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Der fahle Götze

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11.05.2014
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Der fahle Götze

24.August 2103

„Gibt es Komplikationen?“
„Seit die Hitzeableiter vor drei Wochen ausgefallen sind, gab es keine weiteren Vorkommnisse. Nick konnte die Funktionalität vollständig wiederherstellen.“
„Gut, wir hören dann morgen wieder von Ihnen. HQ out.“
Der Funkkontakt brach ab, die krächzende Stimme aus dem Lautsprecher verstummte.

Seit zwei Monaten saß Ray in diesem Sitz, gab dem Bodenteam den täglichen Statusreport und starrte auf dutzende Anzeigen und Kontrollleuchten, die ihn mit ihrem monotonen Blinken zuzwinkerten. Zwei Monate, in denen er sich wünschte, diese Reise würde enden.
Die digitalen Bücher, die er auf seinen persönlichen Bordcomputer kopiert hatte, langweilten ihn schnell und selbst die Anwesenheit von Nick konnte seine Einsamkeit nicht dämpfen. Ihre täglichen Konversationen schienen sich immer um die gleichen Themen zu drehen.
Alles im grünen Bereich?
Wir geht es dir heute?
Was machst du mit dem Geld, wenn wir zurückkehren?
Ja, Geld und Ruhm… das war Nicks große Motivation. Und wer konnte schon garantieren, dass sie überhaupt zurückkehren würden?
Acht Monate Flug, drei Jahre harte Arbeit, acht Monate wieder zurück. Viel Zeit für den einen oder anderen Unfall.
Zwanzig Monate lang war er in Zentrifugen durch die Gegend geschleudert worden, bis zum Erbrechen in völliger Schwerelosigkeit geschwebt, hatte Feuer in sauerstoffreichen Umgebungen bekämpft und minutenlang unter Wasser den Atem angehalten. Und wofür? Jetzt saß er im Cockpit der ESS Scylla und überwachte die Richtwerte für die Innentemperatur. Wenn er aus dem Fenster blickte, sah er nur die Schwärze des Alls, das kalte Licht der Sonne, der einzige Fixpunkt.

„Hey Ray, alles im grünen Bereich?“
Nick betrat breit grinsend das Cockpit. Er konnte dieses Mädchenschwarm-Grinsen nicht ausstehen.
„Ja, das Schiff läuft einwandfrei, alles im Normbereich.“
„Schön schön, biste hungrig?“
Nicks starker norwegischer Akzent ging Ray ebenfalls auf die Nerven.
„Klar, ich lass mir doch das vorzügliche Mittagessen nicht entgehen“, antwortete er mürrisch.
„Tja, das dacht ich mir. Komm, gehn wir rüber.“

Die Gänge der Scylla waren wie ein Passionskreuz angelegt. Wenn man das Cockpit verließ, führte der lange Gang geradeaus in den Frachtraum, der Gang nach links zur Luftschleuse und den Kryokapseln, der rechte, führte zu den Kajüten und der Küche, sofern man einen großen Stahltisch neben einem Schrank voller Tuben und Tüten als Küche bezeichnen konnte. Glücklicherweise sorgten die Gravitationsmodule für eine angenehme Anziehungskraft. Andernfalls hätte Ray sich, nach einer Woche Schwerelosigkeit, freiwillig aus der Luftschleuse gestürzt.
Das sogenannte Essen war die reinste Qual. Die Tuben wurden zwar mit Etiketten versehen, die den Inhalt angaben, doch im Endeffekt schmeckte alles gleich beschissen. Nur selten konnte er sich dazu überwinden, den trockenen Schleim aus den Tuben hinunterzuwürgen.
„Ray, weißte was mir aufgefallen ist?“
Nick quetschte gerade eine Tube mit der Aufschrift "Apfel" aus, als hinge sein Leben davon ab.
„Nein, was?“
Er hasste es, wenn Nick Fragen stellte, die man unmöglich beantworten konnte, in der Hoffnung, er würde raten. Manchmal fragte er sich, ob alle Norweger diese Angewohnheit hätten.
„Du weißt, warum ich hier oben Däumchen drehe, nicht wahr, mate?“
Nick nannte ihn immer "mate", als wolle er Ray, auf klischeehafte Weise, ständig an seine irische Herkunft erinnern.
"Jaja, Geld und Interviews im TV."
„Aber ich weiß nicht, warum DU hier oben bist“, sagte Nick und zielte mit seinem Zeigefinger auf Rays Gesicht.
Ray antwortete nicht sofort, sondern blickte auf seine Tube, die ihm suggerierte, er würde Thunfisch essen.
„Mein Vater war ein Astronaut für die European Space Agency, kurz bevor die ISS aufgegeben wurde. Danach kam er in den Vorstand der ESA. Er hatte die Verbindungen, ich eine gute körperliche Verfassung und keinen Job. So bin ich hier gelandet. Ist zwar trostlos hier oben aber immer noch besser als nach hundert Bewerbungsgesprächen leer auszugehen.“
„Nicht gerade romantisch. Träumt denn nicht jeder Junge davon, Astronaut zu werden? “, fragte Nick neckisch.
„Nein, ich wollte immer eine Kneipe aufmachen“, sagte Ray gereizt und sog an dem vermeintlichen Thunfisch.
"Schon gut, versteh schon."
Nick erhob sich und verließ kopfschüttelnd, doch grinsend, die Küche.
Ray war dies recht. Ihm stand wirklich nicht der Sinn nach Gesellschaft.


03.September 2103

Die ESS Scylla, aufgrund ihrer Form liebevoll fliegender Fisch genannt, raste unaufhaltsam durch den interstellaren Raum, dem Jupitermond Europa entgegen. Unter hohem finanziellen Aufwand hatten die besten Wissenschaftler Europas, Amerikas und Russlands die Operation Eisbrecher ins Leben gerufen. Die ESA hatte dabei den größten Anteil, da das Budget der NASA gekürzt worden war und die russische Regierung sich geweigert hatte, hohe Summen zu investieren. Im Gegenzug hatte die ESA das Recht erhalten, ihr Logo an die Raumschiffe zu pinseln. Alle waren stolz gewesen, als das erste gemeinsame Raumschiff, die ESS Okeanos, im Winter 2100 ihre Reise begonnen hatte.
Ray fand diesen Umstand bemerkenswert.
Seitdem das Überleben der Menschheit auf dem Spiel stand, arbeiteten plötzlich alle zusammen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Er dagegen, teilte ihre Euphorie nicht. In seinen Augen war ein Söldner, der fast fünf Jahre seines Lebens opferte, um durch das Eis auf Europa zu bohren.

Als er an jenem heißen Junitag an Bord der Scylla ging, stand er auf der Einstiegsrampe, blickte gen Himmel und fühlte … Furcht. Die anderen neun Crewmitglieder hatten unbeschwert gegrinst, als würden sie lediglich einen Ausflug in die Berge machen. Sie lachten und feixten auch dann noch, als sich acht von ihnen in die Kryokapseln legten, um den langen Flug, bis zu dem Beginn der automatische Aufwachphase, zu verschlafen. Schade, dass Nick sein Partner für den Flug war und nicht Mary. Zu gern hätte er sie näher kennengelernt.

Als er sie das erste Mal gesehen hatte, damals im Rekrutierungszentrum, wusste er, dass er niemals eine schönere Frau treffen würde. Er hatte sie sogar nach einem Date gefragt, obwohl das nicht gerade seine Art war. Es lief nicht so gut. Abgesehen von der Arbeit, wusste er nicht, worüber er hätte reden sollen und sie hatte schnell gelangweilt gewirkt. Zwei Wochen später hatte er sie gesehen, wie sie einen muskelbepackten Dachdecker küsste, den sie, zu allem Überfluss, letzten Sommer geheiratet hatte. Doch das war nicht das erste Mal, dass er abgewiesen wurde und er befürchtete, dass er sich langsam an Ablehnung gewöhnt hatte.
Als sie sich kurz nach dem Abflug in der Kapsel einfrieren ließ, überkam ihn Wehmut. Aber so war das Leben. Sie konnte in einen traumlosen Schlaf versinken, während er Wache schieben musste.
Wenn er so darüber nachdachte, war es vielleicht doch besser, dass Nick ihn unterstützte. Er wusste zwar trotzdem nicht worüber er reden sollte, doch war es ihm gleich.
Vor seinem Computer sitzend, war er tief in Gedanken versunken und bemerkte nicht, dass er einen Ausschnitt aus Dante Alighieris Göttliche Komödie, aufgerufen hatte und diesen schon seit zehn Minuten anstarrte. Virgil und Dante betraten den Höllenkreis des Verrats.


07.Oktober 2103

Als Ray erwachte, sah er Nick breit grinsend neben seinem Bett sitzen.
„Weißt du, welcher Tag heut ist?“
Schon wieder so eine dumme Frage.
Er verneinte.
„Heute ist dein Geburtstag, zumindest auf der Erde. Lykke til!“
Wie konnte er seinen eigenen Geburtstag vergessen? Doch dass Nick sich das gemerkt hatte, rechnete er ihm hoch an.
Nick grinste immer noch.
„Und ich hab sogar was für dich … Blumen waren leider aus.“
Er zog eine Tube mit dem widerlichen Weltraumfraß hervor, auf die er eigenhändig "Kuchen" gekritzelt hatte.
Ray musste aufrichtig lachen. Vielleicht war Nick doch kein übler Kerl.
Solch unbeschwerte Momente würden schnell in Vergessenheit geraten.


23.November 2103

Ray stand im Frachtraum und blickte gelangweilt auf den Eisbrecher, ein gigantischer Schmelzbohrer, von der Große eines Buckelwals. Dieser tonnenschwere Stahlkoloss würde sich schon bald durch die dicken Eisschichten von Europa fressen, um den 170 Kilometer tiefen Ozean darunter freizulegen, genug Wasser, um elf Milliarden Menschen vor dem Verdursten zu bewahren. Überbevölkerung und Erderwärmung hatten in den letzten Jahrzehnten des 21.Jahrhunderts dafür gesorgt, dass rund 85% der Weltbevölkerung mit weniger als einem halben Liter Wasser pro Tag auskommen musste. Bewaffnete Konflikte um Trinkwasser waren für viele grausamer Alltag. Ein eisbedeckter Mond, noch dazu im eigenen Sonnensystem, kam da gerade recht.

Die Okeanos war das erste Schiff, das auf der Eisoberfläche landete. Die Besatzung bestand überwiegend aus Wissenschaftlern, die die Oberfläche des Mondes kartographieren, die Radioaktivität messen und das Wasser auf schädliche Stoffe untersuchen sollten. Nachdem keine negativen Überraschungen festgestellt wurden, kehrte die Okeanos triumphal zurück und die zweite Phase des Abbaus begann.
Die ESS Poseidon startete einen halben Monat vor der ESS Triton. Beide transportierten Wohnmodule und jeweils zehn Arbeiter, die eine grundlegende Infrastruktur einrichteten.
Einige Wochen später folgte die Scylla.
Sobald sie den Bohrer installiert und das Wasser erreicht hätten, würden wöchentlich Transporter mit hunderten Hektolitern Fassungsvermögen, die Nymphen, von der Erde in Richtung Europa starten und eine feste Reiseroute etablieren, auf der das Wasser zukünftig zur Erde transportiert und dort in riesigen Anlagen aufbereitet werden würde.

Während Ray dort stand und den Bohrer betrachtete, fiel plötzlich das Licht aus.
„SCHEIßE!“
Nick brüllte aus der Küche.
„DIE SICHERUNGEN! EIN KABEL MUSS DURCHGESCHMORT SEIN.“
Er hörte, wie Nick sich durch die finsteren Gänge tastete und nach ihm rief, doch Ray konnte sich nicht bewegen. Etwas war hier... Kalt lief es ihm den Rücken hinunter, seine Haut kribbelte und die Nackenhaare sträubten sich. Nicks Rufe schienen meilenweit entfernt zu sein. Es war, als könne er etwas in der undurchdringlichen Finsternis atmen hören. Er hatte das Gefühl, die Wände würden näherkommen, die Dunkelheit ihn ersticken.
Sein Herz pochte laut und schnell. Blut schoss durch seine Schläfen. Dann sah er es.
Dort, wo der Bohrkopf hätte sein sollen, blickten ihn blutrote Augen an, zu Schlitzen verengt. Sie schienen ihn zu mustern, wie ein Tiger seine Beute mustert, kurz bevor er sie zerfleischt. Gerade als er dachte, das Wesen würde ihn anfallen und vierteilen, sprang das Warnlicht des Notstromaggregats an und tauchte den Frachtraum in ein unheilvolles Rot. Niemand war in dem Raum. Er war allein.
„Ray, verdammt, was stehste hier rum? Komm und hilf mir. Wir müssen die Bodenplatte vor der Luftschleuse anheben, damit ich die Kabel flicken kann. Mate?“
Apathisch blickte Ray auf den Eisbrecher. Der Schreck steckte ihm noch in den Gliedern.
„Verdammt, hast du einen Geist gesehn, oder was?“
Rays wendete seine Blick ab und bemerkte den Werkzeugkoffer, auf den Nick vor der Abreise bestanden hatte, da er der Meinung war, dass altmodische Werkzeuge zuverlässiger waren, als der hochtechnisierte Schnickschnack, auf den die ESA so viel Wert legte. Darunter befand sich eine verchromte Feuerwehraxt.


12.Dezember 2103

Seit dem Vorfall im Frachtraum träumte Ray Nacht für Nacht von den roten Augen und ihrem durchdringenden Blick. Nur selten gelang es ihm, länger als drei Stunden zu schlafen. Er fühlte sich nicht mehr sicher. Wenn er allein im Cockpit oder in der Küche saß, war ihm, als vernehme er ein leises Flüstern.
Nick warf ihm zunehmend besorgte Blicke zu und versuchte ihn mit Anekdoten aus seiner Jugend oder schlechten Witzen abzulenken, doch Erfolg hatte er damit nicht.

Heute erzählte Nick, wie er beim Eisfischen mit seinem Vater einen gigantischen Hecht gefangen hatte, den er damals, im Alter von neun Jahren, nicht tragen konnte.
Als Ray keine Reaktionen zeigte, gab er seinen Ablenkungsversuch auf und versuchte es mit einer direkteren Herangehensweise.
„Du siehst echt scheiße aus, mate.“
Sie saßen in der Küche. Ray hatte seit drei Wochen kaum gegessen und nur Wasser zu sich genommen. Er fühlte sich zu schwach, um zu antworten.
„Komm schon, red mit mir! Ist es wegen der Träume?“
Ray sah auf, seine Augen weiteten sich.
„Woher weißt du davon?“
Er hatte Nick nichts davon erzählt, er würde ihn doch nur für verrückt erklären.
„Diese roten Augen... irgendwie weiß ich, dass du auch von ihnen träumst. Schon komisch, oder? Wenn ich so ein Alptraum gehabt hab, denke ich einfach an meine Frau und meine kleine Tochter und zack, geht's mir gleich wieder besser. Wenn wir hier fertig sind, nehm ich erstmal Urlaub“, sagte Nick ernst, in einem leisen, nachdenklichen Tonfall, den Ray nie zuvor von ihm gehört hatte. Als hätte er Rays Gedanken gelesen, setzte er sein fröhliches Grinsen wieder auf und fragte:
"Was meinst du, mate, die Berge oder das Meer?"
Die Arme auf seine Knie gelegt, senkte Ray seinen Blick, ohne zu antworten. Als er seine Unterarme musterte, schien es, als bekämen sie Risse, wie morsches Holz. Ein panischer Schrei entfuhr ihm, als Maden und riesige, schleimige Kakerlaken aus seinen rötlich hervortretenden Adern entstiegen.


25.Dezember 2103

„Wie geht es dir heute, Ray?“
Die sanfte Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Ich... weiß es nicht. Die Träume sind so intensiv geworden. Ich weiß nicht mehr, was real ist und was nicht.“
„Wovon träumst du?“
„Von... Feuer und Tod. Riesige Heuschrecken, die alles fressen, was sie finden. Pflanzen, Tiere … menschliche Schemen. Ich sehe braune Kugeln vor schwarzem Grund, verdorrt und unfruchtbar. Die roten Augen sehen mich an, egal wo ich bin oder was ich tue. Ich weiß, dass sie etwas von mir wollen.“
„Heute ist Weihnachten auf der Erde, Ray. Was wünscht du dir?“
„...“
„Du kannst mit mir über alles reden.“
Tränen liefen seine Wangen hinab.
„Nicht weinen, du wirst nicht sterben, wenn du ehrlich bist, willst du auch gar nicht sterben. Nun sag schon, gibt es etwas, das du dir sehnlich wünschst?“
„Ja … Ich wünsche mir, dass mein Vater stolz auf seinen einzigen Sohn sein kann und ... und ich will dich.“
Mary saß vor ihm, die roten Augen weit aufgerissen. Ihre Kryokapsel war geöffnet und ausgeschaltet. Nick saß gerade im Cockpit und nahm Weihnachtsgrüße von seiner Frau und Tochter entgegen.
„All das und mehr sollst du haben, sobald du vollbracht hast, worum wir dich bitten.“
Ihre Stimme klang unschuldig, fast engelsgleich.
„... mehr?“
„Mit der Zeit wirst du verstehen.“
„Was soll ich tun?“, fragte Ray verzweifelt, die Stimme hoch und weinerlich.
Mary antwortete nicht, sondern begann vor seinen Augen zu verwesen. Das Fleisch fiel ihr von der Stirn und von den Wangen, die entblößten Muskeln schimmerten im grellen Licht. Die Augen begannen in ihren Höhlen auszutrocknen, grüner, übel riechender Schleim quoll aus ihren Mund, Maden krochen aus ihrer Nase und ihre Haare verwandelten sich in grotesk pulsierende Würmer.
Ray fragte sich, wie viel Zeit ihm noch bliebe, bevor er sich freiwillig Nicks Schraubenzieher in den Hals rammen würde, um diesen Alptraum endlich zu beenden.
Als von Mary nur noch Knochen übrig waren, betrat Nick den Raum.
„Hey, haste was gesagt?“
„Nein nein, ich wollte nur die Kapseln überprüfen.“
Mary lag unberührt vor ihm, ihre Vitaldaten waren alle im normalen Bereich.


31.Januar 2104

In den letzten Wochen konnte er endlich wieder schlafen, die Träume schienen aufgehört zu haben. Wahrscheinlich hatte er nur eine Art Lagerkoller gehabt, der sich nun, drei Wochen vor der Ankunft, verflüchtigte. An diesem letzten Januartag wurde er unsanft von Nick geweckt.
„Wach auf, das musste unbedingt sehen!“
Er zerrte Ray aus dem Bett und in das Cockpit.
„Nick, was ist denn so toll? Ist die Sonne explodiert oder wa...“
Ehrfurcht schnürte ihm die Kehle zu. Vor ihnen schwebte der Jupiter.
„Bitte kommen HQ, haben Sichtkontakt zum Jupiter. Die ESS Scylla wird das Ziel planmäßig erreichen.“
Verstanden, genießen Sie die Aussicht, bevor die Schufterei beginnt. Der Jupiter hat das stärkste uns bekannte Magnetfeld. Für Sie bedeutet das, dass die Funkverbindung mit der Erde bald den Geist aufgibt. Wenn Sie es vergeigen, erfahren wir also spätestens davon, wenn die erste Nymphe auf Europa landet. Sie haben also zwei Monate, um den Bohrer in Gang zu bringen und das Wasser freizulegen. Viel Glück und möge Gott mit Ihnen sein. HQ out.“
Die Wolkenbänder des Jupiters bewegten sich kontinuierlich, Wirbelstürme tobten mit unvorstellbarer Kraft in den oberen Schichten des Gasplaneten.
"Da brat mir doch einer nen Kabeljau!"
Nick war fasziniert, doch Ray hörte ihn nicht. Er blickte wie gebannt auf den Großen Roten Fleck, ein gigantischer Antizyklon, der seit Jahrtausenden, mit Geschwindigkeiten um die 400 km/h, wütete. Doch für ihn war dies kein Sturm. Es glich mehr einem Auge, welches ihn zornig anblickte. In diesem Moment prasselten Visionen auf ihn ein. Ein unheilsschwangeres Flüstern, eine Kakophonie aus unzähligen Stimmen, überflutete seinen Kopf und kurz bevor er dachte, er würde das Bewusstsein verlieren, begann er zu begreifen.
Er träumte nicht von Heuschrecken, sondern von Menschen, die sich aufmachten, den Rest der Galaxie zu erobern. Dabei plünderten sie unzählige Planeten und töteten oder versklavten alle Lebensformen, denen sie begegneten. Um seine Seele zu retten und die Götter jenseits der bekannten Galaxie vor einem Krieg zu bewahren, musste er diese Mission stoppen. Bevor eine weitere Operation dieser Größe durchgeführt werden könnte, wären die Menschen längst verdurstet. Die Wesen würden seine Wünsche erfüllen und seiner Existenz einen höheren Sinn verleihen, dessen war er sich sicher. Warum sollten sie lügen?
„Eines kann ich dir versprechen, Ray. Diesen Anblick werde ich niemals vergessen.“


13.Februar 2104

Als Ray erwachte, fühlte er sich stark ... übermenschlich stark. Er wusste, dass der Zeitpunkt endlich gekommen war. Sein Kopf hämmerte zwar, als hätte er sich am Vorabend heftig betrunken, doch abgesehen davon, fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr. Er verließ den Schlafraum und schlenderte fröhlich über den Mittelgang. Zu seiner linken sah er Nick, wie er im Cockpit saß und eine Melodie summte, während er den Jupiter betrachtete. Grinsend wandte Ray sich ab und ging in den Frachtraum. Das Bedürfnis, dem Wunsch der Götter Folge zu leisten, wuchs in ihm wie ein Krebsgeschwür. Auf dem Boden vor dem Eisbrecher lag Nicks Werkzeugkoffer, die verchromte Axt glänzte verführerisch im grellen Schein der Lichtröhren. Er hob sie auf. Sie lag gut in der Hand und fühlte sich warm an. Sein nächstes Ziel war der Raum mit den Kryokapseln. Die Bodenplatte vor der Luftschleuse anzuheben fiel ihm leicht, obwohl er alleine war. Das Kabel, das Nick vor einigen Monaten geflickt hatte, lag schutzlos unter ihm. Er zerriss es, als wäre es ein Faden an seiner Kleidung.
Sofort legte sich ein dunkles Tuch über das Schiff.
„SCHEIßE, NICHT SCHON WIEDER. RAY, WO BIST DU? DIESES DÄMLICHE KABEL!"
Er setzte sich auf die Kryokapsel, die der Tür zum Gang am nächsten war und wartete.
Als die Tür aufging und er Nicks Atem in der Finsternis hörte, packte er den Stiel der Axt mit beiden Händen, bereit Nick den Schädel zu spalten. Gerade als er ausholen wollte, sprang das rote Licht des Notstromaggregats an. Nick schien ihn aus dem Augenwinkel wahrgenommen zu haben, denn bevor die Axt niedersauste, machte er einen gewaltigen Satz zur Seite. Die Axt knallte mit einem grässlichen metallischen Klingen gegen die gegenüberliegende Kryokapsel.
„Verdammte Scheiße, was machst du da? Bist du völlig wahnsinnig?“
„Ich? Wahnsinnig? Nick, ich bin nicht der, der den Heuschrecken dient. Nicht mehr.“
„Was laberst du für ein Mist, mate?“
Erst jetzt bemerkte Ray den Schraubenzieher in Nicks Hand.
„Guuuuut, das macht es spannender, nicht wahr?“
Ray strahlte über das ganze Gesicht. Er fühlte sich stark … mächtig. Die Götter hatten seinen Geist erleuchtet und seinen Körper gesegnet.
„Ray, hast du wieder einen Alptraum gehabt? Vielleicht ist es besser, wenn du die Axt weg legst und schlafen gehst.“
„SCHWEIG, UNWÜRDIGER!“
Hungrig sauste die Axt erneut nieder und wieder wich Nick aus. In einer einzigen flüssigen Bewegung drehte er seinen Körper am Schlag vorbei und rammte den Schraubenzieher mit aller Kraft in Rays linke Brust. Er schrie vor Schmerz, doch die Mission war wichtiger, als seine sterbliche Hülle. Nick wollte gerade durch die Tür hasten, als Ray ihm mit einem geschickten schnellen Hieb die rechte Achillessehne und den halben Fuß durchtrennte. Nick stürzte mit einem schmerzhaften Knall zu Boden.
„Genau da gehörst du hin, kleiner Krabbelkäfer.“
Die Schmerzensschreie waren ohrenbetäubend.
„Ich kann nun endlich verstehen, warum du die Axt in so hohen Ehren gehalten hast. Sie ist wirklich ziemlich scharf.“
„FICK DICH, DRITTSEK.“
„Wer wird denn gleich ausfallend werden?“
Nick krabbelte den Gang entlang, auf die Küchentür zu, doch die Lage war hoffnungslos. Während Nick sich über den kalten Boden quälte, pfiff Ray eine Melodie, die er selbst nicht kannte. Vor der Tür, kämpfte sich Nick auf die Knie. Einen blutige Spur zog sich den Gang entlang.
„Nicky Nicky Nicky, du hast auch schon besser ausgesehen.“
Langsam schlenderte er auf Nick zu, die Axt ließ er über den Boden schleifen. In der Stille des Schiffes, klang das metallische Kratzen wundervoll.
„Ray, bitte, tu das nicht!“
„Oh, das ist nicht meine Entscheidung. Es ist der Wille der Götter.“
„Was soll das? Denk an die Milliarden, deren Leben von dieser Mission abhängt!“
Er schüttelte langsam den Kopf.
„Ich hab jetzt meine eigene Mission.“
Er erhob die Axt, bereit Nick von seiner erbärmlichen Existenz zu befreien. Nick hob seinen rechten Arm schützend über seinen Kopf. Der Schlag trennte ihn den Unterarm direkt unter dem Ellenbogen ab. Mit einem hässlichen Klatschen, fiel der Arm vor Nicks Knie. Blut schoss aus dem Stumpf, wie Wasser aus einem Rasensprenger.
Sein Gesicht verlor sämtliche Farbe.
„... Ray...bit...te....meine... Fa...Familie.“
„O Menschen, wie ersäuft die Sinnlichkeit und Gier so tief Euch, dass euch aus dem Schaume des Meeres kein Aufwärtsschaun zum Licht befreit!“ *
Erneut holte er zum Schlag aus und diesmal spaltete er seine linke Gesichtshälfte, bis knapp unter das Auge. Ein hässliches Knacken ertönte und Knochensplitter schossen durch die Luft, Blut und Gehirnmasse spritzten in Rays Gesicht. Nick gab ein schauderhaftes Gurgeln von sich, ehe er nach rechts kippte und mit einem dumpfen Knall auf den metallischen Boden aufschlug. Das gespaltene linke Auge starrte Ray an, während Blut und eine schleimige Masse aus dem Riss sprudelten.

Er konnte nicht sagen wie lange er Nicks Leiche betrachtete. Apathisch stand er da, die Axt in den Händen, der Schraubenzieher steckte noch immer unter seinem linken Schlüsselbein, als ein Husten ertönte und jemand auf den Boden kotzte. Langsam drehte er sich um und als er über seine Schulter spähte, sah er, dass alle acht Kryokapseln geöffnet waren und sich die Crewmitglieder langsam aufrappelten.
Der Tag des Erwachens war gekommen.
Er ging langsam in Richtung Tür.
„Hey Ray, wie ... heilige Scheiße!!“
Noch bevor jemand ihn erreichen konnte, zog er den Schraubenzieher aus seiner Schulter und rammte ihn in die elektronische Kontrolltafel auf ihrer Seite der Tür. Er gab den Verriegelungscode auf seiner Seite ein und die schwere Stahltür schloss sich mit einem lauten Knall. Geschockt blickte ihn seine ehemalige Crew an. Ihre weit aufgerissenen Augen erinnerten Ray an Schweine, auf dem Weg zur Schlachtbank.
„Ray, was soll der Mist?“
„Ist das Blut in deinem Gesicht?“, fragte Mary völlig perplex.
Mary war noch nicht vollkommen. Damit sie zusammen sein konnten, musste er sie von ihrer fleischlichen Hülle befreien.
„Wir werden auf ewig zusammen sein, vereint mit den Sternen. Das hast du mir selbst versprochen, Schatz.“
Bevor sie etwas entgegnen konnte, gab er einen weiteren Code ein und die Luftschleuse öffnete sich. Die Schreie des Entsetzens verstummten schnell, als das Vakuum den Atem aus der Crew sog. Ihre schmerzverzerrten Gesichter gefroren innerhalb von Sekunden zu entstellten Fratzen, als die Mannschaft aus dem Schiff geschleudert wurde, dazu verdammt auf ewig durch die Leere des Alls zu treiben. Neid erfüllte ihn, doch er konnte ihnen nicht folgen, nicht bevor seine Mission beendet war.


20.Februar 2104

Der Autopilot initiierte gerade die Landungssequenz, als Ray im Cockpit saß und genüsslich an der Tube mit der Aufschrift "Kuchen" nuckelte. Die zerklüfteten Eisformationen auf der -150 Grad kalten Oberfläche Europas breiteten sich unter dem Schiff aus. Nachdem er seinen schweren, mit Blei legierten Raumanzug angezogen hatte, begab er sich gemächlich in Richtung Luftschleuse. Einige Augenblicke später, spürte er eine Erschütterung, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er gelandet war. Die Luftschleuse öffnete sich mit einem lauten, metallenen Knarzen. Das Licht des Jupiters erhellte seine Umgebung und bezeugte seine Ankunft, wie ein gigantischer fahler Götze.
Bei dem Gedanken, seine Brüder und Schwestern endlich begrüßen zu können, erfüllte ihn freudige Erregung.


*(Zitat aus Dante Alighieris: Die Göttliche Komödie)

 
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Hallo gibberish224, einen Willkommensgruß auch von mir.

Wenn es auch ziemlich klar ist, dass dein Protagonist irgendwann durchdrehen und alle metzeln wird, deine Geschichte habe ich gerne gelesen. Das war halt durch deinen Aufbau relativ vorhersehbar. Beim nächsten Mal kannst du ja ein paar Verwicklungen mehr einbauen.

Natürlich könnte ich mir auch einiges noch besser vorstellen.
Manchmal schreibst du ein wenig übergenau und dadurch wirdes dann etwas zu langatmig.
Die Beziehung zwischen den beiden Männern an Bord finde ich vom Ansatz her gelungen, ich mochte es zum Beispiel sehr, wie der Nick dem Protagonisten diese Tube zum Geburtstag bekritzelt. Da hast du eine Entwicklung in ihrer Beziehung drin, von dem Sprücheklopfer und Smalltak Nicks am Anfang hin zu einer sehr sympathischen Regung Nicks, das fand ich eine sehr gute Idee. Ich würd an deiner Stelle ruhig noch ein bisschen mehr Augenmerk auf diese Beziehung legen, wie entwicklet die sich, ein bisschen mehr Misstrauen noch säen, als du das ohnehin schon gemacht hast. Aber ist schon ganz gut so.

Eine stilistische Sache: Wenn du Szenen zwischen Nick und Ray hast, da hast du oft nur das Personalpronomen "er" statt eines Namens drin. Man denkt dann unwillkürlich, dass nun eine Handlung der Person weitergeht, deren Name vorher gennat wurde. Dabei handelt schon längst der andere. Ich such mal ein Beispiel:

Wenn er allein im Cockpit saß und den Statusreport an die Bodenkontrolle durchgab, war ihm, als vernehme er ein leises Flüstern. Aber natürlich war er allein. Nick machte sich Sorgen um ihn, doch das brauchte er nicht. Er würde schon nicht durchdrehen, oder doch? Jedes Mal, wenn er in das All blickte, glaubte er die Augen zu sehen. Den Frachtraum mied er gänzlich. Wenn Nick durch den Schacht hinter dem Eisbrecher steigen wollte, um die Düsen des Plasmaantriebs zu kontrollieren, behauptete er, er müsse im Cockpit bleiben, um die Anzeigen im Auge zu behalten.
Nick machte sich Sorgen um ihn, doch das brauchte er nicht: Woher soll Ray denn wissen, dass Nick sich Sorgen macht? Das kommt zu unvermittelt und wirkt daher wie ein Perspektivwechsel. Vielleicht die Sorge Nicks kurz vorher zeigen? Vielleicht ersetzt du den Satz einfach durch das Zeigen der Sorge, dadurch dass Nick ihn beobachtet oder so.

Wenn Nick durch den Schacht hinter dem Eisbrecher steigen wollte, um die Düsen des Plasmaantriebs zu kontrollieren, behauptete er, er müsse im Cockpit bleiben, um die Anzeigen im Auge zu behalten.: Das ist jetzt ein Beispiel für das, was ich meinte. Du hast zuerst im Satz den Nick, der was kontrolliert und dann geht es unmittelbar mit er weiter. Also denkt man als Leser unwillkürlich, der Nick sagt, er müsse im Cockpit blieben. Klar merkt man am Inhalt, dass das nicht sein kann, von daher ist es nicht grad das Paradebeispiel, aber es veranschaulicht dir hoffentlich trotzdem, was ich meine. Ich wäre da im Zweifelsfall immer auf einen bequemen Leser (und das bin ich!) gefasst, also das erste "er" durch ein Ray ersetzen.

Dann kam ich manchmal mit den Andeutungen nicht klar,die du in den Text eingestreut hast, die erschienen mir nicht immer passend. Aber das müsste ich mir im einzelnen noch mal anschauen, ob das überhaupt stimmt, was ich da sage. Ich reagiere, das ist halt auch ein wenig Geschmackssache, so ein bisschen allergisch auf solche Einschübe. Auf mich wirkt das häufig so, als würde der Autor nicht die Spannung, das Misstrauen und den zunehmenden Verdacht und Wahn durch die interne Logik aufbauen, sondern ein äußerliches Stilmittel verwenden. Mal sehen, ob ich nochmal dazu komme zeitlich, das festzumachen. Aber einen kleinen Stachel hab ich hoffentlich schon gelegt. Wie gesagt, ich finde es nicht grundsätzlich falsch, aber ich hab einfach in letzter Zeit zu häufig dieses Stilmittel gelesen. Und ich finde, das muss dann auch ganz gut eingepasst sein, wenn man es benutzt.

Ich wollte dir jetzt einfach mal ein feedback geben, weil du einer der wenigen Neuuser bist, der nicht nur Geschichten einstellt, sondern auch antwortet, überarbeitet und anderen Usern Kommentare schreibt. Sowas muss einfach belohnt werden.
Und darüberhinaus ist die Geschichte auch noch spannend.
Viele Grüße
Novak

 

Hallo Novak,

vielen Dank für deine konstruktive Kritik.
Ich bin den Text, mit verstärkten Fokus auf die Personalpronomen und die Erzählperspektive, erneut durchgegangen und hoffe, dass ich alle ausmerzen konnte.
Dass du die Handlung vorhersehbar findest, ist zwar schade und ich hätte gerne zusätzliche Handlungsaspekte eingebaut, doch ist diese Kurzgeschichte mit 20 Normseiten bereits sehr lang. Länger als ich es vorhatte, was vermutlich der Tatsache geschuldet ist, dass ich hier viel erkläre und beschreibe. Ich bin mir stellenweise noch unsicher, wie viel ich erklären soll und wann es an der Zeit ist, sich etwas zurückzuhalten. Ich werde dies zukünftig verstärkt beachten.
Bezüglich der Einschübe bin ich mir zwar nicht eindeutig sicher, was du meinst, doch bin ich mir darüber bewusst, dass ich viele Vergleiche verwendet habe, von denen einige durchaus ungewöhnlich sind z.B

die zerklüfteten Eisformationen auf der -150 Grad kalten Oberfläche Europas breiteten sich unter dem Schiff aus und wirkten wie ein finales Epitaph für die Menschheit.

Doch sei versichert, dass ich mir diese Begriffe gut überlegt habe und nicht einfach in den Text gestreut habe, falls du diese Dinge meinst. :D

Am meisten freut mich aber, dass du die Geschichte durchaus spannend fandest, obwohl sie etwas vorhersehbar ist. Schließlich ist das doch die Hauptsache. ;)

Beste Grüße, gibberish

 

Hallo gibberish,

Die Geschichte gefällt mir. Gut aufgebaut, sicherlich mit einer gewissen Vorhersehbarkeit. Aber das ist gar nicht so schlecht. Auf die Weise kann man als Leser das Durchdrehen miterleben und somit besser nachvollziehen. Das Verhältnis zwischen den beiden Jungs kommt auch gut rüber, wodurch die Personalien nahe gehen. Damit wird deine Geschichte emotional miterlebbar. Mir gefällt es. Hier und da sind mir ein paar kleine Formulierungen aufgefallen, die ich anders gemacht hätte. Aber sie sind nicht falsch. Bleib deshalb bei deinem Stil.
Tolle Story.
Daumen hoch.
Lg

 

Hallo gibberish, und noch ein Herzliches Willkommen von mir!

Das hat mir ziemlich gut gefallen. Obwohl beide Interpretationsmöglichkeiten – dass der Protagonist eine Art Weltraum-Hüttenkoller bekommt oder dass telepathische Außerirdische ihn zu seiner Tat treiben – schon relativ oft durchexerziert wurden, hat mich deine Version mitgerissen. Wie von den vorhergehenden Kommentatoren schon angemerkt, liegen die Stärken in dem guten Aufbau der Geschichte und der gelungenen Charakterisierung der Figuren. Insbesondere der Nick war mir ziemlich ans Herz gewachsen (vor allem wegen der Kuchentube, genau wie bei Novak), so dass das böse Ende dann auch den beabsichtigten Effekt hatte.

Was mir noch fehlt, ist quasi noch eine Runde gründliches Nachpolieren – die Sprache noch ein bisschen schöner machen, vielleicht ein bisschen kürzen. Dann würde die Geschichte den Sprung von „gern gelesen“ zu „richtig gut“ schaffen.

Hier ist eine Liste von Dingen, die mir aufgefallen sind. Ist eine lange Liste, also nicht erschrecken. Einiges ist mir nämlich auch positiv aufgefallen! Natürlich ist manches Geschmackssache, aber ich hoffe, das eine oder andere hilft dir beim Überarbeiten.

Die Bücher, die er aus der Heimat mitgenommen hatte, hatte er schon gelesen.
Selbst schuld, Mann. Auf einen handelsüblichen E-Reader passen selbst heute schon tausende von Romanen. :)

Und wer kann schon garantieren, dass sie überhaupt zurückkehren würden?
konnte

Zwanzig Monate lang wurde er in Zentrifugen durch die Gegend geschleudert, schwebte bis zum Erbrechen in völliger Schwerelosigkeit, musste Feuer in sauerstoffreichen Umgebungen bekämpfen und minutenlang unter Wasser den Atem anhalten.
Das müsste eigentlich Vorvergangenheit sein. Die wird auf die Dauer immer recht ermüdend, so dass man bei längeren Passagen durchaus auch mal schummeln und einfache Vergangenheit nehmen darf, aber bei dem kleinen Absatz würde ich trotzdem drauf bestehen: „Zwanzig Monate lang war in Zentrifugen durch die Gegend geschleudert worden, bis zum Erbrechen in völliger Schwerelosigkeit geschwebt, …“

Nick betrat breit grinsend das Cockpit. Er konnte dieses High-School-Mädchenschwarm-Grinsen nicht ausstehen.
Dafür, dass das ESA-Astronauten sind, fühlen die sich sehr amerikanisch an. Schon die Namen, Nick und Ray, und jetzt noch der Highschool-Bezug. Es reicht auch, wenn der nur ein Mädchenschwarm-Grinsen hat, finde ich. Und vielleicht können die beiden auch aus unterschiedlichen Ländern kommen, dann könntest du Schwierigkeiten so einer internationalen Zusammenarbeit – z.B. Sprachkenntnisse oder interkulturelle Differenzen - zu Rays Gefühl der Isolation noch hinzufügen.

Das sogenannte „Essen“ war die reinste Qual.
Wenn du sogenannte drin hast, muss das Essen nicht extra noch in Anführungsstrichen stehen, das sagt ja schon aus, dass er es fragwürdig findet.

Wer weiß schon, was die Typen auf der Erde da für Nährstoffe reingemischt hatten?
wusste

„Mein Vater war ein Astronaut für die European Space Agency, kurz bevor die ISS aufgegeben wurde. Danach übernahm er einen führenden Posten in der Raumfahrtsaufsicht. Er hatte die Verbindungen, ich eine gute körperliche Verfassung und keinen Job. So bin ich letztendlich hier gelandet. Ist zwar trostlos hier oben aber immer noch besser als nach unzähligen Bewerbungsgespräch doch nur abgewiesen zu werden.“
„Nicht gerade romantisch. Keine versteckte Faszination für die unendliche Weite des Alls? Kein eitler Wunsch, einer der ersten Menschen auf Europa zu sein?“, fragte Nick neckisch.
Die Dialoge sind noch nicht überzeugend, insbesondere an den Stellen, wo die Figuren mehr als einen zusammenhängenden Satz sagen. Die klingen nicht wie echte Gespräche. Das ist auch überhaupt nicht leicht, man braucht wirklich ein bisschen Übung, um so ein „Ohr“ für Dialoge zu entwickeln. Also was ich hier geschrieben hätte (und das ist natürlich auch noch nicht das platonische Ideal von einem Dialog :)), würde ungefähr so aussehen:

„Mein Vater war ein Astronaut für die European Space Agency, kurz bevor die ISS aufgegeben wurde. Danach kam er in die Chefetage bei der Raumfahrtsaufsicht. Er hatte die Verbindungen, ich eine gute körperliche Verfassung und keinen Job. So bin ich hier gelandet. Ist zwar trostlos hier oben, aber immer noch besser als hundert Bewerbungsgespräche, nach denen man doch nicht eingestellt wird.“
„Nicht grade romantisch. Keine Faszination für die unendliche Weite des Alls? Kein Kindheitstraum, einer der ersten Menschen auf Europa zu sein?“, fragte Nick.
Kürzer und umgangssprachlicher. Manchmal macht ein einzelnes gestrichenes Adjektiv schon viel aus. :) So Sachen wie „unendliche Weite des Alls“ stell ich mir hier mit einem leicht ironischen Tonfall vor, und statt „European Space Agency“ würde Ray, da sie die ja beide kennen, realistischerweise wahrscheinlich zu ESA verkürzen, aber für die Leser würde ich das schon ausschreiben.

Wenn Nick nur wüsste, was er alles tun würde, um seinen Vater stolz zu machen und etwas Anerkennung zu ernten, hätte die Katastrophe vielleicht verhindert werden können.
Das müsste „Wenn Nick gewusst hätte“ heißen, statt „was er alles tun würde“, würde ich unbedingt „was Ray alles tun würde“ schreiben, damit es nicht zu Verwirrung kommen kann, und das fette nach „seinen Vater stolz zu machen“ würde ich streichen, weil es das gleiche aussagt. Aber eigentlich würde ich den ganzen Satz rausnehmen, weil ich den nämlich auch nicht glaube. Was hätte es dem armen Nick denn genützt, wenn er über Rays Verhältnis zu seinem Vater bescheid gewusst hätte?

Die ESS Scylla, aufgrund ihrer Form liebevoll fliegender Fisch genannt, raste, angetrieben von dem magnetoplasmadynamischen VASIMR-Antrieb, unaufhaltsam durch den interstellaren Raum, dem Jupitermond Europa entgegen.
Technobabbel. Brauchst du nicht. :)

Die ESA hatte dabei den größten Anteil, da das Budget der NASA gekürzt wurde und die russische Regierung sich weigerte, zu hohe Summen in die Unternehmung zu investieren.
gekürzt worden war; sich geweigert hatte

Die verschiedenen Regierungen konkurrierten jahrzehntelang erst militärisch, dann ökonomisch miteinander.
... hatten jahrzehntelang erst militärisch, dann ökonomisch konkurriert.

Weitere Zehn tapfere Männer und Frauen stellen sich den Gefahren des Alls, um uns alle zu retten.
zehn kleinschreiben

Solch unbeschwerte Momente, würden schnell in Vergessenheit geraten.
Ohne Komma

Dieses Monstrum moderner Ingenieurskunst wird sich schon bald durch die dicken Eisschichten von Europa fressen,
würde; und „Monstrum moderner Ingenieurskunst“ klingt ein bisschen naja. Hab im Moment aber keinen besseren Vorschlag, vielleicht fällt dir da was ein.

Überbevölkerung und die Erderwärmung sorgten in den letzten Jahrzehnten des 21.Jahrhunderts dafür, dass rund 85% der Weltbevölkerung mit weniger als einem halben Liter Wasser pro Tag auskommen musste.
… hatten […] dafür gesorgt

Die Okeanos war das erste Schiff, das auf der Eisoberfläche landete. Die Besatzung bestand überwiegend aus Wissenschaftlern, die die Oberfläche des Mondes kartographieren, die Radioaktivität messen und das Wasser auf schädliche Stoffe untersuchen sollten. Nachdem keine negativen Überraschungen festgestellt wurden, kehrte die Okeanos triumphal zurück und die zweite Phase des Abbaus begann.
Die ESS Poseidon startete einen halben Monat vor der ESS Triton. Beide transportierten Wohnmodule und jeweils zehn Arbeiter, die eine grundlegende Infrastruktur einrichteten.
Einige Wochen später folgte die Scylla,
Ich wollte nur mal sagen, dass ich es gut fand, dass alle Raumschiffe nach mythologischen Sachen benannt sind, die mit Wasser zu tun haben. Du hast echt viele gute Details drin. :thumbsup:

Darunter befand sich eine verchromte Feuerwehraxt.
Hehe. Checkov’s Feuerwehraxt. :) Das ist natürlich eine Stelle, wo viele Leser das Ende vorhersehen werden. Die Axt sollte schon eingeführt werden, aber eventuell ist der Satz, dass sie ihn anzusehen scheint, zuviel des Guten? Da bin ich mir aber selbst unsicher.

Jedes Mal wenn sie mich durch meine geschlossenen Lieder anzustarren scheinen, denke ich an meine Frau und meine kleine Tochter.
Boa, nee. Das ist wieder so ein Satz, den niemand wirklich sagen würde in einem Gespräch. „Jedes Mal, wenn ich glaube, sie zu sehen, denke ich …“ oder so. Auf keinen Fall „mich durch meine geschlossenen Lider anzustarren scheinen“. So was dürfen Lovecraft-Protagonisten sagen, aber sonst keiner. :p

Die roten Augen sehen mich an, egal ob ich träume oder nicht. Ich weiß, dass sie etwas von mir wollen.“
„Heute ist Weihnachten auf der Erde, Ray. Was wünscht du dir?“
Man weiß hier nicht so genau, wo das Gespräch mit Nick endet und das mit der angeblichen Mary beginnt, das hat mich beim ersten Lesen verwirrt. Ich dachte schon, der fühlt sich auf einmal zu Nick hingezogen, als er „ich will dich“ sagt. Vielleicht kannst du da noch eine Leerzeile dazwischen machen.

Mary lag unberührt in ihrer Kapsel, die Vitaldaten waren
alle im normalen Bereich.
Der Absatz nach „waren“ ist zuviel

Er zerrte ihm aus dem Bett und in das Cockpit.
ihn – oder Ray, damit ganz eindeutig ist, wer agiert

Es war so klar, dass er sich fragte, warum er es nicht schon eher realisierte.
realisiert hatte

Ihre Augen weit aufgerissen, wie Ratten in einem brennenden Käfig.
Den Vergleich fand ich nicht so optimal, weil Ratten eh so große, vorstehende Augen haben. Ich weiß nicht, ob die wirklich so anders aussehen, wenn sie Angst haben.

Also hauptsächlich müsstest du dir die Zeiten noch mal anschauen – mit der Vorvergangenheit stehst du anscheinend auf Kriegsfuß. Und die Dialoge noch ein bisschen verschönern. Die Kommasetzung habe ich fast völlig außen vor gelassen – da gab es glaube ich auch noch einiges, aber für dieses Feld gibt es Experten, die das viel besser beherrschen als ich. Ansonsten wie gesagt eine überzeugende Geschichte, die nur noch ein bisschen Feinschliff nötig hat.

Grüße von Perdita

P.S.: Ray erinnert mich am Schluss sehr stark an Jack Nicholson in „Shining“. Aber vielleicht ist das Absicht. Hat mich keineswegs gestört, wollte es nur mitteilen. :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Perdita,

ich hab den Text nochmals überarbeitet, einige Passagen weggestrichen, neue hinzugefügt und die von dir aufgeführten Fehler beseitigt.

Selbst schuld, Mann. Auf einen handelsüblichen E-Reader passen selbst heute schon tausende von Romanen.

Oh mann, warum hab ich daran nicht gedacht? Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Das passt ja nun wirklich nicht in die Geschichte. ;) Ist verbessert.

Ahh, das gute alte Plusquamperfekt hab ich wohl etwas vernachlässigt. Da werd ich in Zukunft verstärkt drauf achten, auch wenn es manchmal nicht so schön klingt :) .

Und vielleicht können die beiden auch aus unterschiedlichen Ländern kommen, dann könntest du Schwierigkeiten so einer internationalen Zusammenarbeit – z.B. Sprachkenntnisse oder interkulturelle Differenzen - zu Rays Gefühl der Isolation noch hinzufügen.

Ursprünglich hatte ich das auch geplant, hatte aber Zweifel, ob das so eine gute Idee war. Jetzt hab das doch nachträglich hinzugefügt.

Mit Dialogen hab ich noch so meine Schwierigkeiten, aber ich bin zuversichtlich, dass ich das noch gebacken kriege.

Man weiß hier nicht so genau, wo das Gespräch mit Nick endet und das mit der angeblichen Mary beginnt, das hat mich beim ersten Lesen verwirrt.

Das gesamte Gespräch findet hier mit Mary statt, Nick kommt nur am Ende vor.

Ray erinnert mich am Schluss sehr stark an Jack Nicholson in „Shining“.

Da ich vor das Buch vor einigen Monaten gelesen habe, scheint sich das unbewusst in meinen Kopf geschlichen zu haben und manifestiert sich in Ray. :D Es war aber nicht meine Absicht, irgendwas zu kopieren.

Vielen Dank für die tolle, konstruktive Kritik, die ich gerne Annehme. Das gleiche gilt natürlich auch für Sven Svenson, dessen Kommentar ich irgendwie übersehen habe. Es freut mich wirklich sehr, dass euch die Geschichte gefallen hat.

Beste Grüße, gibberish

 

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