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Dieses ganz alltägliche Erlebnis grenzt an Raub.
Der Fahrschein
"Die Fahrscheine bitte."
Ich unterbreche das Mau-Mau-Spiel mit meiner Tochter in der Münchner U6 und stelle erschrocken fest, dass meine schwarze Mappe einschließlich Monatskarte zu Hause geblieben ist. Der Kontrolleur nimmt meine Personalien entgegen. "Ich gebe ihnen quasi einen Fahrschein, damit sie die Fahrt fortsetzen können."
Der ist ja ganz nett, denke ich.
Später sehe ich mir diesen Fahrschein genauer an und bemerke, dass das Entgelt DM 60 ausmacht. Die Rückseite klärt mich auf: Bei Vorlage einer Monatskarte in der Poccistrasse 1 ist nur eine Gebühr von DM 5 zu bezahlen.
Ist doch okay.
Drei Tage später, Poccistrasse 1, MVV-Beschwerdestelle. Die mächtige, dunkelbraune Fassade erinnert mich an das Einfahrtstor der Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Auf meinen zaghaften Druck hin öffnet sich eine winzige Türe nach innen. Ich quetsche mich hindurch. Den Trittspuren im Staub folgend steige ich zwei Treppen hinauf. Dann - ein Korridor, drei Türen mit je einem Rotlicht darüber, schiefe Plastikbänke, Düsternis - eine Frau verlässt, verbitterte Worte in einer mir unbekannten Sprache von sich schleudernd, den mittleren Eingang und hastet die Treppe hinunter.
Wo bin ich hier eigentlich?
Kurz darauf springt ein Licht von Rot auf Grün, das Licht in der Mitte. Ich bin dran.
Soll ich nicht doch lieber woanders?
Zu spät, bin schon drin. Die Würfel sind gefallen. Mich umfängt ein nüchterner Büroraum. Durch die Panzerglasscheibe hindurch erkenne ich zwei Fenster, eine mit "Fluchtweg" gekennzeichnete Türe und einen Schreibtisch.
Meine Bank ist weniger gut gesichert, stelle ich fest.
"Ich komme gleich." Eine dralle Frau Mitte Fünfzig gießt noch schnell eine Zimmerpflanze.
Ziemlich mickrig, die Pflanze.
"Ja, ähm, ich war am Wochenende mit meiner Tochter unterwegs und hatte die Fahrkarte nicht dabei. Hier ist die vom März." Aus meiner schwarzen Mappe entblättere ich gleich mehrere Monatskarten, alle aktuell aus dem gleichen Jahr.
"Das sind ja lauter übertragbare Karten, die können wir nicht akzeptieren." Ich bin sprachlos.
"Ist das ihr Geburtsdatum?" Sie entnimmt es meinem provisorischen Fahrschein und tippt es in den Computer, dessen hässliche Rückansicht mich durch das Panzerglas hindurch anstarrt. "Es war bei ihnen das erste Mal, DM 30. Beim zweiten Mal DM 60, beim dritten Mal Strafanzeige." Ich bin beeindruckt sprachlos. Sie blickt mich treuherzig an.
"Aber, ich habe doch eine gültige Monatskarte, oder?"
"Wenn sie eine persönliche Monatskarte haben, kostet es bei mir nur DM 5." Sie kreuzt auf einem Formular 'persönliche Karte' an und schiebt es mir flugs unter dem Panzerglas hindurch. Ich lese: Bestellschein für ein MVV-Abo. "Vielleicht ist das ja das Richtige für sie", entgegnet sie listig. Mein endokrines System bereitet sich auf einen Kampf vor. Ich unterdrücke aufwallende Wut- und Würgegedanken.
Vielleicht kennen sie keine andere Möglichkeit, einen Dauerkunden zu gewinnen, flüstere ich mir beruhigend zu.
"Ja, aber die Monatskarte gilt doch den ganzen Monat." "Sie können mir aber nicht beweisen, dass nicht jemand anderer zu der Zeit, als sie die Karte nicht vorzeigen konnten, damit gefahren ist." Ich bin geplättet. Mir wollen einfach keine Widerworte mehr einfallen und starre durch die milchige Trennscheibe nach drinnen.
"Möchten sie gleich bezahlen?" "Ich habe nur 5 DM bei mir." "Möchten sie noch einmal wiederkommen und bezahlen, oder überweisen?
Ich will bestimmt nicht wiederkommen.
„Sie müssen aber innerhalb einer Woche überweisen, sonst werden es automatisch wieder DM 60."
Ja, das macht wirklich Sinn.
Man tut ja nur seinen Job, wird mir versichert. Ich unterdrücke die geschichtliche Anmerkung, dass wir das in Deutschland nicht das erste Mal hören, lasse mir ein Überweisungsformular über DM 30 durchreichen und frage, wo ich mich beschweren kann. Sie wirkt beleidigt. Das „Auf Wiedersehen“ schenke ich mir. Beim Hinausgehen fällt mir die Ausländerin mit den wilden Worten ein. Verdrossen folge ich den Spuren im Staub zum Ausgang.
Zu Hause klage ich meiner Lebensgefährtin mein Leid. "Du musst zahlen", sagt sie inbrünstig.
Wirklich aufbauend, so eine Zweierbeziehung.
Am nächsten Morgen mache ich mich, immer noch leicht verstimmt, auf den Weg zur Arbeit. Am Dachauer S-Bahnhof empfängt mich eine gelangweilte, im Selbstverständnis aber ungebrochene Lautsprecherdurchsage: "Sehr geehrte Damen und Herren. Der Eilzug von Nürnberg nach München erhält wegen Bauarbeiten fünf bis acht Minuten Verspätung."
Mein Anschluss ist dahin.
Schon wieder Verdienstausfall.
Irgendwie komme ich mir ausgeraubt vor.