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Der Fahrstuhl
„Tschüss, mach’s gut, wir sehen uns morgen wieder!“, sagte Tina, während sie ihre Jacke vom Kleiderständer nahm und sich überstreifte.
Ihre Kollegin entgegnete ihr: „Hast du die Aufträge noch fertig gemacht?“
„Ja klar, die Kundin war zwar echt ätzend, aber ich hab’s noch gut über die Bühne gebracht.“ Tina hatte ein Händchen für Kunden. Eine soziale Ader hatte sie schon immer und das kam ihr bei der Kundenberatertätigkeit zu Gute. Sie wollte gerade das Büro verlassen und hatte ihre Hand bereits am Türgriff, als Anna ihr noch nachrief: „Nimmst du jetzt endlich mal den Aufzug? Wenn du dich nie mit deiner Angst konfrontierst, wird das nie besser.“
Tina hasste Aufzüge und mied sie wie ein Regenwurm die Sonne. Nicht in etwa, weil sie Aufzüge eklig fand oder zu nah an anderen Menschen stand. Es war die Enge. Wenn sie um sich herum keinen Platz hatte, zog sich alles in ihr zusammen und verkrampfte sich. Das war schon, seitdem sie denken konnte, so. Dadurch hatten sich bereits zahlreiche peinliche und unangenehme Situationen ergeben.
Einmal war sie in einer überfüllten U-Bahn gewesen. Mal abgesehen davon, dass so viele Menschen auf einem Haufen echt unangenehm waren, machte die Kombination mit ihrer Klaustrophobie die U-Bahn Fahrt zum Horrortrip. Sie nahm zwar keine Drogen zu sich, stellte sich aber so oder so ähnlich, eine schlechte Erfahrung damit vor.
Tina verabschiedete sich und verließ das Büro. Los, sei nicht so feige! Du bekommst das schon hin. Anna hat Recht. Wenn ich das jetzt nicht endlich angehe, wird sich da nie etwas ändern. Mit diesen Gedanken schritt sie zum Aufzug. Obwohl es noch gut fünfzig Schritte zum Aufzug waren, spürte sie bereits jetzt schon ein gewisses Unbehagen. Vor der Fahrstuhltür angekommen, betätigte sie mit schwitzigen Fingern den Fahrstuhlknopf. Sie fuhr seit mehreren Jahren nicht mehr Aufzug. Einerseits ihrer schlanken Figur zuliebe und andererseits, um sich nicht dieser Angst auszusetzen. Es ist bloß ein Aufzug. Kein Grund, Panik zu schieben. Hoffentlich sind keine Kollegen im Aufzug! Wenn da jemand drin ist, geh ich einfach wieder weg. Die Anzeige des Aufzuges zeigte eine Drei an. Sie war in der fünften Etage und der Aufzug sollte jeden Augenblick dagewesen sein.
Der innerliche Druck stieg an und sie haderte mit sich, nicht einfach umzudrehen und zu gehen. Nein! Du steigst in diesen gottverdammten Aufzug ein! Komme was wolle. Mit diesen Worten gingen die Türen des Aufzuges auf. Leer. Niemand war im Aufzug. „Fuck“, murrte sie vor sich hin und schritt zögerlich in die Kammer der Angst. Die Türen schlossen sich und es gab, abgesehen von der Tür-Öffnungs-Taste, kein Zurück mehr. Ihr Atem flachte bereits etwas ab und ihre Hände nahmen an Feuchtigkeit zu. Mit einem kleinen Satz setzte sich der Aufzug in Bewegung und fuhr abwärts. Das typisch komische Gefühl dabei hatte sie schon fast wieder vergessen. Dritte Ebene, Zweite Ebene, der Aufzug bewegte sich zu ihrem Glück relativ schnell. Jede Sekunde fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit. Stillstand. Nein, bitte nicht. Bitte sag mir, dass dieses Drecksteil nicht stehen geblieben ist. Das darf nicht wahr sein. Ihr Atem wurde noch flacher. „Fuck“, stieß sie zwischen den schnellen Atemzügen hervor. Was jetzt? Was kann ich tun? Hastig zerrte sie ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche. Kein Empfang. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Durch die an Hyperventilation grenzende Atmung wurde ihr schwummrig und ihre Knie weich. Sie ließ sich in eine Ecke absacken und krümmte sich zusammen.
Sie verlor ihr Zeitgefühl und hätte im Nachhinein nicht mehr sagen können, wie lange sie in diesem Fahrstuhl zusammengekauert abgewartet hatte. Irgendwann kam ein laues Lüftchen in ihre persönliche Folterkammer und sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Sie blickte auf und wusste, der Horror war vorbei, denn Annas besorgtes Gesicht blickte sie an.