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Der Führer lebt!
Der Führer lebt!
Opa Ewald, 103, stand einsam und verlassen vor dem mächtigen Regal der Bibliothek des Altersheimes zu Borsdorf und reckte seine viel zu kurzen Arme in die Richtung der Groschenromane. Irgendjemand hatte aus einem für Opa Ewald völlig unverständlichen Grund die Groschenromane in das oberste Fach des Regals gestellt. Und Pfleger waren, wenn es um die Bildung der Heiminsassen ging, selbstverständlich abwesend. Er reckte den rechten Arm noch höher, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen Das Mädel vom Schwarzwald zu ergattern. Der Seitenscheitel, die tiefen Falten rechts und links der Nase und das kleine Unternasenbärtchen ließen ihn irgendwie wie ein alter Bekannter aussehen.
„Kamma jemand helfen? Halloooo…! … Saubande!“
Seine Hilfegesuche verhallten im dichten Wald der Bücherregale. Doch nach einiger Zeit polterte es an der Tür der Bibliothek und der rollbestuhlte Franz Ferdinand Kalitka näherte sich von hinten.
„Was’n los?“
„Ich will die Groschenromane“, sagte Opa Ewald leicht angefressen.
„Wo denn?“
„Na da!“ Langsam aber beständig erhob Opa Ewald seinen rechten Arm und deutete auf Das Mädel vom Schwarzwald.
„Das ist ja unglaublich!“, rief F.F. Kalitka mit lauter Stimme.
„Was…?“
„Vor mir steht der leibhaftige Führer!“
„Führer … was … wer? Hör’ mal, ich war in der KPD und reagiere sehr empfindlich auf solche Scherze!“
Franz Ferdinand Kalitka konnte sich nicht halten vor Lachen und fing an zu scherzen.
„Wirrr holen jetzt einen Pfleger und dann wirrrd derrr ganze Grrroschenschund verrrnichtet!“
Opa Ewald stand noch fassungslos und mit gerecktem rechten Arm vor dem Regal als zwei Pfleger die Bibliothek betraten.
„Der Führer lebt! Er lebt!“, feixte Kalitka und rollte in Richtung Ausgang, um allen die frohe Botschaft zu verkünden.
Einige Tage später fand sich die Borsdorfer Kameradschaft vor dem Altersheim spontan zu einer Pilgerveranstaltung ein. Mit Blumensträußen und schwarz-weiß-roten Fahnen postierten sie sich in Reih und Glied am Eingang des Heimes. Der Oberkamerad löste sich aus dem Glied und ging auf das Pförtnerhäuschen zu.
„Wir wünschen den Führer zu sehen!“
„Wat woll’n se?“ Der Pförtner reagierte etwas ungläubig.
„Wir wollen zum Führer. Wir wünschen eine Aud … wie heißt das?“
„Audienz!“, rief der Unterkamerad aus dem Glied.
„…genau!“
„Da muss ich aber erst mal telefonieren.“ Der Pförtner verschwand in seinem Kabuff und griff zum Telefon. Nach einiger Zeit kehrte er zurück und versuchte den Irrtum aufzuklären.
„Führer jib’s hier nich. Unn jetz Abmorsch!“
„Aber mein Opa hat gesagt, sie hätten einen…“
„Mumpitz … Abmorsch!“
Unverrichteter Dinge zog sich die Kameradschaft zurück.
Am nächsten Tag war die komplette Führungsriege der Bürgerinitiative „Braunes, Reines Deutschland“ auf dem Platz vor dem Eingang des Altersheimes erschienen. Das Lokalfernsehen und die Polizei gesellten sich dazu, als die Bürgerinitiative lautstark die Herausgabe des Führers verlangte. Reporter eines großen deutschen Boulevardmagazins telefonierten sich die Finger wund. Überall konnte man die Worte „Er lebt!“ vernehmen. Mittlerweile hatte der Tumult auch Opa Ewald erreicht, und er beschloss, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Er ging zu einem Fenster, von welchem aus man die Menschenmassen gut sehen konnte und öffnete es. Plötzlich brach der Pöbel in frenetisches Gegröle aus.
„Er lebt!“
„Führer, wir lieben Dich!“
„Führer, befiel!“
„Ich habe mich nicht dreiundreißig von der SA verprügeln lassen, um jetzt von euch Idioten Führer genannt zu werden! Ich bin nicht der verdammte Führer und jetzt verpisst Euch!“
Das große Deutsche Boulevardmagazin brachte am nächsten Tag ein Bild von Opa Ewalds Wutausbruch auf die Titelseite, geschmückt mit der überdimensionalen Schlagzeile „Er lebt!“ Und tatsächlich! Opa Ewald war am Leben und erfreute sich bester Gesundheit.
24 Stunden später berichteten auch die ausländischen Boulevardmagazine über das Auftauchen des Führers. Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Die Telefone der Staatsoberhäupter und der Geheimdienste liefen heiß.
Im Hauptquartier des Mossad brach Hektik aus.
„Er lebt! Er lebt!“ Die Geheimagenten liefen wie die Wiesel durch das Gebäude des israelischen Geheimdienstes. Der Leiter des Mossad stürzte auf den Gang.
„Die Russen wollen ihn haben. Aber wir werden die ersten sein!“
Das Kampfgeschrei auf den Gängen ließ die Wände erzittern.
Auch im amerikanischen Verteidigungsministerium war Aufbruchsstimmung zu spüren. Der Verteidigungsminister und sein Stab waren nicht untätig und arbeiteten hastig Invasionspläne aus. Doch der Sprecher des Verteidigungsministers hatte Einwände.
„Eben kam ein Fax vom deutschen Bundeskanzler. Sie wollen ihn nicht rausrücken.“
„Wie jetzt, nicht rausrücken? Seit wann interessiert uns, was die Deutschen sagen?“
„Naja … sie behaupten, es wäre gar nicht der Führer, sondern nur einer, der ihm ähnlich sieht.“
„Ob es der Führer ist, bestimmen immer noch wir. Sagen Sie das dem Deutschen. Wir sind Amerikaner, wir nehmen uns, was wir haben wollen.“
Im Büro des deutschen Justizministers ging ein Eilschreiben des amerikanischen Justizministers ein. Er fragte, ob das Gerichtsgebäude in Nürnberg noch intakt sei. Auch ein Fax aus Russland war dabei. Der russische Präsident verlangte bei aller Freundschaft die Auslieferung und drohte mit militärischen Schritten, sollten die Deutschen nicht bereit sein, dem Folge zu leisten.
„Auslieferung, Nürnberg, Führer, hä?“ Der Justizminister war offensichtlich noch nicht im Bild, also legte sein Sprecher ihm die neuste Ausgabe eines großen deutschen Boulevardmagazins vor.
„Überprüfen Sie die Identität dieses Mannes und buchten Sie ihn ein.“
„Aber Herr Minister, das ist nicht der Führer.“
„Ist er nicht?“
Der Verteidigungsminister betrat das Zimmer.
„Nein, ist er nicht!“
„Nun … ich denke, dieser Irrtum wird sich schnell aufklären.“
„Das hoffe ich auch“, warf der Verteidigungsminister ein, “denn die Russen haben mobil gemacht!“
„Informieren Sie unverzüglich den Bundeskanzler!“
„Der weiß schon Bescheid.“
„Na dann … äh … wir verfahren nach der üblichen Vorgehensweise.“
Die Situation spitzte sich zu. Nach weiteren 24 Stunden war Deutschland umringt von alliierten Invasionsstreitmächten, allen voran die Amerikaner von West und die Russen von Ost. Beim Bundeskanzler ging ein Ultimatum ein. Binnen der nächsten 12 Stunden soll Opa Ewald an die alliierten Streitmächte ausgeliefert werden oder es werde begonnen, militärische Einrichtungen in Deutschland zu bombardieren.
Auf Drängen der Heimleitung in Borsdorf machte sich Opa Ewald auf den Weg, um sich zu stellen und den Irrtum aufzuklären. Im Bundeskanzleramt nahm man diese Nachricht mit Beruhigung auf.
„Informieren Sie die Alliierten, dass wir den Führer haben!“
Fünf Minuten vor Ablauf des Ultimatums befand sich Opa Ewald im Hochsicherheitstransportfahrzeug des Bundesgrenzschutzes auf dem Weg zur Holländischen Grenze, um an die Alliierten übergeben zu werden. Der Begleittrupp stand mit Opa Ewald in Hand- und Fußschellen zur Übergabe am vereinbarten Treffpunkt bereit. Doch es war keiner mehr da. Die alliierten Truppen hatten sich zurückgezogen. Der Funkoffizier meldete, dass sich großer Teile der Invasionsarmee in Richtung Südamerika aufgemacht hatten. Auch die Russen an der polnischen Grenze zogen weiter nach Südosten.
Das Fernsehen berichtete über das Auftauchen dreier weiterer Führer und eines Usama Bin Laden in Südamerika, Sibirien und Indien. Und so wuselten Millionen ausländischer Soldaten wie die aufgescheuchten Hühner über den Globus und machten Jagd auf Jahrhundertverbrecher.
Der amerikanische Präsident und sein Verteidigungsminister machten in einem Eilschreiben an den Bundeskanzler klar, dass die Auslieferung des Führers noch nicht vom Tisch sei. Man melde sich später noch mal. Aber so lange Opa Ewald noch am Leben sei, würde man keine Kosten und Mühen scheuen, ihm seine gerechte Strafe zukommen zu lassen.
Somit ist Deutschland der Invasion vorerst entgangen. Allerdings hielt man es für angebracht, bis zur Klärung der Auslieferungsmodalitäten Opa Ewald unter Hausarrest zu setzen.