- Anmerkungen zum Text
Diese Kurzgeschichte entstand in einer Deutschstunde in der 12. Klasse
Der Farbige
Ich laufe durch die Stadt. Die Stadt ist schön. Gleich bin ich an meinem Ziel angekommen. Gleich. Mein Ziel? Weiß ich nicht so genau. Ich schau an mir herunter. Ich sehe eine braune Hose, ein braunes Hemd. Die Schuhe sind, wie sollte es auch anders sein, braun. An einem Schaufenster bleibe ich stehen und betrachte mich. Mein Gesicht ist eingefallen, bleich und ausdruckslos, meine Haare.. Welche Haare? Ich laufe weiter. In mir sieht es genau so farblos und kalt aus, wie die Fassaden der Stadt sind. Alles braun. Keine Emotionen, keine Gefühle, keine Menschen. Ich bin alleine. Physisch und psychisch. Ich laufe weiter. Ich sehe keine Menschen, nur leere Gebäude und Läden, die eigentlich um diese Uhrzeit voll sein sollten. Voller Emotionen - farbigen Emotionen. Voller Gefühlen - farbigen Gefühlen. Voller Menschen - farbigen Menschen. Doch sie sind leer. Ich bin überfordert. Ich setze mich. In der Hoffnung, dass mich jemand findet. Es findet mich niemand. Ich laufe weiter. Ich höre Stimmen. Ich folge den Stimmen. Die Stimmen kommen mir bekannt vor. Sie geben mir ein Gefühl. Ein Gefühl von Heimat, von Zuneigung und von Schutz. Jetzt sehe ich auch die Personen. Sie sind braun. Allesamt braun. Ich stelle mich zu ihnen und lausche deren Worten. Ich verstehe sie nicht. Die Stimmen kamen mir bekannt vor, deren Sprecher so fremd wie nie zuvor. Die Stimmen fragen mich etwas, ich will antworten, doch finde nicht die richtigen Worte dafür. Was machst du heute? Ich antworte nicht. Bist du behindert? Was du heute machst habe ich gefragt? Ich antworte nicht. Junge, weißt du wer hier mit dir redet? Antworte mir! Ich antworte. Tut mir leid, bin neben der Spur. Die Entschuldigung haben sie angenommen, ich habe sie aber nicht ernst gemeint. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart leer. Keine Freude, keine Trauer, keine Leichtigkeit, keine Sorgen, nichts. Ich höre weiter zu, nehme mich zurück. Ich schau in ihre Gesichter und ich sehe zum ersten mal was sie wirklich sind. Braune Vollidioten. Bin ich auch so einer? Will ich das sein? Nehmen sie mich auch so wahr? Nehmen sie mich überhaupt wahr? Und was ist mit meiner Leere, sehen sie das auch? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts. Ich spüre ein Gefühl von Heimat, von Zuneigung und von Schutz. Ich sehe einen Mann. Keinen gewöhnlichen Mann. Nicht einen von denen. Ich sehe einen Mann. Einen Mann voller Emotionen, farbigen Emotionen. Voller Gefühlen, farbigen Gefühlen. Ich fühle mich wohl. Die Braunen pöbeln den farbigen Mann an. Der farbige Mann ignoriert es und läuft weiter. Die Braunen fühlen sich provoziert von der Art und Weise wie der farbige Mann mit ihnen umgeht. Sie werden handgreiflich. Ich stehe da. Wie angewurzelt. Ich kann mich nicht bewegen. Ich will mich bewegen. Der farbige Mann schaut mir in die Augen, so hat mich noch nie jemand angeschaut. Ich fühle mich durchschaut von ihm. Ich fühle mich verstanden. Er schaut mir in die Augen. Und lächelt. Der farbige Mann lächelt mich an. Die Braunen schubsen ihn, schlagen ihn. Und der farbige Mann lächelt den Braunen an. Mich. Den Braunen. Ich kann mich immer noch nicht bewegen. Physisch nicht, psychisch schon.