, schon bevor sie auf das Schlachtfeld gegangen sind. Vom Feind sind keine Leichen zu finden. Nicht eine, seit dem ich den Truppentransporter verlassen habe. Immer wieder hallen entfernte Schüsse zu uns rüber. Ein nicht endender Albtraum. Es scheint, als wenn sich das Epizentrum immer wieder entfernt, sobald ich in die Nähe komme. Die Zeit hat längst aufgehört zu ticken. Ich nehme einen Schluck aus meiner Feldflasche. Das Wasser brennt in meiner trockenen Kehle. Der Soldat neben mir bittet mich um einen Schluck. Er trinkt hastig. Sein Blick ist so leer wie der eines Toten. Kampfjets jagen einem unsichtbaren Feind hinterher. Ich frage den Soldaten neben mir, ob er schon mal einen von ihnen gesehen hat. Einen von den Feinden. Doch als ich mich zu ihm drehe, ist da niemand. Nur dichte Rauchschwaden, ein paar eingestürzte Mauern, die auf der Seite liegende Leiche eines Soldaten, aus dessen Brust ein riesiger Metallsplitter ragt. Und nicht nur er ist verschwunden, die ganze Gruppe, der ich mich angeschlossen hatte, ist nirgends mehr zu sehen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich klammere mich an mein Sturmgewehr, es gibt mir kurze Zeit Halt, die Gewissheit, dass ich nicht völlig übergeschnappt bin. Doch im nächsten Moment bekomme ich Zweifel. Zweifel an den Feind. Zweifel an die Aufrichtigkeit unserer Nation. Immer wieder frage ich mich, mit welchem Feind wir es zu tun haben. Ich erinnere mich an Fernsehübertragungen, verwackelte Kameras, Explosionen, schreiende Menschen, Explosionen, Gegenangriffe. Nicht ein klares Bild von einem Feind. Und dann wurden auch schon die ersten Ausbildungscamps aufgebaut und die ersten Leute rekrutiert und ausgebildet und in einen Krieg geschickt, den keiner der Soldaten verstand. Nie verstehen wird. Uns wurde eingeschärft, wie böse und unmenschlich und hinterhältig dieser Feind sei. Man lässt uns im Unklaren darüber, was der Auslöser des Krieges war. Kein Wort. Nur wage Vermutungen. Ich kauer mich zusammen, versuche der Kälte, in dem ich meine Arme um meinen Oberkörper schlinge, zu strotzen. Es gelingt nur bedingt. Es ist nicht nur die Kälte, die von außen kommt, es ist eine mir inne wohnende Kälte, die sich mehr und mehr ausbreitet. Ich schließe meine Augen und erwarte den Tod, in welcher Form auch immer er scheinen wird. Meine Finger ertasten Rippen. Nicht endendes Bombardement. Hereinbrechende Nacht. Ein näherkommendes Donnergrollen. Immer wieder blitzt der Himmel in grellem Blau auf. Und für einen kurzen Moment wird alles auf Erden ebenfalls blau und ist nicht mehr grau. Graue Gesichter, schlaffe Körper, die Verwundete tragen, hinter sich her schleifen. Oder auf Barren tragen. Keiner würdigt mir eines Blickes. Keine spricht mich an. Und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl bereits tot zu sein. Oder in einen nicht endenden Albtraum zu stecken. Mir fehlt die Kraft, mich aufzurichten, zu eines der Camps zu gehen. Gierig nehme ich die letzten Tropfen aus meiner Feldflasche auf und jeder einzelne Tropfen rinnt wie Säure meine Speiseröhre hinab. Ich stelle mir vor, wie Soldaten gegen haushohe Gegner kämpfen, mit Laserwaffen ausgestattete Riesenroboter mit einem rotleuchtenden Zyklopenauge. Unser Waffen wirken wie Spielzeugwaffen. Ich stelle mir weiter vor, wie Soldaten unter riesigen Metallfüssen zerquetscht werden. Kampfjäger, die Raketen auf die Roboter abfeuern und die Wirkung von Mückenstichen haben. Ich sehe, wie Land um Land erobert wird, wir als Sklaven in Käfigen gefercht werden. Und zum Spaß gefoltert werden. Der Feind ist groß und mächtig!
Der Feind ist böse und herzlos!
Ich sehe: Tod und Verderben.
Ich sehe: Hass und Kälte.
Ich sehe: Untergang und Aufstieg
Ich sehe: Zu Schutt und Asche zerbombte Städte.
Ich sehe als das und es macht mir Angst.
Ein Soldat, den der dichte Nebel plötzlich ausgespuckt hat, setzt sich an meine Seite. Die linke Gesichtshälfte eine einzige blutende Wunde, seine Augen so leer wie Murmeln aus Michglas.
"Ich habe sie gesehen.", er klingt wie in Trance. "Und es war unglaublich."
Er schaut unentweg in den dichten Nebel.
"Sie ließen mich tief in mein Inneres blicken. Und sie haben mich befreit."
"Ich fühle keine Reue mehr, denn ich bin nun frei."
Er steht auf und wankt in den Nebel, der ihn in sich aufnimmt.
Ein blaues Flimmern. Ein grelles Licht. Ohrenbetäubende Stille. Der Druck von Tonnen lastet auf jedem Zentimeter meines Körpers. Dann nichts mehr.