Der Füllhalter
Der alte Mann stand interessiert vor der Vitrine. Er schaute sich jeden einzelnen Füllhalter genau an, als ginge es um sein Leben. Die Verkäuferin, die ihn beraten wollte, hatte er höflich, aber bestimmt abgewiesen. Er wisse wonach er suche. Da es die Vitrine mit den wertvollsten Füllhaltern war, behielt sie ihn im Auge. Er war ungefähr siebzig Jahre und stand leicht gebeugt. Wohl von jahrelanger harter Arbeit. Sein Gesicht schien müde und fahl. Seine Augen blickten unendlich traurig. Er musste wohl einige Schicksalsschläge eingesteckt haben. Doch in dem Moment, als sie ihn ansprach, zogen sich seine Augen gefährlich zusammen. Er straffte seinen ganzen Körper und strahlte eine angsteinflößende Macht aus.
Nach ungefähr einer halben Stunde kam er auf sie zu. Er stützte sich auf einen edlen Holzstock mit weißem Elfenbeingriff. Seine Augen musterten sie auf eine Weise, dass sie das Gefühl bekam, seine Dienerin zu sein. Wie schaffte er das nur? Er zeigte ihr den Füllhalter, für den er sich entschieden hatte. Und er ließ keinen Zweifel daran, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Noch nie hatte sie einen Menschen getroffen, der auf der einen Seite solch eine Traurigkeit ausstrahlte und auf der anderen Seite mit seinem bloßen Blick eine Macht ausübte, dass man sich ganz klein vorkam. Unsicher packte sie ihm den Füllhalter ein. Sie merkte, wie ihre Hände zitterten und verfluchte sich innerlich dafür. Warum ließ sie sich nur so sehr von seiner Art einschüchtern? Sie war erleichtert, als der Mann endlich das Geschäft verlassen hatte.
Ich lag in dieser Vitrine mit all den anderen Füllhaltern. Die Frau hatte mich so gelegt, dass man mich sofort sehen musste. Als der alte Mann das Geschäft betrat, wusste ich sofort, er würde mich kaufen. Lange hat er uns angesehen. Ich habe mich gereckt und gestreckt. Ganz besonders edel wollte ich wirken. Denn dieser Mann schien schöne Dinge zu lieben. Das sah man an seinem Spazierstock. Noch nie hatte ich solch einen außergewöhnlichen Stock gesehen. Das Holz schien eine besondere Art zu sein. Und oben am Griff war er weiß, oder besser eierschalenfarben. Es schien Elfenbein zu sein. Am Übergang von dem weichen Holz zum Griff war ein silberner Ring. Es war etwas hinein graviert. Aber ich konnte es nicht lesen. Der Anzug des Mannes war von einem Schneider. Das sah ich sofort. Er saß wie angegossen. Ein eleganter Wollmantel schützte ihn vor der eisigen Kälte. Es ging langsam auf Weihnachten zu und täglich wurden es mehr Menschen, die vor unserer Vitrine standen, um Geschenke für ihre Liebsten auszusuchen. Nie habe ich mich so bemüht, gut auszusehen, wie bei diesem alten Herrn. Er schien der Richtige zu sein. Sicher wusste er meinen Wert zu schätzen. Und es schien, als habe er mich bitter nötig. Diese Traurigkeit in seinem Blick, als er uns alle musterte und die er versuchte, in dem Gespräch mit der Verkäuferin zu verbergen. Er wollte stark aussehen. Sicherlich hatte er früher eine Position, in der er Verantwortung hatte. Da war Stärke gefragt und Schwäche musste verborgen werden.
Als die Verkäuferin die Tür der Vitrine öffnete, blieb mein Herz fast stehen, so aufgeregt war ich. Doch dann griff sie tatsächlich nach mir. Ich hatte es gewusst! Mein ganzes Leben war ich mir sicher, dass dieser Augenblick kommen würde. Ich habe es immer zu jedem gesagt, dass ich eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe. Die anderen haben mich dafür ausgelacht. Aber ich wusste es einfach. Diese Gewissheit war schon immer da gewesen. Ich war mir sicher, dass ich nicht in irgendeiner Schublade versauern würde, wie viele von uns. Als Geschenk überreicht, aber nie genutzt. Im Zeitalter des Internets schrieben die Menschen doch kaum noch von Hand. Briefe gehörten der Vergangenheit an. Emails gingen schneller, sie mussten nicht zur Post gebracht werden und kosteten kein Porto. Ich wusste, bei mir war es anders. Warum ich das wusste, konnte ich keinem erklären. So ließ ich die anderen lachen. Es war mir egal. Mein Tag würde kommen. Und heute war es soweit! Seine traurigen Augen, die in unbemerkten Momenten zum Vorschein kamen, machten mir klar, dass ich hier eine wichtige Aufgabe hatte. Welche genau, wusste ich nicht. Aber meine Vorahnungen wurden in seinem Blick bestätigt.
Der alte Mann bezahlte den Füllhalter und verließ das Geschäft mit stolzen Schritten. Er ging nicht direkt nach Hause. Wie immer an einem Dienstag ging er in sein Stammcafe und trank seinen schwarzen Tee mit Zitrone, so wie er es seit Jahren tat. Die Angestellten kannten ihn und er kannte sie. Er hatte schon viele kommen und gehen sehen. Doch er wechselte nie ein Wort mit ihnen. Nur seine Bestellung und „Zahlen, bitte“. Die Kellnerinnen hatten es aufgegeben, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er schien ein alter, störrischer Mann zu sein, den das Leben hat hart werden lassen. Hart und unfreundlich. Manchmal, wenn er seine Zeitung las, huschte eine Trauer über sein Gesicht. Etwas musste ihm wiederfahren sein, was ihn traurig machte. Aber er hatte wohl nicht gelernt, Traurigkeit zu leben. Offensichtlich musste er immer in seinem Leben stark gewesen sein. Doch den Kellnerinnen war das egal. Sie waren froh, einen Gast weniger unterhalten zu müssen. Dieser kam, bestellte, trank seinen Tee, las die Zeitung, bezahlte und ging wieder. So war es auch heute.
Anschließend ging der Mann in den Park, setzte sich auf eine Bank, auf der er etwas Sonne abbekam und zog seinen Mantel enger um sich. Es waren kaum Menschen zu sehen, da es sehr kalt war. Doch er setzte sich immer nach seinem Dientagstee an diesen Platz. Und er ließ sich nicht vom Wetter vorschreiben, ob er das konnte oder nicht. Er saß hier schon einmal in strömendem Regen und hielt sich einen Schirm über den Kopf. Trotzdem wurde er nass. Die vorbeilaufenden Kinder lachten ihn damals aus. Er schimpfte mit ihnen. Was nahmen die sich heraus? Zu seiner Zeit hätte sich kein Kind getraut, einen Erwachsenen auszulachen. Er saß Dienstags immer hier und nichts würde ihn aufhalten. Das war seine Tradition.
Am heutigen Tag genoss er seine Einsamkeit in diesem winterlichen Park. Die Blätter waren von den Bäumen gefallen und an manchen Stellen lag noch etwas Schnee vom letzten Schneegestöber, über das sich alle so gefreut hatten. Nur er nicht. Schnee empfand er als überflüssig. Er machte einem nur das Leben schwer. Autos und Menschen kamen nicht mehr so vorwärts, wie sie wollten. Daran konnte er nichts Gutes finden. Wenn seine Kinder früher jauchzend durch das Haus liefen, um ihm fröhlich mitzuteilen, dass nun Weihnachten kommen könnte, da der erste Schnee gefallen sei, schimpfte er mit ihnen. Sie sollten sich nicht mit solch überflüssigen Dingen beschäftigen, sondern lieber für die Schule lernen, damit etwas Anständiges aus ihnen würde. Daraufhin waren sie mit langen Gesichtern auf ihre Zimmer gegangen, um ihre Nasen in Schulbücher zu stecken. Denn er war streng und hatte sie jeden Abend abgefragt. Doch er hörte sie an solchen Tagen oft leise lachen und glucksen, da sie sich über diesen überflüssigen Schnee freuten. Albern, wie Kinder nun mal sind.
Das alles ging ihm durch den Kopf, als er dort so saß. Sein Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Warum musste er nur an diese alten Geschichten denken? Das brachte doch nichts. Er war Realist, durch und durch. Und kein Träumer, welcher der Vergangenheit nachtrauerte.
Zuhause angekommen, packte er den gekauften Füllhalter aus und legte ihn in eine Schublade zu seinem Briefpapier. Jedes Jahr vor Weihnachten schrieb er seinen Kindern einen Brief. Das gehörte sich so. Er bekam immer nur eine Karte mit knappen Worten. Gesehen hatten sie sich schon seit Jahren nicht mehr. Undankbare Kinder hatte er. All die Jahre hatte er seine Firma aufgebaut. Jede freie Minute hatte er dort verbracht, um seinen Kindern einmal eine bessere Zukunft bieten zu können. Seine Frau übernahm die Erziehung der Kinder. Doch was war der Dank? Dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Seine kleinsten Enkel kannte er noch nicht einmal. Aber deswegen brach er nicht seine Tradition, an Weihnachten Briefe zu versenden. Seine Kinder waren die einzigen, die noch übrig geblieben waren. All seine Freunde waren schon tot. Obwohl man nicht direkt behaupten konnte, dass es Freunde waren. Es waren Vereinskollegen und andere Firmeneigner gewesen. Er hatte seine knappe Freizeit immer in Vereinen verbracht. Das konnte ja nicht schaden. Kontakte waren das A und O in der Selbständigkeit. Er war auch nie zufrieden mit einer einfachen Mitgliedschaft. Nein, er hatte es in all seinen Vereinen bis zur Spitze geschafft und das Vereinswesen mitgestaltet. Einmal, die Kinder waren schon groß und aus dem Haus, haben sie ihm genau das vorgeworfen. Er hätte seine knappe Freizeit lieber mit Vereinskollegen verbracht, als etwas Zeit mit ihnen zu verbringen. Warum er überhaupt Kinder in die Welt gesetzt hätte? Wenn ihre Mutter nicht gewesen wäre, wäre niemand für sie da gewesen. Und die hat all ihre Träume und Wünsche für die Familie aufgegeben. Sie wollte früher einmal Sängerin werden. Sie war gut und sang im Theater. Dort hatte er seine Frau auch kennengelernt. Doch nach der Hochzeit war klar, dass sie zu Hause bleiben würde. Er hatte ihr ihre Rolle von Anfang an deutlich gemacht. Es war ein beiderseitiges Einverständnis. Da war es doch eine Unverschämtheit, dass die Kinder ihm dieses vorhielten. Einer musste ja das Geld verdienen. Und er hatte immer genug für sie verdient. Er konnte ihnen eine gute Schule bieten. Die beste am Ort! Sie bekamen Klavierunterricht, Ballet, Tennis, Reiten, und was noch alles. Aber als Dank war alles falsch, was er in der Vergangenheit gemacht hatte. Frechheit!
Der letzte Streit war nach der Beerdigung ihrer Mutter gewesen. Sie war an Herzversagen gestorben. Mitten in der Nacht. Er hatte es erst am nächsten Morgen gemerkt, dass sie nicht mehr lebte. Es war ein Schock für ihn. Ein ganzes Leben hatten sie gemeinsam verbracht. Er war zwar selten zu Hause, aber wenn er es war, war sie immer um ihn gewesen. Nun hatte er keine Firma mehr, in die er sich hätte stürzen können, um sich abzulenken. So, wie er es sein ganzes Leben getan hatte. Seine Firma hatte er ein Jahr zuvor verkauft. Seine Kinder zeigten kein Interesse daran. Das stelle man sich mal vor! Er rackerte sich ein ganzes Leben ab, um es den Kindern zu erleichtern und diese interessierten sich überhaupt nicht für die Firma. Dieser Stachel saß tief. Er hatte ihnen seine abgrundtiefe Enttäuschung nicht gezeigt. Aber seit dem Verkauf war er noch verbitterter als zuvor. Seine Frau hatte immer versucht, auf ihn einzureden. Dass die Kinder eben andere Wege einschlagen wollten. Und ein besseres Leben könnte ja auch bedeuten, mehr Zeit für sich und seine Familie zu haben. Es waren Versager in seinen Augen, alles Versager! Das konnte er ihnen nicht verzeihen. Wie konnten sie nur alle, nachdem er jedem von ihnen, sogar den Mädchen, ein Studium bezahlt hatte, ihm und seiner Firma die kalte Schulter zeigen? Sie brauchten nicht, wie viele andere Studenten, arbeiten, um studieren zu können. Nein, er hatte ihnen nicht nur das Studium, sondern auch großzügige Wohnungen und Taschengeld bezahlt. Es ziemte sich nicht für ein Kind von ihm, arbeiten zu müssen, um studieren zu können. Auch gehörte es sich nicht, in einem Studentenwohnheim zu leben. Das wäre ja noch schöner gewesen! Was hätten sich die Leute das Maul zerrissen. All das hatte er ihnen ermöglicht, damit sie ihrem Stand gemäß lernten. Und alle arbeiteten heute in einem Angestelltenverhältnis. Das musste man sich einmal vorstellen! Seine Kinder, die alle Möglichkeiten hatten, um ihre eigenen Firmen zu gründen, oder sogar die gut laufende Firma von ihm übernehmen zu können. Unglaublich! Alle Versuche seiner Frau, ihn gütlich zu stimmen, schlugen fehlt. Nein, er hatte Versager herangezogen. Und er ließ keine Chance aus, ihnen dies auch zu zeigen und zu sagen. Darüber wurde seine Frau immer verzweifelter und mit der Zeit gab sie es auf, ihn überzeugen zu wollen. Danach lebte sie nur noch wenige Wochen. Es war, als hätte sie einfach alles aufgegeben. Als konnte sie mit ihm nicht mehr unter einem Dach und in einem Leben zusammensein. Genau das hatten ihm seine Kinder nach der Beerdigung vorgeworfen. Und da kam die ganze aufgestaute Wut und Verzweiflung aus ihm hervor. Er nannte sie die undankbarsten Kinder unter dem Himmel. Was sie sich einbildeten. Sie besaßen zwar die Bildung, um mitzureden, aber offensichtlich nicht die Courage und den Mut, selbständig zu leben. Seine Töchter waren inzwischen verheiratet und gingen trotzdem arbeiten. Er nannte sie Rabenmütter. Sein Sohn, schon zum zweiten mal verheiratet, nannte er einen Verräter, der sofort den Schwanz einzog, sobald es Schwierigkeiten gab. Er aber, der Kopf der Familie, sei der einzige, der bisher bewiesen hätte, das Leben zu meistern. Er habe sich allen Herausforderungen gestellt und sei nicht davon gelaufen. All seine an ihn gestellten Aufgaben habe er mit Bravour gemeistert, was man von seinen Kindern überhaupt nicht sagen konnte. Er brüllte sich so in Rage, dass die anderen Trauergäste das Weite suchten. Damals hatte er die Kontrolle über sich und seine Gefühle verloren. Das war das einzige mal in seinem Leben. Aber er bereute es nicht. Denn er hatte den Eindruck, dass seine Frau die Kinder zu sehr behütet und viel zu oft in Schutz genommen hatte vor ihm und dem Leben. Nun musste er feststellen, dass sie unverschämt, undankbar und unbrauchbar waren. Eine Schande für die ganze Familie. Und die bestand nun nur noch aus ihm. Der Kontakt zu anderen Familienmitgliedern war von seiner Seite nie gepflegt worden. Das war immer die Aufgabe seiner Frau gewesen. Er hielt von den meisten nichts. Das waren doch auch nur Verlierer und unfähige Menschen, die nichts vorweisen konnten. Er war derjenige, der ein riesiges Imperium aufgebaut hatte. Er alleine – ohne Hilfe von irgendeinem Verwandten. Also konnte sie ihm nun auch alle gestohlen bleiben.
Trotzdem schrieb er an Weihnachten seine Brief. Denn das war Tradition in seinem Haus. Und das ließ er sich nicht nehmen. Seine Frau hatte immer die Briefe an ihre Familie geschrieben. Doch seine eigenen schrieb er selbst. Das verbot ihm sein Stolz, dass dies seine Frau übernahm. Auch nach der Beerdigung mit diesem unsäglichen Streit schrieb er weiter seine Weihnachtsbriefe, ohne sich je zu entschuldigen und ohne je nachzufragen, wie es den anderen gehe. Er schrieb nur von sich. Kurz und knapp und wünschte frohe Weihnachten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Doch er bekam nie Antwort. Nur seine Kinder schrieben ihm eine Karte mit einem kurzen Weihnachtsgruß. Na ja, besser als nichts. Vielleicht besaßen sie ja doch noch etwas Anstand.
Ich war eine ganze Weile in dieser Verpackung. An den Geräuschen konnte ich hören, dass der alte Herr noch in ein Cafe gegangen war. Alles um ihn herum plapperte munter. Nur er war sehr still. Er wechselte kaum ein Wort mit der Kellnerin. Warum redete er so wenig? Hatte er in seinem Leben zu viel reden müssen? Ich spürte wieder diese Traurigkeit. Sie erreichte mich durch das Papier und die Tüte um mich herum. Was hatte ihn so traurig, so still und so stolz werden lassen? Später ging er wohl in einen Park. Ich hörte keine Menschen, aber den Wind und die Vögel. Er saß wohl eine ganze Weile dort. Warum setzt er sich einsam im kalten Wind in einen Park? Es war doch viel schöner, bei diesem Wetter drinnen im Warmen mit netten Menschen zu sitzen. Dieser Mann schien sehr einsam zu sein. Vielleicht mied er die Menschen. Als es dann endlich in sein Haus ging, wurde ich auch bald ausgepackt. Mein Gefühl hatte Recht behalten. Alles war sehr edel. Wir waren in einem wunderschönen Raum. Vollgepackt mit unzähligen Büchern. Dunkles Holz bekleidete den Boden. Die Dielen knarrten etwas. Ein großer dunkler Schreibtisch stand mitten im Raum, aber so, dass das Licht vom Fenster noch darauf fallen konnte. Eine grüne Lampe stand auf dem Tisch. Alles war sehr ordentlich. In einer Ecke stand ein großer, gemütlicher Ledersessel mit einer kleinen Fußbank davor. Sicher saß der alte Herr hier oft und las in seinen Büchern, die teilweise sehr alt schienen.
Ich wurde in die oberste Schublade des Schreibtisches gelegt. Jedoch wurden meine Befürchtungen, nun doch, wie meine Kollegen in einer Ecke des Hauses zu versauern, nicht bestätigt. Denn hier gab es edles Briefpapier. Außerdem kaufte sich doch niemand einen Füllhalter, um ihn in irgendeiner Schublade liegen zu lassen. Nein, ich sollte dem alten Mann verhelfen, liebevolle und geistreiche Worte auf das Papier zu bringen. Ich hatte Zeit!
Am nächsten Tag früh morgens ging der Mann in seine Arbeitszimmer. Er hatte gefrühstückt und war auch schon spazieren gewesen. Sein Zeitplan wurde immer genau eingehalten. Schließlich war er ein Mann mit Prinzipien. Nun hatte er sich einen Tee gekocht und ging damit in das Zimmer, in dem er all die Jahre seine Briefe schrieb. Hier hatte er früher auch oft gesessen, wenn er mal zu Hause war, und an weiteren Ideen für seine Firma gearbeitet. Er gab für ihn immer nur Arbeit. Menschen, die nichts taten, waren für ihn Faulpelze, die anderen nur auf der Tasche lagen. Das gab es bei ihm nicht. Er erinnerte sich an seinen Vater, der zwar arm, aber fleißig war. Ständig war er in der Firma, in der er arbeitete, machte Überstunden, wo es nur ging, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Er und seine Schwester bekamen von früh an beigebracht, dass man etwas leisten müsse, um es zu etwas zu bringen. Da er sich als kleiner Junge immer sehr schämte, dass er mit abgetragener Kleidung herumrennen musste und seine Schulsachen sehr abgenutzt waren, da sie gebraucht gekauft wurden, nahm er sich schon früh vor, niemals mehr solch ein Leben führen zu müssen. Sein Vater spornte ihn an, die Schule gut abzuschließen, damit aus ihm etwas werden konnte. Tatsächlich war er damals einer der Besten. Als er dann seine eigene Firma gründete, war sein Vater unendlich stolz auf ihn. Das vergaß er nie. Aber auch nicht die Worte, er müsse nun noch mehr arbeiten, um das alles aufrechtzuerhalten. Er wollte es seinem Vater beweisen, dass er ein fähiger Mann war. Schon sehr schnell lernte er seine Frau kennen. Es war auf einer Premierenfeier des Theaters. Sie war ihm sofort aufgefallen. Eine zarte, hübsche, junge Frau mit einer unglaublichen Ausstrahlung. Da er ein Mann der Taten war, sprach er sie damals sehr schnell an und horchte sie aus, ob sie schon vergeben sei. Dann hätte er sich anderweitig umgesehen. Schließlich war er in einem heiratsfähigen Alter, baute eine Firma auf und hatte keine Zeit für Liebeleien, aus denen doch nichts wurde. Er brauchte eine vorzeigefähige Frau, die sich um Haus und später auch um die Kinder kümmerte. Das machte er ihr sehr schnell klar. Als sie ihm erzählte, sie sei Sängerin, fand er das ganz nett. Sie konnte sicherlich seinen Kindern das Singen und Musizieren beibringen. Das machte immer einen guten Eindruck, wenn die Kinder zur Musikalität erzogen wurden. Er hielt nicht viel davon, da diese Tätigkeiten zum Freizeitvertreib waren. Das war nichts für ihn. Er machte ihr damals sehr schnell und ausdrücklich verständlich, dass es für einen Mann in seiner Stellung nicht schicken würde, mit einer Sängerin verheiratet zu sein. Da er ernste Absichten mit ihr hatte, müsste sie sich bereit erklären, sich vom Theater zu verabschieden. Sie war damals sehr verliebt in ihn und wäre mit ihm bis nach Afrika gegangen, wenn er das verlangt hätte. Sie willigte ein. Denn er war ein beeindruckender Mann, der wusste, was er wollte. Er schien nur etwas ernst. Doch sie war sicher, das kam daher, dass er so viel arbeitete und die Verantwortung für eine große Firma hatte. Da hatte er nicht viel zu lachen. Doch wenn sie erst einmal eine Familie seien, würde sie ihn schon zum Lachen bringen. Viele Jahre verlor sie diese Hoffnung nicht. Später konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wann sie es aufgab. In all den Jahren und der gemeinsamen Zeit lächelte er kaum, lachte nie.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete die Lampe ein. Seine Tasse Tee stellte er, wie immer, oben links in die Ecke. Zuerst ordnete er die Bilder, die auf dem Tisch standen. Dort standen sie, hübsch eingerahmt in einem silbernen Rahmen. Seine Frau und die Kinder. Ein Bild zeigte auch einen Teil seiner Enkel. Die jüngsten kannte er nicht. Er öffnete die oberste Schublade, holte Briefpapier und den neuen Füllhalter heraus. Alles wurde ordentlich auf dem Tisch verteilt. Das erste Blatt wurde bereit gelegt. Andächtig drehte er den Füllhalter auf, schaute aus dem Fenster und fing zu schreiben an.
Schon am nächsten Tag wurde ich aus der Schublade geholt. Es empfing mich ein angenehmer Duft. Ich sah die dampfende Tasse Tee, die in einer Ecke des Schreibtisches stand. Dann fiel mein Blick auf die Bilder. Das musste seine Familie sein. Eine hübsche Familie. Aber irgend etwas stimmte da nicht. Es waren die Blicke. Sie strahlten die selbe Traurigkeit aus, wie der alte Mann. Dies schien eine traurige Familie zu sein. Warum hatte ich noch keinen von ihnen gesehen? Seine Frau musste doch auch in diesem Haus leben. Doch alles war still. Als schien das Haus zu schlafen. Dann holte mich der Mann in seine rechte Hand, schaute dabei aus dem Fenster und schrieb los. Aber was er da schrieb, war ohne Gefühl. Als er den ersten Brief beendet hatte, konnte ich es nicht glauben. Er schrieb einen Brief an seinen Sohn, der gespickt war von Anfeindung, Desinteresse und Lieblosigkeit. Mich überkam eine tiefe Trauer. Ja, so musste sich seine Familie fühlen. Langsam wurde mir klar, dass wohl keiner seiner Familie mehr in diesem lieblosen Haus wohnte. Ich wollte ihn verdammen, wütend sein, meine Arbeit verweigern. Solch einen Brief durfte niemand vor Weihnachten, dem Fest der Liebe, schreiben. Noch viel weniger, ihn auch versenden!
Der Füllhalter streikte. Ungläubig schüttelte der Mann den Kopf. Er hatte ihn doch gestern erst gekauft. War denn heutzutage noch nicht einmal mehr Verlass auf einen neu gekauften Füllhalter? Er versuchte es wieder und wieder. Aber es kam keine Tinte mehr heraus. Als er ihn aufdrehte, um nachzusehen, ob vielleicht eine leere Patrone die Schuld hatte, erkannte er, dass diese voll und auch neu war. Das wäre ja auch noch schöner gewesen. Ob es wohl schlechte Verarbeitung war? Er kaufte sich immer nur die besten Füllhalter, da er auf Qualität achtete. Er wusste selbst als Geschäftsmann, dass wenn man schlechte Qualität verkaufte, es die Menschen einem zurückzahlen würden, indem sie nicht mehr bei einem kauften. Seine Qualitätskontrollen waren früher weit bekannt als die besten. Er hatte einen guten Ruf. Heute war es in seiner alten Firma nicht mehr so. Die Gesellschaft, an die er schweren Herzens verkauft hatte, sprach nur noch von Sparmaßnahmen und billigeren Produktionsmöglichkeiten im Ausland mit weniger Kontrollen. Da wären sie dann viel konkurrenzfähiger. Alles musste billiger werden. Er hatte auch gehört, dass die Arbeitskräfte weniger Gehalt bekamen. Seine Leute hatten immer viel bekommen. Das war ihm schon sein guter Ruf schuldig. Was hätten die Leute wohl gesagt, wenn er seinen Kräften einen Hungerlohn zahlte. Außerdem vergaß er nie, wie sein Vater früher für wenig Geld viel arbeiten musste. Doch unter der neuen Geschäftsführung bekamen die Arbeiter teilweise ein so schlechtes Gehalt, dass sie sich neue Arbeit suchten. Die Leitung bezahlte sich wohl selbst nicht schlecht, denn sie fuhren immer die dicksten und neuesten Autos. Denen hatte wohl niemand beigebracht, wie man ein Unternehmen führte. Aber das konnte ihm heute egal sein. Er hatte einen sehr guten Preis für seine Firma bekommen. Damals bat er zwar darum, dass er auch weiterhin mit arbeiten und der neuen Leitung beratend zur Seite stehen konnte. Jedoch hatte man ihn regelrecht rausgeekelt. Seine Meinung sei veraltet und nicht mehr anwendbar. Er, der sein Leben lang nichts anderes gemacht hatte, als dieses Unternehmen aufzubauen und mit großem Erfolg zu leiten. Ausgerechnet er und seine Ideen seien veraltet. Das hatte er nicht auf sich sitzen gelassen und ist gegangen. Schweren Herzens, aber sein Stolz verbot ihm, das auf sich sitzen zu lassen. Seit dieser Zeit musste er lernen, dass er viel freie Zeit zu füllen hatte. Anfangs war er darüber krank geworden. Der Arzt sagte ihm immer wieder, er müsse sich eine neue Aufgabe suchen. Er hatte sich noch nie eine Aufgabe suchen müssen. Zeit seines Lebens hatte er sich darum kümmern müssen, dass er genug Zeit für all seine Aufgaben erübrigen konnte. Und nun das! Lange hatte er sich geweigert. Doch irgendwann ist er aus dem Bett aufgestanden und fing an, seinen Alltag neu zu strukturieren. Daran hielt er sich seit diesem Tag. Denn es gab nichts Schlimmeres, als Menschen, die sich gehen ließen. Dazu wollte er nicht gehören. Sein Arzt sagte, er sei gesundheitlich in Ordnung, so dass er auch ohne Weiteres eine andere Arbeit finden konnte. Als Hausmeister, oder Gärtner. Er lachte damals den Arzt aus. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass er noch nie irgend einen Handschlag im Garten gemacht hatte, das war die Aufgabe seiner Frau gewesen, noch dass er handwerklich etwas tat. Dafür waren immer seine Angestellten dagewesen. Ein Mann in seinem Stand fängt doch nicht eine Arbeit als Angestellter an. Früher malte er sich immer aus, wenn er einmal in dem Alter sei, seinen Kindern beizustehen, wie sie seine Firma führten. Die Mädchen wären verheiratet und könnten hin und wieder aushelfen. Zu mehr sei auch gar keine Zeit, denn sie mussten sich ja um ihre Familie, den Mann, den Kindern und das Haus mit Garten kümmern. Doch seinen Sohn sah er als Geschäftsführer, der mit ihm gemeinsam das Unternehmen weiter erfolgreich leitete. Doch daraus war nichts geworden. Sein lieber Herr Sohn zog es vor, als Angestellter in irgend einer kleinen Firma zu arbeiten. Sicherlich zu schlechten Konditionen und mit einem dieser jungen, ungebildeten Geschäftsführer. Seine Frau hätte ihren Töchtern zur Hand gehen können. Geschäftsführung war nun mal Männersache.
Nichts schien in seinem Leben zu laufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Na ja, in seiner Firma war das anders gewesen. Aber alles lief mit der Zeit mehr und mehr aus dem Ruder. Und nun funktionierte auch noch dieser dämliche Füllhalter nicht. Er merkte, wie er immer wütender wurde und es nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Ich wollte diese lieblosen Worte nicht schreiben. Das konnte doch nicht meine Aufgabe sein. Nein! Ich musste etwas unternehmen. Also ließ ich meine Tinte nicht mehr fließen. Vielleicht konnte ich so etwas Zeit gewinnen und mir eine neue Strategie ausdenken. Ich musste diesen alten Mann irgendwie erreichen. Er schrieb Briefe an seine Kinder. Da musste doch mehr Liebe fließen. Er sollte sich für sie interessieren. Was war geschehen?
Plötzlich schmiss er den Füllhalter durch sein Zimmer. Er landete auf dem Teppich und hinterließ einen Tintenklecks. Also kam doch noch Tinte aus diesem verdammten Ding heraus. Der Mann war so wütend, dass er sich seine wenig verbliebenden Haare raufte. Was war nur mit seiner Beherrschung? Sein ganzes Leben hatte er sich beherrschen müssen. Er wollte diese Wut loswerden. Er wollte sie rauslassen. Also schrie er. Er brüllte sich all seinen Schmerz von der Seele. Schrie seine Geschichte gegen die Wände der Bibliothek. Er schlug mit der Faust immer wieder auf den Tisch, dass der Tee überschwappte und die Lampe bedrohlich zu wanken anfing. Alles war ihm egal. Was hatte er alles in seinem Leben geleistet. Wozu? Damit es seine Familie besser hatte. Diese hatte es aber offensichtlich nicht besser gehabt. Der Kontakt zu seinen Kindern war abgebrochen, weil sie ihm vorwarfen, dass er immer nur seine Arbeit im Kopf hatte. Sie bekamen ihn doch so gut wie nie zu Gesicht. Seine Enkel kannten ihn noch nicht einmal. Jetzt, wo er alle Zeit der Welt hatte, kam niemand mehr. Seine Frau hatte die Familie zusammengehalten. Nur seine Frau. Und diese hatte sich ihm all die Jahre gefügt. Nie kam ein Klagen aus ihrem Mund. Nie hat sie ihm Vorwürfe gemacht. Und als er seinen Kindern immer mehr ihre Unfähigkeit vorwarf, gab sie irgendwann ihre Hoffnung und damit ihren Lebenswillen auf. Sie hatte ihn allein gelassen. Warum hatte sie ihn einfach alleine gelassen? Er spürte diesen Schmerz, den er noch nicht einmal beim Tod seiner Frau spürte. Auch nicht während der Beerdigung. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu funktionieren und einen guten Eindruck zu machen. Wie sein ganzes Leben lang. Doch was war das? Er spürte Tränen auf seiner vom Schreien heißen Gesichtshaus. Wann hatte er das letzte mal geweint? Er ließ es zu. Er setzte sich auf den Boden, neben den Füllhalter, zog die Beine an und weinte und weinte. Sein Körper wurde von den vielen Tränen, die er all die Jahre zurückgehalten hatte, durchgeschüttelt.
Als er wütend wurde, bekam ich es mit der Angst zu tun. Hatte ich übertrieben? Dann griff seine Hand nach mir und schleuderte mich durch das Zimmer. Alles drehte sich. Zum Glück landete ich auf dem Teppich, der dick und weich genug war, um größere Verletzungen zu vermeiden. Ich beobachtete den Mann, wie seine Wut langsam aus seinem Gesicht verschwand und sich Trauer breit machte. Und dann konnte ich sie genau sehen. Tränen rannen seine Wangen hinunter. Er weinte. Dann setzte er sich neben mich, als wollte er sich mit mir verbünden und weinte, wie ein kleines Kind. In diesem Moment wusste ich, was zu tun war. Es war so überwältigend deutlich, dass ich sicher war, dass dieses Wissen schon immer in mir schlummerte und nur darauf wartete, bis es entdeckt und genutzt werden konnte. Nun war es so weit. Ich beobachtete den alten Mann, der gebrochen am Boden kauerte und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Was du säst, das wirst du ernten! Ja, nur so konnte es funktionieren. Ich sammelte meine ganze Liebe in mir und sandte sie gebündelt an diesen alten, unglücklichen Mann. Das Gefühl wurde immer stärker, je mehr ich mich darauf konzentrierte. Zeitweise war es so überwältigend, dass auch ich hätte weinen können. Doch dafür war nun keine Zeit. Immer mehr Liebe schickte ich gedanklich zu diesem Menschen, der so wenig davon zu haben schien. Langsam beruhigte er sich. Die Tränen wurden weniger und er sah mich mit großen Augen an.
Während der Mann am Boden saß und bitterlich weinte, spürte er etwas, was ihm unbekannt vorkam, aber sich nicht schlecht anfühlte. Er hätte es nicht mit Worten beschreiben können. Sicher hatten ihm die vielen Tränen Erleichterung geschaffen. Aber da war noch etwas anderes. Ein tiefes Gefühl. Er bemerkte, je stärker dieses Gefühl wurde, desto weniger Tränen liefen. Es fühlte sich weich und warm an. Sein Herz wurde lebendig. Er spürte das erste mal in seinem Leben seinen Körper und horchte in ihn hinein. Fast überkam ihn schon der Wunsch, aufzuspringen und zu tanzen. Doch das war ihm noch zu fremd. Was war nur los mit ihm? Er schaute aus dem Fenster und bemerkte das erste mal, seit er in diesem Haus lebte, das vor diesem Fenster eine Eiche stand. Ein wunderschöner Baum, dessen Äste nun kahl, aber ineinander verschnörkelt gen Himmel zeigten. Diesen Baum hatte er gemeinsam mit seiner Frau zur Geburt ihres Sohnes gepflanzt. Wenn ein Sohn geboren wird, dann musste ein Baum gepflanzt werden. Das war Tradition! Er hatte das aus einem Pflichtgefühl getan, doch diesen Baum nie beachtet. Heute sah er ihn das erste mal an und empfand ihn wunderschön. So schön war auch sein Sohn gewesen. Er war stolz auf ihn. Und seine Frau strahlte, als sie ihn das erste mal in ihren Armen hielt. All die Schmerzen, die sie offensichtlich durchlitten hatte, waren vergessen. Sie war so glücklich und stolz gewesen. Er verbrachte damals nur kurze Zeit mit den beiden, um dann wieder zurück in die Firma zu gehen. Warum hatte er seinen Sohn nicht stundenlang in seinen Armen geschaukelt? Warum ist er nie mit ihm auf diesen Baum geklettert? Da wusste er, was er zu tun hatte. Er stand auf und lachte laut. Vernünftig war er sein ganzes Leben lang gewesen. Nun wollte er einmal unvernünftig sein. Er verstand die Welt nicht mehr, und am allerwenigsten sich selbst. Aber es war ihm egal. Er musste das tun. Er legte den Füllhalter wieder zurück auf den Tisch, wollte schon die Tasse Tee mitnehmen, winkte aber ab und ging nach draußen. Dort zog er sich eine Jacke über und lief in den Garten. Er lachte dabei. Noch nie hatte er sich so unbeschwert gefühlt. Als er an der Eiche angekommen war, schaute er sie an. Das war sein Junge! Er hatte es versäumt, mit ihm dort hinauf zu klettern. Aber es war noch nicht zu spät. Er packte den untersten Ast und zog sich langsam hoch. Mit seinen Beinen kletterte er langsam den Stamm hinauf. Als er auf dem ersten Ast saß, lachte er lauthals. Er wollte noch höher hinaus. So hangelte er sich von Ast zu Ast. Zum Glück waren diese nah genug beieinander, so dass er ohne große Probleme sicher bis fast ganz nach oben kam. Dort angekommen, setzte er sich rittlings auf einen Ast, ließ die Beine hinunter baumeln und freute sich, wie ein kleines Kind. Eine ganze Weile hielt er es dort oben aus. Als er wieder hinunter kletterte, fühlte er sich unendlich befreit. Er hatte etwas getan, was er noch nie getan hatte. Das Kind in ihm wurde lebendig. Wann hatte er sich das letzte mal so gefühlt? Er konnte sich nicht erinnern. Es musste ewig her sein. Vielleicht hatte er sich aber auch nie so frei gefühlt. Er hüpfte und tanzte wild durch den Garten. Mit seinen Füßen trat er in die Laubberge und wirbelte sie auf. Dann packte er mit seinen bloßen Händen in das nasse Laub und schmiss es nach oben. Er beobachtete, wie es langsam auf ihn nieder regnete. Was für ein herrliches Gefühl. Er breitete seine Arme aus und fing an, sich zu drehen. Immer schneller, bis ihm schwindelig wurde und er auf den Boden fiel. Er lachte und rollte sich durch das nasse Laub. Als er aufstand, waren die Blätter überall an ihm verteilt. Im Haar, in seiner Kleidung, an seinen Händen. Er roch daran. Der Geruch von Moder, altem Laub, ein Rest Herbst und etwas Winter stieg ihm in die Nase. So musste er auch riechen. Er war in seinem Winter angelangt und hatte so vieles versäumt. Damit hatte es nun ein Ende! Wenn ihn doch nur seine Frau sehen konnte. Er ging zurück ins Haus, öffnete eine Flasche Wein und goss sich ein Glas ein. Noch nie hatte er am helllichten Tag Alkohol getrunken. Er prostete sich im Spiegel zu und trank auf einen wundervollen Winter – seinen Winter.
Ich hörte ihn wieder ins Haus kommen. Doch etwas klang anders, als bisher. Es schien, als ob er hüpfte. Nein, das konnte nicht sein! Doch als ich ihn durch die Tür sehen konnte, traute ich zuerst meinen Augen nicht. Dieser Mann, der so verbittert in die Welt geschaut hatte, der jedem nur durch seine Art Angst und Respekt einflösste, kam mit einem kindlichen Ausdruck in den Augen hüpfend und singend ins Haus. Was war da draußen geschehen? Es musste etwas Gewaltiges gewesen sein. Denn der alte Mann sah wie verwandelt aus. Doch er gefiel mir so. Er hatte etwas Strahlendes an sich, dass einem die Laune versüßte. Er schenkte sich ein Glas Wein ein. Nanu, es war doch noch hell draußen. Gab es etwas zu feiern? Meine Neugierde wurde immer größer. Ich wollte endlich wissen, was da los war. Dann endlich kam er zu mir....
Nach dem Glas Wein wusste der Mann, was zu tun war. Noch nie war er sich so sicher. Ein herrliches Gefühl durchströmte ihn. Es war noch nicht zu spät! Das Leben hatte ihm noch eine Chance gegeben. Er hob den Füllhalter vom Teppichboden auf. Der Tintenklecks war ihm inzwischen egal. Was war schon ein Fleck auf dem Boden gegen die vielen Flecken, die er in seinem Leben hinterlassen hatte. Er konnte nicht alles wieder gut machen. Aber einiges konnte noch gerettet werden. Es war einen Versuch wert. Er testete den Füllhalter. Nun funktionierte er wieder einwandfrei. Ja, es sollte wohl so sein. Dieser Stift hatte sein Leben gerettet. Er schüttelte verwundert den Kopf. Früher hätte er über solche Gedanken gelacht und sie nicht ernst genommen. Aber er wusste nun, dass es wirklich so war. Er legte ein Blatt Papier vor sich, überlegte kurz und schrieb los.
Meine lieben Kinder,
Weihnachten steht vor der Tür – und dieses Jahr ist alles anders. Ich weiß, ich habe in meinem Leben vieles falsch gemacht. Und ich möchte mich aus tiefstem Herzen entschuldigen. Nie hatte ich Zeit oder Interesse für euch. Und doch ward ihr mein Leben. Ich habe es nicht genügend geachtet und gepflegt. Wenn ihr mir nicht verzeihen könnt, so kann ich euch verstehen. Ich habe lange genug gewartet. Eure Mutter hat so viele Jahre versucht, mich zu überzeugen, ein besserer Mensch zu werden. Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass wir ein gutes Verhältnis zueinander haben. Leider habe ich ihr diesen Wunsch nicht zu Lebzeiten erfüllt. Dafür schäme ich mich sehr und ich bete zum lieben Gott, dass sie es heute von oben mit erleben darf. Ihr, meine Kinder, ward immer mein Stolz. Ich hätte es euch mehr zeigen müssen. Wie furchtbar muss das für euch gewesen sein. Immer zog ich meine Firma vor. Zu welchem Preis? Wie ihr wisst, habe ich vor einigen Jahren verkauft. Ihr hättet eure wahre Freude gehabt, wie sehr ich vorgeführt wurde. Es war bitter, aber durchaus gerecht. Ich habe euch ein Leben lang nicht besser behandelt. Es tut mir so leid! Anstatt mit euch auf den Spielplatz zu gehen, bin ich Terminen nachgehetzt. Ich habe euch abends keine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Das tat immer eure Mutter. Nie hat sie mir Vorwürfe gemacht. Ganz im Gegenteil! Sie hat mich oft auch noch in Schutz genommen. Es sei so viel zu tun. Und ich hätte so viel Verantwortung. So ein Unsinn! Ich hatte lediglich Verantwortung für euch – meine Familie. Und ich habe es versäumt, diese Aufgabe zu erfüllen. Das ist unentschuldbar. Trotzdem wage ich diesen Versuch, um eure Vergebung zu bitten. Ich kann die Zeit nicht zurück drehen. Gott weiß, wie schwer diese Einsicht in so späten Jahren ist. Aber ich möchte euch nun hiermit mein Ehrenwort geben, dass es nie wieder so sein wird, wie es war. Ich wünsche mir so sehr, euch an den Weihnachtstagen in meine Arme schließen zu können. Euch, eure Partner und die lieben Kinder, meine Enkelkinder. Ich habe euch all die Jahre den Vorwurf gemacht, dass ihr nicht meine Firma übernommen habt. Wie Recht ihr doch hattet! Ich habe euch Vorwürfe gemacht, wie ihr euer Leben lebt. So ein Unsinn! Es ist euer Leben und nur ihr wisst, was für euch am besten ist. Von eurer Mutter weiß ich, dass ihr gute Anstellungen gefunden habt. Eure Entscheidung, in einer Anstellung anzufangen, anstatt meine Firma zu übernehmen, war gut. Ihr habt wesentlich mehr Zeit für eure Familien. Genießt es! Sie kommt nie wieder. Ich bewundere euren Mut und eure Aufgeschlossenheit. Glaubt mir, das habe ich schon früher. Aber ich konnte es vor mir selbst nicht zugeben. Dann hätte ich all meine Fehler einsehen müssen. Dazu war ich leider nicht eher bereit. Wie dumm von mir!
Meine Kinder, ich bitte euch wirklich aus tiefstem Herzen um Verzeihung. Heute ist ein wunderbarer Tag, um neu anzufangen. Stellt euch vor, euer alter Vater war eben auf unserer alten Eiche. Ja, ich bin dort hinauf geklettert. Wisst ihr noch, wie ihr so klein wart und unbedingt dort hinauf klettern wolltet. Und wie ich es euch verboten habe, weil ich es als Unfug abgetan habe? Wie falsch von mir! Es ist kein Unfug, sondern der größte Spaß, den man haben kann. Dort oben hat man einen gigantischen Blick auf die Umgebung. Wenn ihr zu Besuch kommt, dann nehme ich euch mit – und meine Enkelkinder auch. Bitte kommt über die Feiertage. Ihr könnt so lange bleiben, wie ihr möchtet. Seid meine Gäste. Ich würde mich sehr freuen und geehrt fühlen, eure Familien endlich einmal richtig kennen zu lernen.
Meine Kinder, ich schließe diesen Brief mit den aufrichtigen besten Wünschen für das Weihnachtsfest. Möge Gott immer mit euch und euren Familien sein. Bitte gebt mir diese Chance, euch noch etwas begleiten zu dürfen. Ich wünsche mir, dass wir alle noch einmal zusammen sind.
Euer euch liebender Vater
Er las den Brief noch einmal und nickte. Ja, das waren die Worte, die ihm wichtig waren. Der Brief wurde noch zweimal geschrieben. Er wusste nicht, ob seine Kinder darauf eingehen würden. Aber das war nicht so wichtig. Sicher würde er sich unendlich über eine zweite Chance freuen. Aber wichtiger war, dass er sein Gewissen bereinigte. Er hatte so viele Fehler gemacht.
Ich konnte es gar nicht glauben, was der Mann da schrieb. Ich hätte weinen können. Es musste da draußen etwas Wundervolles geschehen sein. Es war ein Wunder! Ja, vielleicht hatte es etwas genutzt, beim ersten Brief so bockig gewesen zu sein. Meine ausgesandte Liebe musste bei ihm angekommen sein. Er hatte wohl noch einmal über alles nachgedacht. Ich spürte auf einmal ganz tief in mir, dass dies meine Bestimmung war. Ich war angekommen. Das machte mich so glücklich!
Der alte Mann faltete die Briefe ordentlich und steckte sie in Umschläge. Sorgfältig schrieb er die Adressen seiner Kinder darauf und klebte sie zu. Dann kamen die Briefmarken drauf. Noch heute wollte er die Briefe einwerfen. Wenn es sein sollte, würden seine Kinder diese Briefe auch lesen. Denn er konnte sich gut vorstellen, dass sie nach all den Jahren der immer selben Weihnachtspost von ihrem Vater, diesem Brief nicht sehr viel Aufmerksam spenden wollten. Der Mann legte sein Schicksal in Gottes Hände.
Je näher Weihnachten rückte, umso nervöser wurde ich. Ich konnte aber auch eine immer stärker werdende Unruhe bei dem alten Mann feststellen. Er lief oft durch das Haus, als sei er auf der Suche. Es wurde aufgeräumt. Zimmer vorbereitet für Gäste. Ich betete zu Gott, dass seine Kinder kommen würden. Ich spürte seine Liebe, die er all die Jahre nicht zeigen konnte. Er sprach mit seiner verstorbenen Frau und entschuldigte sich immer wieder für sein Fehlverhalten. Doch er sprühte auch, seit dem Tag, an dem er die Briefe geschrieben hatte, vor Lebensfreude. Ich hörte ihn singen und sah ihn tanzen. Es war, als hätte ihn ein Wunder verwandelt. Aus dem alten, störrischen Mann war ein lebenslustiger, gütiger Mensch geworden. Ich fühlte tiefe Dankbarkeit. Meine Aufgabe war erfüllt!
Der Weihnachtsabend kam und der alte Mann begann den Tag, wie jedes Jahr, mit einen Spaziergang zum Grab seiner Frau. Dort verweilte er eine ganze Weile. Er zupfte hier und wischte dort. Und wann immer er in die Nähe des Grabsteines kam, streichelte er liebevoll darüber. Früher hatte er immer mürrisch drein geschaut. Wenn ihn jemand grüßte, brummte er nur unverständlich vor sich hin. Heute lächelte er. Er winkte Menschen zu, die ihn verwundert ansahen. Er spürte einen nie da gewesenen Frieden.
Zu Hause angekommen, machte er sich einen starken, dampfenden Kaffee. Er ging noch einmal durch alle Zimmer. Es war alles vorbereitet für seine Kinder. Unmengen von Spielsachen hatte er in den letzten Tagen eingekauft. Seine Enkelkinder sollten sich bei ihm wie zu Hause fühlen. Er hatte Plätzchen und Kuchen gebacken. Am Nachmittag fing er mit dem Kochen an. Er hatte sich ein besonderes Menu herausgesucht. Durch den Tod seiner Frau hatte er in den letzten Jahren gelernt, zu kochen. Denn keine Haushälterin hielt es lange bei ihm aus, da er so unfreundlich war und viel zu viel von ihnen erwartete. Er hatte sich immer nur dürftig gekocht. Es machte ihm keine Freude und er wunderte sich, dass seine Frau all die Jahre ohne sich zu beschweren, für alle gekocht hatte. Sie schien es immer gern getan zu haben. Heute konnte er das verstehen. Mit Freude stand er in der Küche, schnitt, rührte, knetete, würzte und stellte sich vor, wie die Familie zusammen essen würde. So verging auch der Nachmittag wie im Flug. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass es draußen immer dunkler wurde. Das Essen war vorbereitet. Er ging in das Wohnzimmer, in dem eine riesige Tanne stand. Den Weihnachtsschmuck hatte er das erste mal seit dem Tod seiner Frau vom Dachboden herunter geholt. Jedes einzelne Stück hatte er mit einem Lächeln begrüßt. Wie schön es doch war, etwas für andere zu tun. Früher war er immer froh gewesen, wenn die lästigen Feiertage endlich herum waren, damit er sich wieder um seine Geschäfte kümmern konnte. Er fand Weihnachten eine einzige Zeitverschwendung. Wie konnte er nur so dumm sein? Er fand den Weihnachtsbaum gelungen.
Ein Glas Rotwein war nun genau das richtige. Er legte eine CD ein, genoss den Wein und lauschte der Musik. Nun konnte er entspannen. Die Zeit verging. Es wurde immer später. Er hatte seit dem Versenden der Briefe keine Angst empfunden. Es würde kommen, wie es kommen sollte.
Er wurde durch ein Geräusch wach. Die Musik war aus. Er musste wohl eingeschlafen sein. Schlaftrunken stand er aus seinem bequemen Lehnsessel auf. In der Küche stellte er das Essen in den Kühlschrank. Er würde morgen etwas davon essen und den Rest an die Wohlfahrt geben. Die Menschen, die Weihnachten kein zu Hause hatten, würden sich sicher über eine leckere Mahlzeit freuen. Kurz hielt er inne. War er enttäuscht? Seltsamerweise nicht. Er spürte eine tiefe Traurigkeit. Das war in Ordnung für ihn. Aber er war nicht enttäuscht. Er sah es auch nicht als Strafe an, dass seine Kinder nicht gekommen waren, sondern als Schicksal. Er hatte die Entscheidung abgegeben. Nun nahm er es an. Er goss sich noch ein Glas Wein ein und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dieses eine mal wollte er noch einen Brief schreiben. Er war sich nicht sicher, ob er ihn auch abschicken würde. Es war für ihn wichtig, noch einmal seine Gefühle und Gedanken niederzuschreiben. Außerdem konnte er jetzt sowieso nicht mehr schlafen.
Es war schon spät, als mich der alte Mann in seine Hand nahm. Seine Kinder waren nicht gekommen. Eine tiefe Traurigkeit überfiel mich. Trotzdem bekam ich nicht das Gefühl, es sei gescheitert. Der Mann hatte Frieden mit sich und seinem Leben geschlossen. All sein Hass und seine Härte waren aus seinem Gesicht verschwunden. Er hatte sein Ziel erreicht. Auch wenn er gerne noch einmal seine Kinder in die Arme geschlossen hätte. Aber vielleicht kamen sie ja doch noch. Wer wusste das schon! Auch ich hatte die tiefe Gewissheit, mein Ziel erreicht zu haben. All die Zeit in der Vitrine hatte ich diese Überzeugung, dass ich eine ganz bestimmte Aufgabe zu erledigen hatte. Wenn mich die anderen verspotteten oder fragten, was das denn für eine große Aufgabe sei, konnte ich nichts darauf erwidern. Ich wusste es ja selbst nicht. Aber nun spürte ich, dass mein Dasein wichtig war. Für diesen alten Mann war es vielleicht die letzte wichtige Tat. Und dafür war ich dankbar. Was konnte man mehr von seinem Leben erwarten?
Er trank einen Schluck Wein, schaute auf das weiße Blatt Papier, dann auf seinen Füllhalter. Seit er dieses Schreibgerät im Haus hatte, war ein Wunder geschehen. Er war nicht mehr der alte. Er spürte diesen Frieden, den er immer verspottet, aber innerlich gesucht hatte. Nun hatte er ihn gefunden. Und das alles nur, da dieser Füllhalter für einen Moment seinen Dienst aufgab. Er musste lachen. Wie verrückt das Leben doch sein konnte. Er empfand Dankbarkeit, dass er diesen Wandel noch erleben durfte. Seine Hand glitt über das Papier:
Meine geliebten Kinder,
ich weiß nicht, ob ihr diese Zeilen lesen werdet. Es ist auch nicht wichtig für mich. Ihr seid nicht gekommen. Ich hatte alles vorbereitet und es war eine Freude, für andere etwas zu tun. Endlich konnte ich das freudige Schaffen eurer Mutter nachvollziehen, wenn sie für euch oder für Gäste den ganzen Tag arbeitete und abends müde, aber glücklich, ins Bett fiel.
Ich möchte euch nur sagen, dass ich nicht böse, traurig oder sonst etwas bin. Etwas traurig, ja, aber es ist wirklich in Ordnung. Ich habe mich in den letzten Tagen gewandelt und bin nun endlich der Mensch, als der ich gedacht bin. Mir geht es gut. Sehr gut sogar! Ich habe noch nie solch einen Frieden gefunden, wie in dieser Zeit. Durch die Zeilen, die ich euch geschickt habe, mit der Einladung für heute, habe ich mir meinen Kummer und Schmerz von der Seele geschrieben. Ich vermisse eure Mutter sehr. Auch euch vermisse ich. Doch ich weiß inzwischen, dass nicht die gemeinsam verbrachte Zeit wichtig ist, sondern mit welchem Gefühl man an den anderen denkt. In den letzten Jahren habe ich versucht, zu vermeiden, an euch zu denken. Ihr habt mir auf der Beerdigung eurer Mutter die Augen geöffnet, die ich aber sofort wieder verschlossen habe. Ihr hattet ja so Recht! Ich kann die Zeit nicht zurück drehen. Das ist auch nicht Sinn und Zweck! Ich liebe euch! Das erste mal in meinem Leben, dass ich das sagen und auch fühlen kann. Das ist ein Wunder und ein gigantisches Geschenk. Ich möchte dieses Gefühl nicht mehr missen und werde es halten, bis an mein Lebensende. Falls ich dann einmal nicht mehr bin, dann haltet mich in guter Erinnerung. Werdet nicht so wie ich. Es verhärtet das Herz und macht blind für die täglichen kleinen und großen Wunder. Richtet eure Aufmerksamkeit auf eure Liebe in euch. Nur so könnt ihr etwas bewegen. Und ich weiß, dass ihr das könnt. Denn ihr habt es mir schon so oft gezeigt. Ich bin stolz auf euch! Auch das habe ich euch noch nie mitgeteilt, weil ich zu sehr mit mir beschäftigt war. Diese Liebe, dieses Glück, mit euch gegangen zu sein, und dieser Stolz werden mich über den Tod hinaus begleiten.
Ich kann euch gut verstehen, dass ihr euren alten, rechthaberischen und egoistischen Vater nicht besucht habt. Er hat euch viel angetan. Vielleicht kommt ihr eines Tages. Aber bitte glaubt mir, ich erwarte es nicht von euch. Denn meine Liebe ist so oder so in mir. Und ich bin glücklich, wenn ich an euch denke. Das, und nur das zählt!
Ich liebe euch-
Euer Vater
Die Worte flossen nur so aus seinem Füllhalter. In erster Linie schrieb er es für sich. Er wollte eine Nacht darüber schlafen, bevor er sich entschied, ob er den Brief zur Post bringen wollte. Er lächelte das Bild seiner Familie an, das auf seinem Schreibtisch stand. Zärtlich berührte er jeden einzelnen mit seinen Fingerspitzen. Dann legte er den Füllhalter ordentlich auf den Brief und machte das Licht aus. Er war müde geworden und schlurfte ins Bett.
Seine Kinder waren am nächsten Tag gekommen, da sie eine Autopanne hatten und in einem Hotel übernachten mussten. Sie hatten miteinander telefoniert und beschlossen, ihren Vater zu besuchen, da er inzwischen alt geworden war. Man durfte nicht nachtragend sein. Sie hatten nur noch ihn. Alle waren sich einig und die Enkelkinder freuten sich auf ihren Opa, den sie nicht kannten oder an den sie sich nicht mehr erinnern konnten. Sie hatten sich bei dem Bruder getroffen, um gemeinsam anzukommen. Es sollte eine große Überraschung werden. Was wohl aus dem Haus geworden war? Seit der Beerdigung waren sie nicht mehr darin gewesen. Und wie es wohl dem Vater inzwischen ging? Es musste etwas geschehen sein, dass er sich so sehr gewandelt hatte. Sie hatte noch nie zuvor solche Worte von ihm gehört. Die Anspannung war groß. Und dann ging eines der Autos kaputt. Es war schon spät und in der Weihnachtsnacht bekamen sie keine Hilfe mehr. Sie überlegten sich, besser in einem Hotel zu übernachten und am nächsten Morgen einen Wagen zu mieten.
Das Haus wirkte gepflegt. Sie hatten schon zweimal geläutet. Aber ihr Vater machte ihnen nicht auf. Der Älteste ging um das Haus. Früher hatten sie immer einen Ersatzschlüssel hinter einem Busch versteckt. Vielleicht war er noch dort. Ja, alles war wie früher. Sie öffneten die Tür und riefen, aber nichts regte sich. Alles war weihnachtlich geschmückt. Der Vater hatte sie erwartet. In der Küche roch es nach Essen. Ob er in die Kirche gegangen war? Es war doch noch viel zu früh. Sicher war er auf den Friedhof gegangen. Sie wollten ihre Sachen in ihre Zimmer bringen, als eines der Enkelkinder ihn fand. Er lag schlafend in seinem Bett und lächelte friedlich. Doch aus diesem Schlaf sollte er nie wieder aufwachen.
Sie fanden seinen Brief im Wohnzimmer auf dem Schreibtisch. Doch es war nun zu spät, ihn in ihre Arme zu schließen und alles aus der Vergangenheit zu vergessen und neu anzufangen.
Die Beerdigung war direkt nach Weihnachten. Seine Kinder und Enkelkinder waren in seinem Haus geblieben und hatten alles vorbereitet. Es war eine kleine und ruhige Beerdigung. Er wurde neben seiner Frau und ihrer Mutter begraben, sein Füllhalter in der Hand. Dieser hatte wohl dazu beigetragen, dass er sich in seinen letzten Tagen so sehr gewandelt hatte. Sie waren unsagbar traurig. Aber sie waren sich sicher, dass ihr Vater in Frieden gestorben war.
Nach der Trauerzeit war nichts mehr, wie es einmal war. Die Kinder kauften die Firma ihres Vaters zurück. Der Inhaber hatte nicht den erwarteten Erfolg und musste verkaufen. Seine Kinder überlegten nicht lange. Die jüngste Schwester zog in das Elternhaus. Die zwei anderen suchten sich Häuser in der Umgebung. Sie waren wieder zusammen und führten auch gemeinsam das alte Familienunternehmen. Alles, was sie von ihrem Vater gelernt hatten, konnten sie nun erfolgreich umsetzen. Sie behandelten ihre Mitarbeiter so, wie ihr Vater es getan hatte. Mit großem Respekt. Sie gingen auf sie ein und bezahlten sie gut. So war es nicht verwunderlich, dass innerhalb kürzester Zeit die Menschen in der Umgebung und auch von weit her sich darum rissen, dort zu arbeiten. Sehr schnell wurden satte Gewinne geschrieben und alle wurden daran beteiligt. Doch alle drei Kinder nahmen sich genug Zeit für ihre Familien. Und so oft es ging, trafen sich alle in dem alten Familienhaus, um sich zu erinnern. Das Bild ihrer Eltern hing gerahmt im Wohnzimmer. Wann immer es ging, besuchten sie das Grab. Der alte Mann hatte es geschafft, über seinen Tod hinaus, die Familie wieder zusammen zu bringen.