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Der Fall Joseph Willett
DER FALL DES JOSEPH WILLETT
Justus Eifler
01. 11. 2014
Das Ziel dieses Dokumentes ist das Brechen des Schweigens eines Mannes publik zu machen, der in nationalen Medien als einer der schlimmsten Psychopathen des ein-undzwanzigsten Jahrhunderts in England betitelt wurde. Nun, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Ich bin Psychologe, einer der Besten, wenn ich das mal so sagen darf. Nun, vor etwa zwei Jahren bekam ich einen meiner größten Fälle — Joseph Willett, Engländer, zu Zeiten 27 Jahre alt, schlank, groß, blond, blauäugig, markantes Gesicht mit scharfen Wangenknochen. Erlauben sie mir bitte, kurz abzuschweifen.
Sie haben bestimmt schon in den Werken von berühmten Autoren und Dichtern in jeglichen Medien von diesen unberechenbaren Psychopathen gehört — von einem Charles Dexter Ward von Lovecraft, einem Ego des Edgar Allan Poe’s oder auch nur von einem Hannibal Lector im Schweigen der Lämmer. Sie hörten bestimmt auch schon mal von diesen Aalglatten, immer gerade stehenden Soziopathen — die Sorte, die gemäß der feinen Englischen beim Tee- oder Biertrinken den kleinen Finger spreizt, wie Sherlock Holmes, oder Alex Delarge. Wenn sie sich nun irgendwo in ihrem Umfeld umschauen, werden sie merken, dass es diese Menschen nicht gibt. Es gibt niemanden, der zu seinem Ururgroßvater mutiert, niemand kann ein Herz in der Hölle hören und auch niemand hat in ihrem Umfeld schon einmal eine menschliche Leber gegessen. Was die Soziopathen angeht dasselbe — es gibt keine Menschen, die sich nur von Tee und Keksen ernähren und anhand ihrer Schuhgröße ihren IQ ausrechen können, nicht wahr?
Stimmt! Und doch gibt es sehr viele Menschen, die sich ein Leben als solch ein Mensch als sehr schön vorstellen können. Es gibt Menschen, die den Wunsch haben, ein Sozoipath oder Psychopath zu werden. Die Meisten jedoch bleiben normal, und das ist auch gut so! Wieso? Weil das Leben eines psychisch Kranken bei Weitem nicht so interessant ist, wie man es sich vorstellt.
Doch Joseph Willett war wahrscheinlich der Mensch, der am nähersten an einen Bilderbuch-Horrorpsycho rankam. Doch erst einmal sollte ich seine Geschichte er-zählen.
Willett zog eines Tages im November 2006 in einer Gaststätte in Briggam ein, eine mittelgroße, dennoch sehr unbekannte Stadt in England — nördlich von Bristol, östlich von Oxford, Manchester nicht unnahe, und somit ebenfalls in der Nähe der höchst verschrienen und gemiedenen Stadt Dunwich. Das ein unbekannter, junger Mann von einer schmächtigen Statur in einer Arbeitsstadt, wie sie Briggam war, einfach so auftauchte und in einer Gaststätte einzog, war nicht gerade gewöhnlich. Die einzigen Daten, die er angab, war sein Name und sein Alter, den Rest — seine Herkunft, Einnahmequellen usw. — ließ er aus. Er hatte rückblickend gesehen Glück, dass die Vermieterin Mrs. Mitters nicht misstrauisch gegenüber diesem sehr neutral, und doch in einer gewissen Weise sympathisch und charmant wirkendem jungen Mann war.
Er war ein friedlicher Gast, bis man eines Tages im Sommer des Jahres 2008 ihn regelmäßig mit einer sehr lauten, ihm, einem Mann, der eine nicht gerade maskuline Stimme besaß, ungewöhnlich tiefen Stimme schreien hat hören können. Es waren nie Worte, nur Aufschreie, die nur zehn oder fünfzehn Sekunden anhielten. Niemand wusste, was er dort tat.
Am Ostertag 2009 wurde es dann jedoch für Mrs. Mitters zu viel. Zwar war man mittlerweile an diesen Schrei, der circa einmal in der Woche kam gewöhnt, und es war auch nicht der Fall einer längeren Dauer, nein — Mrs. Mitters feierte mit einigen Freunden das Osterfest, und die Gäste fühlten sich nach diesem Schrei so unwohl, dass sie nicht von der Bitte ablassen konnten, die Vermieterin solle doch mal nachsehen, ob alles stimmt.
Sie klopfte also an der Zimmertür ihres Untermieters an — nichts. Sie sagte etwas, an dass sie sich später nicht mehr erinnerte — keine Antwort. Sie nahm ihren Schlüssel und ging in das Zimmer rein. Joseph Willett saß da, auf seiner Couch, in seinem kleinem Zimmer, vor einem kleinen Wohnzimmertisch. Das Zimmer war voller Staub, es wurde offensichtlich seit Tagen nicht mehr gelüftet und es herrschte eine Unordnung sondergleichen. Und inmitten dessen der Wohnzimmertisch, darauf, im Zentrum Willetts Blicks, menschliche Glieder! Finger, sogar einige Zehen, teilweise angebissen. Mrs. Mitters fiel bei diesem Anblick sofort in Ohnmacht.
Die Gäste bemerkten ihr langes Fehlen erst spät, sie gingen zum Zimmer und fanden sie bewusstlos auf dem Boden liegend. Im offenen Zimmer immer noch Joseph Willet, auf seiner Couch sitzend. Er hatte die Anwesenheit seiner Vermieterin wohl gar nicht bemerkt.
Mrs. Mitters und Joseph Willett wurden etwa gleichzeitig abgeführt, jedoch beide unter anderen Umständen. Mrs. Mitters wurde von der Ambulanz in das Krankenhaus in Briggam gebracht, während ein Polizeiwagen Willett auf das Polizeipräsidium in Dunwich brachte. Dort komme ich ins Geschehen. Ich sollte Willett zum Reden bringen.
Das erste Mal, als ich ihn sah, war sehr verschreckend. Er sah anders aus, als auf den Fotos, die Mrs. Mitters der Polizei gab. Diese Bilder sollten auch in den zahlreichen lokalen Berichten der Boulevard-Zeitungen verwendet werden, denn natürlich gab es einen riesigen Aufschrei, und in ganz Südwest-England gab es für vier Monate kein anderes Gesprächsthema als den Mörder ohne Vergangenheit. Die Fotos waren überall zu sehen, doch was ich zu sehen bekam, war etwas gänzlich anderes. Er hatte auf einmal stechend gelbe Augen, schwarzes Haar und war sogar noch dünner, doch an dem markanten Wangenknochen stellte ich fest, dass es eindeutig Mr. Willett sein muss. Er erzählte mir viel, doch wich meinen Fragen immer sehr gekonnt aus. Wem die Glieder gehörten, wer er eigentlich war, dass alles wollte er mir nicht sagen. Er sagte mir immerzu, er fühle sich wie ein Tier in einer Tierhandlung, doch ich verstand ihn nicht wirklich.
Es gab natürlich zahlreiche DNA-Tests, welche auch ihren Sinn erfüllten, doch dieser war nicht sehr stimmig. Man hatte ein paar Körperteile eines vermissten Deutschen, eines Franzosen, einige kamen aus Schottland und zwei Engländer waren auch dabei. Hatten wir hier die Vergangenheit von Mr. Joseph Willett? Ich weiß es bis heute nicht, ich weiß nicht mal, ob er so etwas, wie eine Vergangenheit hatte.
Später sollte ich in Bristol dann durch den RockTop-Advertiser erfahren, dass Willett eine Art Biest war. Er war einfach verschwunden. Hatte nur einen Zettel und ein Buch hinterlassen. Was darauf stand, sollte ich erst einige Tage nach der Schlagzeile erfahren.
Zwei Polizisten überreichten mir den Zettel und das — wie bei einem Tagebuch — verschlossene Buch, welches sie nicht ohne Weiteres mit Gewalt öffnen wollten. Auf dem Zettel stand, das Buch sei für mich und das Willett den Schlüssel dazu in einem meiner Jacketts versteckt hat. Ich fand ihn und bekam somit Zugang zu den Gedanken einer Kreatur, die ich nicht mehr als Sozio- oder Psychopath bezeichnen möchte, da ich mir nicht mehr sicher bin, ob das, was ich behandelte überhaupt ein Mensch war. Hier das Geschriebene:
Wenn sie dies hier lesen, werde ich nicht mehr sein. Ich versuche hier meine Lebensgeschichte so kurz wie möglich zu verfassen. Vor einigen Jahren hat mich ein Mensch, dem ich nahestand, und dem ich viel Leid zugefügt habe verflucht, dass ich mein Leben lang eine Aufgabe verrichten soll, die Menschenunwürdig und grausam sein wird. Bald fing ich an, mich zu verändern, und, auch wenn es unfassbar ist, wurde ich an manchen Tagen zu einem kleinen Tier. Ich weiß nicht, was, wahrscheinlich eine Katze, jedoch konnte ich mich in dieser Gestalt in keinen Spiegelbildern sehen. Ebenso wenig konnten mich die Menschen sehen. Niemand sah mich, niemand, außer die, die ich besuchen musste. Ich wachte immer in einem Krankenhaus auf, wenn ich in diesem Zustand war, und hatte nie eine Ahnung, wie ich dort hinkam. Ich weiß, dass dieser Zustand nicht nur eine Traumerscheinung war, da ich Menschen in diesem Zustand später in meinem Leben tatsächlich begegnet bin. Ein eigenartiger Drang führte mich jedenfalls immer zu bestimmten Krankenhauszimmern. Wenn ich es irgendwie schaffte, in sie reinzukommen, und den Patienten sah, war ich immer wie vom Schock getroffen und konnte mich nicht mehr bewegen, obwohl ich die Patienten nie kannte. Doch diese Patienten waren immer etwas besonderes — sie waren die Einzigen, die mich sehen konnten, und, Gott!, sie haben geschrien bis ich wieder normal wurde und in meinem Zimmer aufwachte. Wenn sie dies hier lesen, werde ich nicht mehr sein, da ich mir mein Leben nahm. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen, denn immer wenn ich eine Zeitung sehe, ist sie auf den Todesanzeigen aufgeblättert, egal, wie viele verschiedene ich sehe. Und immer, immer steht dort die Todesanzeige mit dem Bild von dem Patienten, den ich als letztes aufsuchte. Ich bin ein Todesbote.