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Der Fall eines Berges
Unsere Geschichte soll von einem Berg handeln. Einem großen, schwerfälligen Berg, wie man ihn überall auf der Welt finden und bestaunen kann. Wie groß er ist, soll uns nicht kümmern, denn er ist größer als alles andere, wie schwerfällig er ist, soll uns egal sein, denn fallen wird der Berg ohnehin nie. Der Weise sagt, der Berg, den wir betrachten, wie alle anderen, sei ewig, sei zeitlos. Die Zeit zieht an ihm vorbei ohne ihn zu berühren, in einem einzigen, schnellen Rausch, und ist dem Berg so nah wie sie fern ist, nun nah, bald fern, mal umgekehrt, vielleicht keines von beiden, vielleicht beides. Es ist dem Berg auch egal, davon können wir ausgehen. Wie viele Zeitalter hat der Berg wohl schon gesehen? Wer kann das sagen? Der Berg nicht, denn zum Glück für ihn hat er keinen Mund und überhaupt auch keine Ohren und keine Augen, um die Zeitalter wahr nehmen zu können. Nein, keinen Mund; er kann die Lüfte nicht schmecken, die ihn umgeben, nicht die saftigen Wiesen und dichten Wälder, die er beherbergt, nicht die süßen Wasser in seinem Schoß, nicht die salzigen Wasser, die ihn einst formten; er kennt den Geschmack der Welt nicht. Nein, keine Ohren; er kann die Winde nicht hören, die durch seine Glieder pfeifen, stürmen und tosen, nicht die Vögel, die voller Lebensglück jeden Tag von Neuem ihr Lied anstimmen, nicht das Wild, das sich auf seinem Rücken sonnt und dem er der Schlafplatz ist und der Hirte zugleich, nicht das Plätschern der Bäche und Flüsse, die er gebiert, um mit ihnen das Leben zu wecken; er kennt den Klang der Welt nicht. Nein, keine Augen; er kann die Wolkentürme nicht sehen, die stets seine Glieder streicheln und ihn warm halten, voller Liebe zudecken, nicht der Schnee, der weißes Glück an die Stellen bringt, an die das Grüne nicht hinanreicht, nicht das Leben, das rings um ihn und auf ihm und gar in ihm, in buntester Vielfalt und Glückseligkeit aus seiner kräftigen Erde erwächst. Nein, er kennt den Glanz der Welt nicht. Was ist dem Berg Frühling, Sommer, Herbst und Winter? Was sind dem Berg die Zeitalter?
Unser Berg nun war ein besonderer Berg, er war der größte und schwerfälligste aller Berge. Nichts gab es, das unsern Berg überragte, nichts gab es, das schwerer fiel als unser Berg, falls er denn fallen würde. Er stand inmitten seiner ungleichen Gleichen. Gleich, denn es waren auch Berge, ungleich, denn es waren kleinere Berge. Und wie man das von Bergen kennt, von jedem Berg außer unserem, sind Berge ungeheuer neidisch, denn auf wen fällt der Ruhm, wenn nicht auf den Größten? Und welche Möglichkeit soll ein Berg haben, um zu wachsen? Keine, dachten sich die Berge und wurden grün vor Neid. Dieser Berg, so sagten sie, habe mehr Leben als alle anderen, und sie meinten damit, er beherberge mehr Leben, denn er war größer, bot mehr Platz, mehr Grün, mehr Weiß, mehr Sonne, mehr Wasser, mehr Vögel, mehr Tiere, mehr Winde, ja ein Meer von Leben. Also baten sie unseren Berg, sie zwangen unseren Berg, ihnen etwas abzugeben von seiner Pracht. Etwas Platz, etwas Grün, etwas Weiß, etwas Sonne, etwas Wasser, etwas Vögel, etwas Tiere, etwas Winde, ja einige Seitenarme seines Meers von Leben. Es geschah nicht oft, genau genommen nicht mehr als dieses eine Mal, daß man unseren Berg zu etwas zwang, denn ohne Mund, Ohren und Augen ist das Zwingen eine schwere Sache. Und deshalb war es ein Glück, daß unser Berg solcherlei Glieder nicht besaß. Doch da Berge nun mal so starrsinnig sind, vergaßen die anderen Berge, daß ihnen diese Glieder fehlten und erfanden den Zwang. Unser Berg nun, wußte nicht, wie ihm geschah. Nichts werde ich euch abgeben, sagte er, denn wenn ich es machte - ihr würdet doch nichts von dem verstehen, was ich euch zuteil werden ließe. Freuen würdet ihr euch über das neu gewonnene, und wüßtet es doch nicht zu nutzen. Besitzen würdet ihr mehr und wissen würdet ihr mehr, doch Verstehen würdet ihr nichts. Ich bin der größte Berg und das ist mein Verdienst. Ich liebe mich so, wie ich bin, und nicht kleiner. Warum neidet ihr mir? fragte er. Liebt ihr euch denn nicht?
So kam es, daß sie ihn aus ihrer Mitte verstießen, von seiner Größe geblendet, ihn nicht mehr verstehend und deshalb kalt verachtend. Keinen Grund können wir nennen, als den Neid, den Neid darauf, daß sie nicht verstanden zu wachsen. Sie traten auf der Stelle, weil sie keinen Weg fanden, sie tappten im Dunkeln, weil sie das Licht nicht sahen, sie suchten seinen Tod, anstatt ihr Leben.
Lange nun stand unser Berg allein auf der Welt und langsam starb alles Leben auf ihm ab, denn da rings um ihn nichts mehr war, gab es auch keinen Grund, auf ihm zu sein. Was sollte das Leben in solcher, einsamer Einöde? Und vor allen Dingen: was soll die Größe, wenn sie keiner sieht? So verschwand das Grün, die Tiere, das Wasser und alles andere und am Ende die Sonne und mit ihr das Licht und die Wärme. So leblos daliegend kam es nun, daß der Berg eine Verwandlung erfuhr. Traurig wurde er, so tief traurig, wie das dunkelste Tränenmeer der Welt, so tief betrübt wie die Schwärze des Weltalls und von solcher Bitterkeit, wie sie selbst der Tod nicht schmecken kann. Einsam war er, vom Leben verlassen, in finsterster Düsternis daniederliegend und allein gelassen, wie ein gestürzter König. Seine Oberfläche verwandelte sich in Eis, und Schicht für Schicht fror der Berg nach innen ein, bis sein Innerstes, sein Herz sich im festen Griff der Eiseskälte der Einsamkeit befand, die sich mit kühler, emotionsloser Gewalt, quälende Schmerzen verursachend zusammenzog, bis sich unser Berg, resignierend, den Triumph aller über ihn ohne Widerrede anerkennend in einen kalten leblosen Eisberg verwandelte, inmitten eines Meeres des Nichts, eines Meeres von Tod und Vergessen. So vegetierte unser Berg nun Zeitalter für Zeitalter vor sich hin, und auch wenn dies einem Berg nichts bedeutete, so spürte sogar das Nichts um ihn herum das gefühlslose Vibrieren des schlafenden Riesen. Schlaf war es, in dem sich unser Berg befand, nicht der Tod, denn Tod unterscheidet man vom Schlafen allein durch das Träumen, was das letzte lebendig macht, wenn auch an einer allzu leicht zu überschreitenden Grenze, und was dem ersten hingegen fehlt, wie der Schatten der völligen Düsternis.
Unser Berg träumte vom Leben, dessen Vater er einst war, von seinen Kindern, dem Grün, dem Weiß, dem Tier, dem Vogel, dem Wind, dem Wasser, der Sonne, des Lichts und seiner Größe. Es war ein bewegender Traum, ein schöner Traum, doch da es das Schöne nicht gäbe, wenn das Häßliche fehlte, wandelte sich der Traum in einen Alptraum, einen Schrecken, der ihn mit der Erinnerung an seine ungleichen Gleichen, seine kleinen Brüder und Schwestern, quälte. Ihre Forderungen kamen in seinen Sinn. Der Zwang. Ihre Vorwürfe, die sie ihm ob seiner Größe machten. Der Moment, an dem sie ihn verließen. Seine Einsamkeit. Das Eis. Er fing an zu schmelzen. Und in diesem Augenblick geschah es, daß eine Stimme sich in seinem Innersten regte und zappelte, sich wand, dazu drängte auszubrechen. Und alle Gesetze brechend, der Natur, die ihn verlassen hatte, zum Trotze, ließ er seinen Emotionen freien Lauf, schickte die Stimme nach draußen, rief eine schrecklich quälende, rasende Schmerzen bereitende Frage in die Welt und erbebte in einem derart lauten, ohrenbetäubend infernalischen Krachen, das die ganze Welt in ihren Grundfesten erschütterte. Und dieser Befreiungsschlag, dieser Schrei gegen das Schicksal, dieses Aufbäumen gegen die Ohnmacht schließlich, brachte den Eisberg zum Zerbersten. Er zersprang in unzählige Stücke, jedes davon ein einziges Trauerspiel und gnadenlos alles Leben vernichtend, alles Glück zerschneidend und alle Größe zerberstend. Unser Berg war der Ewigkeit entronnen. Der Berg war gefallen.
Soll ich mich hassen, weil ich mich liebe…?