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Der fahle Glanz des Moores
Jeden Sonntag fahren wir raus zum Moor, seit ein paar Monaten machen wir das. Es ist nicht weit, nur eine Viertelstunde mit dem alten Peugeot. Wir laden jeweils Schaufel und Wasserflaschen ein, ich setze mich auf den Beifahrersitz und mein Onkel fragt mich, ob ich mich eingecremt habe. Die Sonne ist stark im Sommer. Ich nicke und stecke mir einen Streifen Kaugummi in den Mund, damit der nicht so trocken wird, während wir arbeiten. Aber heute habe ich keinen Kaugummi und ich weiß nicht, wann ich wieder einen bekomme, weil der Laden so weit weg ist. Mein Onkel fragt nicht, ob ich mich eingecremt habe.
Ich überlege, was er dort im Moor vergraben hat. Es muss etwas Wertvolles sein. Vielleicht Schmuck oder Geld, eine kleine Schatulle, so stelle ich es mir vor, die er vor den Augen der Polizei und seiner Feinde hat verbergen können. Sicher bin ich mir nicht, denn wir graben jedes Mal an einem anderen Ort, nie am selben wie dem vorherigen Sonntag. Ich frage mich, ob es gar nicht um einen Schatz geht, sondern um etwas anderes, das nur für ihn selbst einen Wert besitzt. Es hat etwas mit seiner Vergangenheit zu tun, eine Erinnerung, die er vergessen hat, und jetzt weiß er nicht mehr, wo er sie findet, und gräbt wie ein Besessener, nur um sich abzulenken. Oder vielleicht vergraben wir bei jedem Ausflug einen Teil meines Onkels, legen Stück für Stück von ihm in die feuchte Erde, in den verschlammten Boden draußen im Moor. Verstecken sein altes Ich, sein böses Ich, der Mensch, der er war, bevor meine Eltern gestorben sind und er mich aufgenommen hat. Damit ihn niemand mehr findet. Aber ich weiß jetzt, dass sein Plan nicht funktioniert hat.
Am heutigen Sonntag hat mein Onkel jemanden umgebracht. Die Leiche liegt noch im Wohnzimmer. Heute Morgen hat es an der Tür geklingelt, bei uns klingelt sonst niemand. Ich habe meinen Onkel überrascht angesehen und er ist aufgestanden, hat seinen Finger auf die Lippen gelegt. Mit einem Ausdruck im Gesicht, dass ich es nicht gewagt habe, den Löffel zurück in die Schale Fruit Loops zu stecken.
Ich habe gesehen, wie seine Hand zum Gürtel wanderte, dort wo das Messer steckt, das er stets bei sich trägt. Selbst wenn er schläft steckt es dort. Sein Körper war angespannt, so habe ich ihn noch nie gesehen, als wäre er irgendwie muskulöser geworden und ich glaube, er zitterte, während er langsam die Hand zum Knauf ausstreckte. Wie ein lauerndes Tier, das Witterung aufnimmt. Ich konnte sein Deodorant riechen, es stach mir plötzlich scharf in die Nase und vor der Tür scharrte jemand mit den Schuhen auf der Veranda.
Mein Onkel riss die Tür auf und im gleichen Augenblick fuhr das Messer in seiner Faust nach vorne. Stach blitzschnell zu, so dass ich es erst realisierte, als dunkles Blut aus der Seite des Fremden quoll und er zusammensackte, das Gesicht bleich vor Überraschung. Das dumpfe Poltern seines Körpers auf die Dielen bewirkte, dass ich den Löffel zurück in die Schüssel fallenließ.
Mein Onkel riss den Mann an den Schultern durch die Tür, schob sie mit dem Fuß zu und stach ihm mit dem Messer in den Bauch. Ich wusste bis heute nicht, dass Blut so schwarz sein kann. So dunkel und glänzend, fast zähflüssig. Es spritzt nicht heraus, wie in den Filmen, es fließt träge auf den Boden, träge aber stetig, im Schlag des Herzens.
„Wir müssen gehen!“, hat er gesagt, nachdem er mit dem Messer noch zweimal zugestochen hat. Das Blut klebte ihm jetzt an den Händen. An den Händen, die immer so sauber gewesen waren. Kein Dreck unter den Nägeln und jetzt klebte da das Blut dieses Mannes und wenn es nicht dagewesen wäre, ich hätte nicht geglaubt, dass mein Onkel mit dem Messer zugestochen hat, sondern ein anderer, ein Unbekannter. Er wischte sie am offenen Hemd des Sterbenden ab, drückte ihm dabei auf die Brust, dass das Blut schneller aus den Wunden strömte, und ich musste wegsehen, weil mir schlecht geworden war und der Abgestochene so seltsam röchelte.
„Wohin?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
„Raus ins Moor. Da gibt es eine kleine Hütte, dort verstecken wir uns ein paar Tage. Danach schauen wir weiter.“
Mehr sagte er nicht und ich fragte auch nicht nach, ob wir den Mann vielleicht mitnehmen, ihm mit unseren Schaufeln ein Grab ausheben und ihn darin beerdigen sollten, wir konnten ihn ja nicht einfach hier liegen lassen. Aber genau das taten wir.
Also fahren wir raus ins Moor, wie wir es jeden Sonntag tun. Aber heute ist es anders, heute liegt ein Toter im Wohnzimmer unseres Hauses und wir können nicht mehr zurück. Ich vermute, dass die ehemaligen Arbeitgeber meines Onkels ihn fanden. Einmal hat er mir von seiner Arbeit erzählt, aber ich verstand nicht genau, was er da machte. Irgendwas mit zukünftiger Technologie, sie hätten es jetzt auch an Menschen versucht, vorher nur an Tieren, sie seien nun so weit, damit in Serie zu gehen. Ich habe einfach genickt, weil ich nicht wusste, was er von mir als Antwort erwartete. Irgendwann ist er nicht mehr weggegangen, irgendwann ist er einfach zu Hause geblieben und nur noch einmal die Woche zum Supermarkt gefahren. Mehr als essen und schlafen hat er nicht mehr gemacht, und als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er gesagt, es sei etwas schiefgelaufen und er könne nicht mehr hingehen, zur Arbeit.
Wir biegen von der Hauptstraße auf den Feldweg ab und in der warmen Sommerluft dringt der Geruch von Holunder und Zimterle durchs offene Fenster. Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Parkplatz. Dort liegt ein kleiner See mit ganz klarem Wasser, man sieht bis auf den Grund, obwohl der Morast des Moores so nah ist. Ich fand das immer schon faszinierend. Die Libellen, die über das Wasser tanzten, die Mückenschwärme, die in der Abendsonne körperlose, flirrende Formen bildeten. Einmal lag ein toter Hund im Wasser und ich habe mich erschrocken, weil er schon ganz aufgequollen war, sein Fell ausgebleicht, als wäre der See voller Gift. Mein Onkel hat mich wortlos von dem Anblick weggezerrt.
Er bringt den Wagen auf dem Kies zum Stillstand und sagt, ich soll aussteigen. Dann schieben wir den Peugeot zwischen die Bäume, die um den See stehen. Mir tritt der Schweiß auf die Stirn, weil es harte Arbeit ist, den schweren Wagen ins Unterholz zu manövrieren, über alle die Äste und Wurzeln, sodass man seine blaue Farbe vom Parkplatz nicht mehr erkennen kann.
Wir gehen durch das Moor. Es gibt einen geheimen Pfad, den nur wir kennen, abseits des Weges, den die wenigen Ausflügler nehmen. Er führt durch ein Dickicht aus Büschen und hageren Bäumen um den See herum. Ich blicke noch einmal zurück, der Peugeot ist gut versteckt. Nur wenn ich ganz genau hinsehe, bemerke ich ein schwaches blaues Leuchten zwischen den Blättern.
Ich ziehe die Schaufeln hinter mir her, einen Stiel in jeder Hand. Mein Onkel trägt die plastikverschweißten Wasserflaschen und geht voran.
„Wir haben gar nichts zu essen“, sage ich.
„Mach dir keine Sorgen. Ich habe genug Vorräte in der Hütte versteckt.“
„Wieso hast du sie mir nie gezeigt?“
„Die Hütte? Ich wollte nicht, dass du dich mit deinen Freunden dort rumtreibst.“
Ich will sagen, dass ich gar keine Freunde habe, aber schweige und ziehe die Schaufeln weiter hinter mir her. Sie sind schwer, so schwer, aber ich bin froh, dass ich nicht das Wasser tragen muss. Nach kurzer Zeit habe ich die Orientierung verloren. Im Moor sieht alles gleich aus und es stinkt stärker nach fauligen Eiern, je weiter wir vordringen. Der Boden wird zunehmend matschiger und erschwert unser Vorankommen. Meine Schuhe sind schon ganz durchnässt. Die Mittagssonne brennt mir auf Kopf und Nacken, Insekten brummen und zirpen um uns herum. Ich kann sie auf der Haut spüren, sie kitzeln und beißen. Mein T-Shirt ist so nass wie die Schuhe.
Nach unbestimmter Zeit bleibt mein Onkel stehen, stellt die Flaschen ab und zeigt nach vorne zwischen zwei Büsche. „Siehst du? Da ist die Hütte.“
Durch das Grün erkenne ich eine graue Steinwand und ein Dach, das aussieht, als wäre es aus Stroh geflochten. „Hast du sie gebaut?“
Er lacht. „Ich glaube, die steht schon lange da. Keine Ahnung, wer sie gebaut hat. Hier, nimm einen Schluck Wasser, dein Gesicht ist schon ganz rot.“ Er streckt mir eine der Flaschen hin.
Ich nehme sie entgegen, trinke gierig ein paar Schlucke. Schütte mir den Rest der angenehm kühlen Flüssigkeit über Kopf, Brust und Nacken. „Danke.“
„Gehen wir. Es ist gleich da vorn.“
Die Hütte ist rechteckig, der Boden aus gestampfter Erde, und darin befinden sich mehrere Kisten mit Dosen. Erbsen, Karotten, eingelegte Pfirsiche. Eine Tür gibt es nicht. Nur eine schmale Öffnung, dass mein Onkel sich querstellen muss, um mit den Flaschen hindurchzupassen. In der Mitte des spitzen Daches ist ein Loch. Er macht ein Feuer aus trockenen Zweigen, die er bereits in einer Ecke der Hütte zur Seite gelegt hat. Stellt eine der Dosen darauf. Wir essen wortlos, er hat auch an Plastikgabeln gedacht, Partybesteck steht auf der mit bunten Ballonen verzierten Packung. Wir essen, so wie wir das auch zu Hause getan haben, nur dass es dort einen Tisch und echtes Besteck gab.
Ich denke an den Toten im Wohnzimmer. Ich weiß nicht, wieso ich das denke, aber etwas stimmt nicht mit dem Mann, etwas ist falsch an ihm. Es ging alles so schnell und ich konnte ihn gar nicht richtig sehen. Vielleicht hatte ich mich aus Ekel abgewandt, denn ich hatte noch nie jemanden sterben sehen. Aber doch, ich bin mir sicher, er erinnerte mich an jemanden. An wen?
Ich grüble, aber komme nicht darauf. Meinen Onkel will ich nicht fragen. Er sitzt an eine der Kisten gelehnt und döst. Außerdem habe ich Angst, weil er den anderen Mann umgebracht hat und sicher nicht darüber sprechen will. Ich verdränge den Gedanken. Langsam schleicht die Dunkelheit über das Moor. In der Hütte wird es finsterer und dann erhellt nur noch die Glut des heruntergebrannten Feuers die groben Steinquader. Vor der Öffnung gähnt die Schwärze, als würde jegliches Licht auf der Schwelle der Hütte verschluckt.
„Leg dich hin“, sagt mein Onkel, der sich nun erhebt. „Ich hab Isomatten hier. Musst deine nur noch ausrollen.“ Damit wirft er mir eine zu und ich mache es mir in einer der hinteren Ecken, möglichst weit von der Öffnung entfernt, so bequem, wie es geht. Die Matte ist nur sehr dünn und ich spüre die Hitze des Tages durch den Boden aufsteigen. Es ist nicht merklich kühler geworden und draußen geht kein Wind. Die Luft ist zum Schneiden dick. Wenigstens riecht es nicht mehr so intensiv nach fauligen Eiern, der Rauch hat den Gestank aufgefressen und Aromen von verbranntem Holz zurückgelassen. Ich rieche das gerne, weil wir zu Hause einen Ofen haben, mit dem wir im Winter das Haus beheizen.
„Wie lange müssen wir hierbleiben?“, frage ich.
„Nur solange, bis ich sicher bin, dass wir nicht verfolgt werden.“
„Was ist mit dem Mann?“
„Vergiss ihn. Wir machen uns aus dem Staub. Sieh es als Roadtrip, eine Art Abenteuer, wie in dem Film, den wir uns angeschaut haben.“
„Okay.“
„Dann sollten wir jetzt schlafen, damit wir wieder klar denken können.“
„Gute Nacht.“
„Nacht“, sagt er. Ich drehe mich gegen die Wand und sobald ich die Augen schließe, sehe ich noch einmal den Toten vor mir, der dort auf dem Wohnzimmerboden liegt. Aber ich kann ihn nicht richtig erkennen. Sein Gesicht ist unscharf, als blickte ich durch verschmutzte Brillengläser. Kurz darauf bin ich eingeschlafen.
Ich wache auf und habe einen erdigen Geschmack im Mund. Um mich herum Schwärze. Es ist viel kühler jetzt und ich bemerke, dass ich auf dem Bauch liege. Unter mir befindet sich lockere Erde, nicht der Schaumstoff meiner Isomatte.
Schwerfällig drehe ich mich auf den Rücken, rieche stinkende Nässe in meinen Klamotten und taste neben mir herum, aber da ist auch Erde. Oder ist das die Kälte der Steinwände, unter meinen Handflächen? Vielleicht hat es geregnet und das Wasser ist in die Hütte gesickert. Ich liege immer noch in der Ecke. Aber die Wände verlaufen parallel zu meinem Körper.
Dann höre ich das Scharren. Über mir ist ein schwaches Licht, doch ich kann nichts erkennen. Mit zitternden Fingern streiche ich mir über die Augen, doch reibe nur Dreck in sie hinein dass es brennt, also höre ich auf damit. Etwas Schweres klatscht auf meine Brust. Das Scharren wiederholt sich. Es klingt wie ein Schaufelblatt, das sich in den weichen Boden gräbt. Wieder fällt etwas auf mich herab. Diesmal direkt auf mein Gesicht und ich muss spucken und husten.
Ich will schreien, aber kein Laut verlässt meine Lippen. Habe keine Luft mehr in den Lungen, Angst, dass ich mich am Dreck verschlucke, dass er langsam meinen Hals ausfüllt. Weich und glitschig und kalt. Dass er hinabrutscht, bis er in meinen Magen vordringt und ich selbst zu Erde werde. Heiße Tränen fließen mir über die Wangen und ich schlage mit den Armen um mich. Da sind nur die nassen Wände des Lochs, die immer enger werden.
Kann nicht aufstehen, mein Körper so schwach, so schwer, weil die Erde auf mir liegt, und ich denke, es ist mein Onkel, er begräbt mich hier, all die Sonntage hat er nach der perfekten Stelle gesucht, hat nach der Stelle gesucht, wo er mich ungestört vergraben kann, weil ich ihm gar nichts bedeute, weil er mich loswerden will. Jetzt erst recht, weil er auf der Flucht ist und abhauen muss, da bin ich nur ein Klotz an seinem Bein, und jetzt muss er mich loswerden, muss mich vergraben im Moor, wo mich nie jemand findet, und ich möchte so gerne schreien, möchte ihn anschreien, nein, lass mich leben, ich will nicht sterben, nicht so, bitte begrab mich nicht.
Meine Lungen atmen Feuer. Ich werde ohnmächtig und ersticke, aber dann öffne ich die Augen. Die sterbende Glut taucht das Innere der Hütte in einen orangeroten Schein und rußschwarze Schatten bewegen sich träge wie Rauch über die Wände.
Mit einem Ruck setze ich mich auf. Unter mir fühle ich den vertrauten Schaumstoff der Isomatte. Das Herz pocht mir in den Schläfen und ich bin schweißnass. Brauche einen Moment, bis ich wieder normal atmen kann, weil ich die feuchten Erdklumpen immer noch in meinem Mund und Rachen spüre.
Dann bemerke ich, dass sich niemand außer mir in der Hütte befindet. Auf der Isomatte meines Onkels liegt nur sein offener Schlafsack. Vor dem Eingang ist nichts zu erkennen. Keine Bewegung, nur die Finsternis tiefer, sternenloser Nacht. Er muss ins Moor gegangen sein, um zu graben, eine der Schaufeln fehlt. Wahrscheinlich hat er sich jede Nacht hier rausgeschlichen, als wir noch im Haus wohnten. Sobald er sicher war, dass ich eingeschlafen bin, hat er sich in den Peugeot gesetzt und ist hierhergefahren. Bestimmt taucht er bald wieder auf.
Ich nehme mir Salzcracker aus einer der Kisten, weil ich jetzt sowieso nicht mehr schlafen kann, und reiße die Verpackung auf. Sie schmecken wie trockenes Brot und ich kann die klumpige Masse kaum schlucken. Rasch spüle ich mit Wasser nach und die Cracker rutschen meinen Hals hinunter wie Steine.
In diesem Moment betritt jemand die Hütte. Im schwachen Schein der Glut erkenne ich meinen Onkel. Endlich ist er zurück. Wo hat er die Schaufel gelassen? Seine Finger sind so dreckig, als hätte er mit den bloßen Händen gegraben (oder ist das Blut?). Es fällt mir sofort auf, trotz der schlechten Lichtverhältnisse, weil seine Haut so weiß ist, und er legt sich gar nicht zurück auf seine Isomatte, sondern kauert sich in der gegenüberliegenden Ecke der Hütte zusammen, als friere er oder als wolle er sich verstecken. Vor wem?
„Was ist passiert?“, flüstere ich.
„Bin draußen im Moor und grabe“, antwortet er und da bemerke ich, dass es nicht die Stimme meines Onkels ist. Es fehlt der tiefe Basston, diese Stimme ist zu hoch und die Worte nicht korrekt artikuliert, als wäre etwas in seinem Mund, das ihn daran hindert, richtig zu sprechen. Als wäre sein Mund voller Erde.
Er sagt noch mehr, aber das verstehe ich nicht. Dann sehe ich ihm ins Gesicht. Es ist das Gesicht meines Onkels, aber etwas daran stimmt nicht, scheint unfertig, als hätten sich die Kieferknochen zurückgebildet. Die ansonsten so breite Nase ist nur ein flacher Hubbel, durch den er angestrengt atmet. Er klingt wie ein schnüffelndes Tier. Ein Ohr sitzt schräg am Kopf, als drohe es abzufallen. Das linke Auge sitzt tiefer in der Höhle als das rechte und ist ganz milchig. Er hält sich eine Hand vors Gesicht, an der ein Finger fehlt. Ich stehe auf, schiebe mich an der Wand entlang. Auf dem letzten Meter nehme ich einen Satz, stürze zum Eingang und verschwinde hinaus in die Dunkelheit, einen heiseren Schrei auf den Lippen.
Ohne Orientierung renne ich, strauchle immer wieder auf weicherem Untergrund, in die Richtung, aus der ich glaube, dass wir bei Tag gekommen sind. Nach kurzer Zeit gewöhne ich mich an die Dunkelheit. Kann Hindernisse wie Büsche und die Schatten der Bäume ausmachen. Dabei hilft mir ein fahler Mond, der sich hinter den tief hängenden Wolken hervor schiebt.
Ich bin noch nicht weit gekommen, da höre ich das Scharren. Das Scharren aus meinem Traum. Nur das es diesmal zahlreicher ist, als würden Dutzende Schaufeln in die lockere Erde gegraben. Überall um mich herum, vor und hinter und neben mir. Das Scharren durchdringt die Nacht. Dann sehe ich die Umrisse der Männer, die im Moor stehen, unter einem sternenlosen Himmel, das bleiche Licht des Mondes zeichnet ihre Silhouetten über die Ebene. Es müssen hunderte sein, wenn nicht tausende, die dort graben, Schaufel um Schaufel hinter sich werfen, als wollten sie das ganze Moor umpflügen und sein verdorbenes Herz freilegen.
Auf ihren Lippen liegt eine Melodie, nur ganz leise, ein Raunen aus tiefer Erde, als singe die Erde selbst, und dann erkenne ich sie. Mein Onkel hat mir diese Melodie manchmal vorgesummt, wenn er abends eine Flasche Wein trank. Sie gehört zu einem traurigen Lied mit einem mir unverständlichen Text, das ich aber gerne höre, weil es so ernst und gleichzeitig leicht klingt, und sie singen es, als wären ihre Kehlen eins, lediglich ihr Graben ist nicht im Takt.
Ich bemerke einen weißen Glanz auf dem Moor, als wäre es Winter und der Boden mit Frost überzogen. Aber es ist Sommer, es ist warm, da kann kein Frost sein! Wahrscheinlich liegt es am Licht. Ich war ja noch nie bei Nacht hier, heute ist es das erste Mal. Ich denke, der Mond spiegelt sich im Morast und erzeugt diesen Glanz und es ist wunderschön, wären da nur nicht diese Männer, wäre da nur nicht das Scharren ihrer Schaufeln.
Dann verliere ich den Boden unter meinen Füßen und klatsche in kaltes Wasser. Vor Schreck nehme ich einen Schluck und ein brackiger Geschmack legt sich in meinen Mund. Wild um mich schlagend kämpfe ich mich ans Ufer. Realisiere erst nicht, wo ich mich befinde. Bin ich schon so weit gekommen? Das muss der See beim Parkplatz sein! Hat mich mein Onkel extra verwirrt, so weit in die Irre geführt, dass mir der Hinweg viel länger vorgekommen ist, die Hütte aber eigentlich gar nicht so tief im Moor liegt? Wollte er, dass ich nicht mehr allein zurückfinde?
Ich denke nicht weiter darüber nach. Taste mich an den Büschen entlang des Sees, begleitet vom Raunen der Gräber, bis ich den Peugeot zwischen den Bäumen finde.
Der Wagen ist nicht abgeschlossen, es gibt gar keinen Schlüssel. Ich setze mich schweißüberströmt in den Fahrersitz. Entferne mit fahrigen Fingern die Plastikabdeckung unter dem Steuerrad. Oft habe ich meinen Onkel dabei beobachtet. Es gibt dort zwei Drähte, die man aneinanderhalten muss, damit der Motor startet. Anders kriegt man ihn nicht zum Laufen. Ich muss meine Beine strecken, um die Pedale zu erreichen. Eines ist fürs Gasgeben und eines fürs Bremsen, es gibt auch eine Kupplung, das weiß ich, aber wie man kuppelt, da habe ich keine Ahnung. Ich werde es ohne Kupplung schaffen müssen.
Nachdem ich es ein paar Mal mit den Drähten versucht habe, startet der Motor und dröhnt durch die Stille. Vorsichtig trete ich auf eines der Pedale, aber es passiert nichts, es muss das falsche gewesen sein. Also probiere ich das andere und da ruckt der Peugeot nach vorne. Es funktioniert! Äste kratzen über den Lack des Fahrzeugs und Zweige schlagen mir durchs offene Fenster ins Gesicht. Der Wagen wackelt hin und her, als ich ihn über die Wurzeln manövriere. Ich darf nicht zu fest drauftreten, sonst stecke ich fest oder baue einen Unfall. Ich muss ganz langsam fahren.
Schließlich schaffe ich es aus dem Dickicht und auf den Parkplatz. Blicke in den Rückspiegel. Sehe den Glanz auf dem Moor. Diesen seltsamen, so bezaubernden Glanz und ich glaube, mein Onkel hat mir davon erzählt. Dass er sich nur in Mondnächten zeigt, als schwelten weiße Feuer im Moo. Dann wende ich mich ab, trete auf das Pedal, die Hände ganz fest an das Steuerrad gepresst und fahre los, zu unserem Haus. Auch wenn dort eine Leiche liegt, ich weiß ja nicht, wohin sonst. Wenn ich ankomme, rufe ich die Polizei, damit sie meinen Onkel suchen. Ich werde ihnen erklären, dass es Notwehr war, dass er kein böser Mann mehr ist, weil er anders ist, seit ich bei ihm bin. Sie werden mir glauben.
Beim Haus angekommen fahre ich beinahe gegen die Verandastufen, weil ich nicht weiß, wie man die Scheinwerfer anstellt. Fahren ist gar nicht so schwer. Nur einmal stotterte der Motor und ich musste ihn neustarten. Dunkel liegt das Gebäude da, als hätte nie jemand in ihm gewohnt. Ich springe aus dem Wagen, stolpere die Stufen hoch und da bemerke ich, dass die Tür einen Spalt offen steht. War jemand hier?
Ich taste nach dem Schalter neben der Tür und die elektrische Laterne geht an, taucht die Veranda in ein weißliches Licht. Der Mond ist während der Fahrt wieder hinter den Wolken verschwunden. An der Wand sitzt der Mann, der von meinem Onkel abgestochen wurde. Er hat sich dort zusammengekauert, also muss er noch leben, aber er ist ganz still und seine Augen sind geschlossen.
Erst verstehe ich es nicht, doch dann betrachte ich ihn eingehender und die Ähnlichkeit fällt mir deutlich auf. Der Mann sieht aus wie mein Onkel. Er trägt andere Kleidung, mein Onkel trägt niemals Hemden, nur T-Shirts so wie ich, aber das Gesicht ist eindeutig dasselbe. Es gibt nur ganz kleine Unterschiede, seine Lippen sind etwas dünner, die Ohren stehen nicht so weit ab und die Stirn ist weniger faltig, aber ansonsten sieht er identisch aus.
„Onkel?“, frage ich zögernd.
Der Mann gibt ein gurgelndes Geräusch von sich und Blut fließt ihm aus dem Mund. Tropft auf sein Hemd und die Dielen. Dann hebt er den Kopf und öffnet seine Augen. Er starrt mich an. Die Augen so schwarz wie die Nacht und seine Haut so bleich wie der Mond. Er streckt die Hände nach mir aus und sagt undeutlich: „Ich muss es finden. Muss es finden ...“ Das wiederholt er immer wieder, und ich sehe den Dreck unter seinen langen Nägeln, während das Blut Bläschen auf seinen Lippen bildet. Ich verstehe nicht, was er unbedingt finden muss, ich verstehe gar nichts.
Ich schiebe mich an ihm vorbei, halte so weit Abstand, wie es die Tür zulässt. Mache das Licht im Wohnzimmer an und nehme den Hörer des Telefons in die Hand. Nur ein durchgehendes Piepen. Die Leitung ist tot.
Ich schließe die Tür und sperre den sterbenden Mann aus. Er flüstert weiter, dass er irgendwas im Moor finden muss, aber wenn die Tür verschlossen ist, muss ich ihm nicht mehr zuhören. Morgen werde ich die Polizei anrufen. Morgen wird die Leitung bestimmt wieder funktionieren. Oder soll ich mit dem Peugeot ins nächste Dorf fahren und bei allen Leuten in der Straße klingeln? Ihnen davon erzählen, dass mein Onkel verschwunden ist, obwohl er ja eigentlich noch da ist, dass mein Onkel sich auf seltsame Weise selbst erstochen hat? Nein, das würde niemand verstehen. Niemand würde mir glauben. Du bist nur ein dummes Kind, würden sie sagen. Lass uns schlafen und hör auf, so einen Lärm zu machen.
Also verriegle ich die Tür mit dem Vorhängeschloss und gehe ins Schlafzimmer. Das Licht lasse ich an. Lege mich auf das weiche Bett. Weiß nicht, ob ich weinen soll, ob ich aufstehen und weit fortlaufen soll. Doch am liebsten möchte ich schreien, wie in meinem Traum, schreien, schreien, schreien, bis mich jemand hört, bis jemand vorbeikommt und sagt, hey Junge, es ist alles gut, du hast nur schlecht geträumt. Dein Onkel hat niemanden abgestochen und dort draußen im Moor ist nichts, nur dieser Glanz auf dem Morast, der kann einen Jungen ganz schön verwirren und ihm was vorgaukeln. Hab keine Angst deswegen.
Aber niemand kommt. Ich befürchte, dass der falsche Onkel sich in das Zimmer schleicht, sobald ich die Augen schließe. Doch meine Erschöpfung ist so groß, dass mein Kopf plötzlich ganz schwer ist und ich nicht lange wachbleiben kann. Obwohl ich mir fest vorgenommen habe, nicht zu schlafen, bis der Morgen graut. Und so falle ich in einen traumlosen Abgrund.
Ich werde von einem Geräusch geweckt. Erst kann ich es nicht einordnen. Denke, es ist nur in meinem Kopf, doch es wird immer deutlicher. Ein Scharren auf den Dielen, das Scharren zahlreicher Schuhe. Kommt es von dem abgestochenen Mann? Ist er aufgestanden und ins Wohnzimmer geschlurft? Nein, wie kann er immer noch leben? Das ist doch nicht möglich! Er ist vor der Tür gestorben, während ich geschlafen habe. Er kann nicht im Wohnzimmer sein.
Die Tür des Schlafzimmers ist angelehnt. Ein schmaler Lichtstreifen fällt an die Wand hinter mir. Ich sehe die schwarzen Umrisse der Männer aus dem Moor in ihm. Sie haben ihre Schaufeln geschultert, stehen dicht an dicht, sie müssen den gesamten Raum ausfüllen. Immer mehr drängen herein, bis der Lichtstreifen in ihren Schatten verschwindet und ich in vollkommener Dunkelheit zurückbleibe. Es klingt, als würden ein paar von ihnen kriechen, weil sie keine Beine haben und sich mit ihren Armen über den Boden ziehen müssen. Weil sie noch keine Beine haben, denke ich und schaudere.
„Wer seid ihr?“, flüsterte ich, meine Stimme zitternd.
„Die Firma ist geschlossen worden. Der Replikator hat nicht so funktioniert, wie sie sich’s erhofft haben. Etwas ist gewaltig schiefgelaufen“, antworten mir Dutzende Kehlen und jetzt höre ich auch den unverwechselbaren Basston. Diesmal ist es die richtige Stimme meines Onkels. Als würde er in hunderten Kopien existieren.
„Wo ist mein Onkel?“, frage ich, aber vielleicht habe ich gar nicht laut gesprochen, vielleicht ist die Stimme nur in meinem Kopf. Doch die Gräber verstehen mich sehr gut.
„Ich bin’s“, sagen sie aus einem Mund. „Als ich noch allein war, wurde ich damit beauftragt, den Replikator zu zerstören und ihn im Moor zu vergraben. Aber es war bereits zu spät.“
Sie machen eine Pause, als würden sie abwarten, dass ich etwas erwidere, aber ich sage kein Wort.
„Während die Verantwortlichen abgehauen sind, habe ich dafür gesorgt, dass ihn nie jemand findet, nicht einmal ich selbst. Doch jetzt brauche ich ihn dringend wieder und weiß nicht mehr, wo ich ihn vergraben habe.“
„Wieso?“, stammele ich.
„Weil ich dich brauche. Ich habe doch sonst niemanden und im Moor ist es so einsam ohne dich.“
Sie starren durch das Fenster, mit ihren kranken, leblosen Augen. Da draußen ist nichts mehr. Nur ihre Augen in der Dunkelheit. Nichts als Augen.
„Hab keine Angst“, sagen sie. „Ich passe auf dich auf.“
Es riecht nach fauligen Eiern und ich starre stumm an die Decke. Habe das Gefühl, Erde rieselt auf mich herunter. Da ist Nässe auf den Laken. Und wenn ich mich konzentriere, kann ich ihn sehen, dann sehe ich den fahlen Glanz auf dem Moor.