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Der Experte
Ray wachte nicht auf dem harten, kalten Boden auf, wie er vermutet hatte. Er wachte auf einer durchgelegenen Matratze auf. Verdammt, dachte er. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war das hämisch grinsende Gesicht des südländischen Arschlochs und der harte Schlag auf den Hinterkopf, der ihn ins Land der Träume geschickt hatte.
Jetzt nahm auch der Raum um ihn herum langsam Konturen an. Der Raum war nicht groß, von Licht geflutet, drei mittelgroße Fenster ließen gleißendes Nachmittagslicht hindurch scheinen. Davor die Schemen zweier Gestalten, deren Körperhaltung darauf schließen ließ, dass sie vor etwas Angst hatten. Vor ihm, wahrscheinlich. Er setzte sich auf. Der Raum war vielleicht zwei mal vier Meter groß und in einem absolut hässlichem pastellgelb gestrichen. Das hatte man bestimmt gemacht, um die Gäste zu ärgern. Er rieb seinen Hinterkopf. Da hatte man ihm drauf gehauen, um ihn zu ärgern. Die Tür hatte keine Klinke, hätte ihm auch schon vorher auffallen können. Er wurde alt. Er wandte sich den beiden Männern zu.
„Und ihr seid?“, fragte Ray barsch.
„José und Tranquillo, Señor. Geht es Ihnen gut?“ Ray ging nicht darauf ein.
„Wer von euch ist wer? Kann er nicht sprechen?“
„Ich bin José. Tranquillo spricht diese Sprache nicht.“
„Illegale Einwanderer?“
„Nein, Señor. Illegal zurückgeschmuggelte Auswanderer.“ Er machte eine Pause. „Darf ich Sie fragen, weshalb Sie hier sind?“
„Ich bin nur zufällig auf der Durchreise.“ Er rappelte sich auf und überprüfte seinen Anzug. Er trug noch seine Schuhe, seine Hose und Hemd und Jackett. So weit, so gut. Er trug auch noch alles darunter. Sogar die Krawatte saß noch, auch wenn sie nicht mehr ganz sauber war. Auch gut. Allerdings fehlten ihm sein Schlüssel, seine Brieftasche, sein Mobiltelefon, seine Armbanduhr und seine Kanone. Wahrscheinlich war es gut, dass ihm letzteres fehlte, was hatte er sich dabei gedacht, als er zu seiner Freundin aufgebrochen war. Dabei fiel ihm auf, dass sie ihm auch noch den Blumenstrauß abgenommen hatten. Saukerle.
„Señor.“ José begann, doch er hörte abrupt auf, nachdem Ray ihn mit einem Blick bedacht hatte, der schon so manchen Discobesucher zurück nach Hause geschickt hatte. Und die beiden südländischen Männer zogen sich in die Stille Ecke zurück.
Er setzte sich zurück auf die Matratze und dachte nach. Eigentlich wollte er nicht gerade noch ein Drogendealernest ausheben; wenn heute noch heute war, wollte er nur zu seiner Freundin. Er hatte immer wieder beteuert, dass er dieses Mal pünktlich sein würde. Pünktlich wäre vor acht Stunden gewesen, dem Stand der Sonne nach zu urteilen. Eigentlich wollte er nur noch seine Ruhe haben, aber nachdem das voraussichtlich die dritte Freundin sein würde, die ihn innerhalb dieses Jahres verlassen würde, und es dieses Mal nun wirklich nicht seine Schuld war, erwägte er ernsthaft, seine Prinzipien zu ändern. Seine Freundin wusste ja nicht einmal, dass er mal Soldat gewesen war. Nun ja, sie war nicht dumm, aber er tat auch alles dafür, es mit seiner Selbstständigkeit zu überspielen. Wenn er sich erklärte – sofern sie ihn überhaupt noch ließ, würde er ihr das alles beichten, und es würde gewiss nicht einfach werden. Weder das heute noch sein eigentlich Job. Er strich seinen Anzug glatt, ein bisschen Staub landete auf der Matratze.
Freischaffender Experte zur Erledigung verschiedenster Aufgaben – Transporter, Bodyguard u.Ä.. Er arbeitete immer noch an diesem Slogan, denn er gefiel ihm noch nicht wirklich. Er rückte seine Krawatte zurecht.
Ray plante nicht damit, lange hier zu bleiben. Das hatten sie weder in Afghanistan noch in Libyen geschafft. Und so wie dieser Schuppen aussah, sollte es keine größere Schwierigkeit bereiten, hier rauszukommen…
„Señor?“ Er mochte seine Zimmergenossen schon jetzt nicht mehr. Er sah sie an. „Wir möchte sie nur fragen, ob alles in Ordnung mit ihnen ist. Sie haben sich schon seit einer halben Stunde nicht mehr bewegt.“
„Mir geht’s gut.“ Er machte keinerlei Anstalten, sich zu bewegen. Stattdessen ging er die Geschichte nochmal im Kopf durch.
Angefangen hatte es morgens. Stopp. Zurück auf Anfang. Er mahnte sich zur Präzision. Es hatte vormittags angefangen. Er hatte morgens bei seiner Freundin sein wollen und es war sonniger Vormittag geworden. Dann hatte er eine Abkürzung durch das Industriegebiet nehmen wollen und war dabei irgendwie am Gelände der südländischen Mafia vorbeigekommen. Hätte vielleicht ein Pharmazeutikverein sein können, oder wenn es nach Ray ging vielleicht die Zigarettenverteilstelle für Hilfsbedürftige, wären da nicht die braungebrannten Wachleute mit ihren Kalashnikows und der LKW mit aufgeladenen Menschen gewesen, die ihn alle traurig anschauten. Und an diesem Morgen hatte er sogar ihre Bitte abschlagen wollen, nicht gleich den gesamten Verein Schach Matt zu setzen. Das hätte er auf morgen verschoben. Voraussichtlich.
„Hey du Penner!“ Südländischer Akzent. Er mochte die Jungs schon nicht, als er sie das erste Mal sah. Sie waren zu temperamentvoll und zu schnell mit dem Finger am Abzug. Sicher, Südländer waren meistens entspannt und hatte Sinn für gutes Essen, aber etwas sagte Ray, dass diese Jungs am Haupteingang nicht dazu gehört hatten. Und noch etwas war allen südländischen Typen eigen: sie waren schnell beleidigt.
„Hast du mich gerade einen Penner genannt?“, hatte Ray gefragt.
„Und ich nenn dich gleich nochmal Penner. Hier gibt es nichts zu sehen, also hau ab.“ Dabei fuchtelte er ihm mit seiner Waffe vor dem Gesicht herum. Ray hatte sich gefragt, in was für einer Welt man lebte, wenn man ohne Grund einen Penner genannt wurde, obschon er an diesem Morgen nicht nach einem ausgesehen hatte und es auch jetzt noch nicht tat.
„Hey Man! Du kannst doch nicht rumlaufen und einfach Leute einen verdammten Penner nennen!“ Ray hatte sich daraufhin vor ihm aufgebaut.
„Und ich sage dir, dass ich es doch kann. Und wenn du jetzt nicht verschwindest, liegst du gleich wie ein Penner im Dreck.“ Ray hatte noch etwas sagen wollen, da taumelte er bereits und fiel hin. Danach war er hier wieder aufgewacht. Und damit hatten ihn diese verdammten Penner sauer gemacht.
Was gäbe er jetzt für einen Zahnstocher, oder einen Grashalm. Der half ihm immer beim Denken. Es war so eine dumme Angewohnheit von ihm geworden, in kniffligen Situation auf etwas herum zu kauen. Beim Angriff auf ein Talibanlager, beim Beschützen eines hyperaktiven Kinderstars oder beim Date mit der Freundin. Und jetzt fehlte ihm etwas, auf dem er herum kauen konnte. Alles, alles außer Zigaretten und Kaugummi. Zigaretten waren schlecht für die Kondition und verursachten schlechten Atem. Und Kaugummi war zu süß. Ray merkte, dass er gedanklich abglitt. Er wurde alt, sagte er sich. Wieder einmal. Er prüfte jeden Winkel des Zimmers. Keine Steckdose, kein Lichtschalter, gesicherte Lampen, keine Wandleisten, die Decke massiv. Eine zweite Tür führte in ein kleines Kabuff für die stillen Geschäfte. Auch hier war alles sicher verschraubt und nicht von Hand zu lösen. José und Tranquillo machten ihm ängstlich bereitwillig Platz, als er die Heizung prüfte. Sie war massiv und angeschraubt. Keine Chance, sie ohne weiteres heraus zu wuchten. Die drei Fenster waren nicht sehr groß, doch man konnte ohne Probleme herausklettern, denn darüber waren die Regenrinnen angebracht. Sie hatten ihn bei der Hitze echt nach ganz oben geschafft. Die Fenster hier waren nicht vergittert. Davor waren Metallführungen angebracht, wahrscheinlich für Jalousien. Er hatte einen guten Überblick über den großen Hof, ein massives Gebäude stand zu seiner linken, ein weiteres ihm gegenüber, aber das war eine Lagerhalle. Weit gegenüber, vielleicht zweihundert Meter. Dazwischen ein kleines Wachhäuschen und ein großer Parkplatz, der schon fast leer war. Er studierte das linke Haus eine Zeit lang. Die äußeren Regenrinnen waren zu weit von allen Fenstern entfernt, das Schrägdach war mit Ziegeln ausgelegt, man musste also vorsichtig sein, wollte man aufs Dach. An einer Seite des Hauses war ein altes Metallgestell gebaut, mit Wellblech abgedeckt schien es ein Lastenaufzug zu sein. Er fragte sich nur, warum ein solches Haus einen Lastenaufzug haben sollte, denn seinem Aufbau her schien es eher geeignet als Krankenhaus oder Verwaltungsbüro – oder als Zwischenlager für Gefangene. Es war ein langweiliger Bau, dessen einzige Anziehung nur daher rührte, dass er in eben jenem hässlichen Pastellgelb gestrichen war wie dieses Zimmer, das nur von einigen steinernen Fenstersimsen untermauert wurde.
Ray fiel auf, dass sich diese Fenster öffnen ließen. Er sah darin eine leichte Metallverstrebung. Das Glas der Scheibe war außergewöhnlich dick, Panzerglas. Ziemlicher Aufwand, dachte er sich.
„Wie lange seid ihr schon hier?“, fragte er seine Mitgefangenen.
„Drei Wochen, Señor.“
„Wie lange seid ihr noch hier?“, erkundigte er sich weiter. Es mag als seltsame Frage anmuten, aber er hatte ein System entwickelt. Wo komme ich her – wo gehe ich hin? Und was liegt dazwischen? Was muss ich wissen, um mein Ziel zu erreichen? Es war eine einfache Kombination, die es ihm bisher jedoch immer erlaubt hatte, auch unter Zeitdruck eine Lösung zu finden. Und heute stand er unter besonderem Zeitdruck. Seine Freundin wartete vielleicht noch, deshalb hatte er wenig Zeit.
„Das wissen wir nicht, Señor. Sie haben uns hier eingesperrt, und seitdem warten wir.“
„Wo wart ihr davor?“
„Wir kommen aus dem Süden, Señor. Wir sind einfache Bauern, nun, zumindest waren wir das, bis diese Männer zu uns kamen und uns befahlen, Dinge für sie zu tun. Wir weigerten uns, und seitdem haben sie uns in der Welt herumgekarrt.“
„Was für Dinge solltet ihr tun?“
„Wir sollten ihnen den Stall zur Verfügung stellen, doch dann hätten wir die Rinder und die Ernte verloren! Diese Männer bedrohten uns, und wir hatten keine andere Wahl, als ihnen zu gehorchen.“
„Was wollten die Männer in eurem Schuppen lagern?“
„Das kann ich ihnen nicht beantworten, Señor.“ José zuckte mit den Achseln. Gut, eine Sackgasse, dann musste er nachher eben noch einen Zwischenstopp in der Lagerhalle machen. Er hasste es, Wege zweimal zu gehen, und wenn er es nicht jetzt erledigte, würde er vielleicht sogar dreimal kommen müssen, und darauf konnte Ray getrost verzichten, insbesondere jetzt, wo er alt wurde war ihm diese Zeit zu kostbar.
„Was ist das hier? Es sieht mir nicht nach einem Gefängnis aus, nicht nach einem Kerker.“
„Ich kenne diesen Ort noch von früher, Señor.“ Dafür hast du deine Sprache aber gut den Leuten im Süden angepasst, dachte Ray. „Die Preise sind so schon hoch genug, und wenn sie in dieser Stadt einen Keller mieten wollen, müssen sie sich mit den hiesigen Discothekenbesitzern anlegen. Das wäre kontraproduktiv, weil diese Leute ja gerade dort ihre Drogen verkaufen wollen. Deshalb diese ausgemusterten Bürogebäude, denke ich. Aber machen sie sich keine Hoffnung, wir haben schon alles probiert.“ Ray knirschte mit den Zähnen. Natürlich hattet ihr das, der Gedanke umspielte Josés Ausführungen.
„Wie ist der Tagesablauf hier?“
„Der Tag ist lang und langweilig, Señor.“ Eine kurze und überaus präzise Antwort, Ray hätte beinahe das Gesicht in seinen Händen vergraben und sich seine kaum vorhandenen Haare gerauft.
„Wie ist der Tagesablauf hier?“, fragte er erneut. „Wann kommt das Essen, wann der Wärter, wie ist das Haus aufgebaut?“
„…oh.“ José wirkte überrascht.
„Ich will alles wissen, was du über das Gelände weißt, die Leute, die hier arbeiten.“ Das letzte Wort sprach er mit Verachtung aus. Eine Zeit lang geschah nichts, aber Ray sah, wie José fieberhaft überlegte, um alle Informationen zusammen zu bekommen.
„Sind sie sicher, dass sie das alles wissen wollen? Ich meine, es ist gefährlich…“
„Ja ich bin mir sicher, José. Jetzt sag‘ mir, was du weißt.“
„Als wir gekommen sind, war es wieder einer dieser regnerischen Tage…“ Das konnte doch nicht wahr sein!
„Die Kurzfassung, José. Ich hab’s eilig.“ Er wurde ungeduldig.
„Ah gut, ich vergaß… Sind sie sich sicher, dass sie das hören wollen? Sie machen mir einen sehr tatenfreudigen Eindruck.“
„Ich will alles hören.“
„Gut.“ Er machte noch eine bedeutende Pause. „Sind sie sich wirklich sicher…?“ Ray war sprachlos. Er dachte, er hätte dem Mann seine Position klar gemacht. Aber sein jetzt südländisches Gegenüber beharrte auf die wiederholten Nachfragen. Am liebsten würde er ihn ausquetschen, aber das entsprach nicht seinen Prinzipien, von denen er heute ja schon so viele hatte opfern müssen, oder er gezwungen war sie außer Acht zu lassen. Pünklichkeit gehörte zum Beispiel dazu.
„José. Ich will ehrlich sein. Ich habe es eilig. Sag‘ mir einfach, was ich wissen will.“, sagte er gereizt.
„Na gut. Obschon ich mir nicht vorstellen kann, wie man es hier mit all der Zeit eilig haben kann. Wie dem auch sei… das Zimmer ist abgeriegelt mit einer Tür mit einer Klinke, die nur von außen zu öffnen ist und auch nur mit einem zusätzlichen Schlüssel. Er hängt immer dort, wenn die Wärter das Essen – meist Bohnensuppe und etwas Brot, dazu eine Flasche Wasser für jeden.“
„Gut. Wie sieht es im Gang aus? Wie sieht es unten am Eingang aus?“, fragte Ray. So langsam floss das Wasser.
„Am Ende eines jeden Ganges ist eine Gittertür, die Treppe ist gesichert, und unten sitzen Wächter. Am anderen Ende dieses Ganges ist eine Tür, aber wenn ich mich recht entsinne, würde sie nur nach draußen führen, und in dieser Höhe ist draußen nichts als Luft.“
„Wie viele Wächter sind hier?“
„Oh ich hab‘ sie nicht gezählt, aber es sind eine Menge. Alle sind bewaffnet und sie sind immer zu zweit.“ Ungenaue Zahlen. Na gut, war jetzt nicht zu ändern.
„Wie sieht es abends aus?“
„Pünktlich um sechs lassen sie die Jalousien herunter. Danach wird es unten etwas ruhiger. Etwas später gibt es einen Kontrollgang und Essen, und einen zweiten Gang noch etwas später.“ Ray nickte. Das reichte ihm zunächst. Er beobachtete die Wachen aus dem Fenster. Diese Idioten hatten ihm einen Spitzenplatz in ihrem Hotel gegeben, ohne, dass sie es wussten. Er beobachtete sie eine gefühlte Stunde, dann eine zweite. Die Sonne stach ihm in die Augen, was bedeutete, dass sein Zimmer nach Westen liegen musste. Kurz darauf fielen die Jalousien herunter, Metall, nicht unbedingt massiv, aber haltbar. Er öffnete das Fenster. Es ließ sich aus Sicherheitsgründen natürlich nur kippen. Er ruckte ein paar Mal unter den verdutzten Augen der beiden anderen herum, dann nickte er zufrieden. Tranquillo und José sahen sich achselzuckend an. Dann warteten sie gemeinsam und still auf das Abendessen. Ray hatte sich etwas abgegrenzt.
Die Tür ging auf, und er sah einen dreckigen Dicken mit einer Waffe auf dem Rücken und einem zweiten auf dem Flur, der den Essenswagen schob.
„Ah unser Schneewittchen ist auch aufgewacht. Ich hoffe, du kannst unsere Gastfreundschaft genießen!“, sagte der Mann höhnisch. Dabei warf er drei Schalen trockenen Brotes auf den Boden des Raumes.
„Habt ihr kein Gemüse hier? Das Hotel hat ‘nen schlechten Service, das werde ich in der Rezension bemerken.“ Er sah ihn gleichgültig an. Daraufhin mussten die Männer heftig lachen, und gerade, als der Dicke wieder im Begriff war, die Tür zu schließen, rief er Ray noch zu: „Ich hoffe, dir vergehen die Sprüche nicht! Bei all den Stummen hier würdest du eine nette Abwechslung sein!“ Und dann fiel die Tür wieder ins Schloss.
„Bist du verrückt?“, zischte José.
„Warum? Ich mache mir nur ein paar neue Freunde. Du hast doch gehört, dass sie mich mögen.“ Tranquillo sagte etwas, das Ray nicht verstand.
„Er fragt, was du jetzt machen willst.“, übersetzte José.
„Warten.“, antwortete Ray, und lehnte sich entspannt zurück. Das war so ein Ritual. Noch einmal den Plan durchgehen, auf Lücken überprüfen, wenn möglich nochmal was essen, was trinken, danach eine Weile mit dem Zahnstocher spielen. Normalerweise hatte er immer ein kleines Päckchen in seiner Tasche – Vorbereitung war alles, sagte Ray sich immer – aber auch die mussten sie ihm abgenommen haben. Er wackelte gedankenverloren mit dem Kiefer. Die Augen fixierten eine kleine Farbdelle der gegenüberliegenden Wand als wäre sie ein Fernseher, in dem er seinen Plan sehen konnte.
Der zweite Kontrollgang folgte bald darauf, diesmal nahm Ray jedoch keine Notiz von den Männern, die kurz das Zimmer überprüften, in dem sie drei Männer auf den Matratzen sitzen sahen. Doch kaum war die Tür zu, stand Ray schon am Fenster und schaute den Wachen bei ihren Kontrollgängen über das Gelände zu. Er zählte, wie lange sie brauchten, um eine Runde zu laufen, er zählte, wie viele Wachen dort herumliefen, er zeichnete ihre Laufrouten immer wieder mit den Augen nach. Das Wachhäuschen war der zentrale Knotenpunkt, doch ihr Fenster lag im dritten Stock, knapp außerhalb der Sichtlinie der Fenster des Wachhäuschens. Die Jalousien fuhren herunter, und er konnte nichts mehr sehen. Das war der springende Punkt. Er öffnete das Fenster erneut, stieg auf die Fensterbank und riss heftig an dem kleinen Metallscharnier, dass es hielt. Er zog zweimal kräftig daran, dann hatte er die beiden Streben in der Hand. Er steckte sie sorgsam in seine rechte Hosentasche, dann stieg er wieder auf die Fensterbank und riss an dem offenen Fenster herum. Es dauerte nicht lang, dann klappte es nach unten weg. Große Lüftung, sicherlich auch von Nöten. Schlechte Luft behinderte auf lange Sicht beim Denken. Doch er war noch nicht fertig. Er prüfte jetzt die Jalousien intensiv. Sie ließen sich ein wenig bewegen, er fasste mit der Hand darunter. Sie ließen sich mit etwas Gegendruck nach oben stemmen. Dann drückte er mit der flachen Hand fest darauf. Die einzelnen Lamellen hielten dem Druck stand. Er verrückte sie kaum merklich und konnte wieder auf den Hof sehen. Natürlich hatte keiner der Ignoranten auch nur etwas gemerkt, aber José und Tranquillo quetschten sich in eine Ecke neben der Tür. Ray schenkte ihnen einen aussagelosen Blick – vielleicht Mitleid, vielleicht Entschlossenheit; immerhin schuldete man ihm eine gute Erklärung, warum er hier war, warum seine Brieftasche weg war, sein Handy, und was am wichtigsten war, seine Packung Zahnstocher und die Blumen. Wahrscheinlich schuldeten sie ihm sogar noch einen neuen Anzug, denn diesen hier hatte er ob seiner Anstrengungen nicht komplett sauber bekommen.
Es wurde dunkel, und die Wachen brauchten immer länger. Ray folgerte daraus, dass sie entweder müde wurden, oder einfach immer gelangweilter. Schließlich wurde das große Tor verschlossen und die Wache zog sich in ihr kleines Häuschen zurück. Vermutlich würde sie dort gelangweilt fernsehen bis zum Morgen. Die Lampen warfen vereinzelte Lichtkegel im Hof. Es wurde Zeit.
„Wartet nicht auf mich.“, sagte er leise zu den eingeschmuggelten Exilanten.
„Wo wollen sie denn hin, Señor?“, fragte José etwas ängstlich.
„Ich hole ein paar Dinge ab. Ich komme wieder.“ Er hatte das immer schon mal sagen wollen. Zu dumm nur, dass keine seiner Freundinnen ein großer Filmfan gewesen war, von Fantasyverfilmungen und Schmachtfetzen abgesehen.
Er kletterte zurück auf das Sims und hob die Jalousie an. Sie war von entscheidender Rolle, denn sie musste kurzzeitig sein gesamtes Gewicht tragen, und sie durfte dabei nicht knarzen, wie Leichtmetall es gerne tat, wenn man Gewicht darauf verteilte. Und er musste vorsichtig sein. Er hob sie soweit an, dass darunter hindurch passte und die Regenrinne erreichen konnte. Jetzt brauchte er etwas Glück. Entweder sie würde halten – oder er würde etwa zehn Meter in die Tiefe stürzen und mit Glück einen Genickbruch erleiden. Oder er würde noch etwas mehr Glück haben und die Regenrinne würde halten. Vorsichtig tastete er danach, zog sich unter der Jalousie hindurch und ließ selbige mit den Füßen ohne Geraschel nach unten gleiten. In der Ferne pulsierte die Großstadt, das minderte den Schall noch zusätzlich ab, und der Wachmann, der gerade unter ihm hindurch spazierte, war eher damit beschäftigt, sich eine Zigarette zu drehen und darüber zu fluchen, dass ihm der Wind den Tabak aus dem Blättchen pustete, als nach oben zu sehen und einen Mann an der Regenrinne des Hauses hängen zu sehen. Ray fand Halt mit den Füßen und benutzte die gestützte Jalousie, um auf das Dach des Hauses zu klettern. Von dort aus schlich er vorsichtig zur Seite. Wie er vermutet hatte, war sein Zimmer im rechten Flügel des Hauses gelegen, an dessen Seite sich ein weiteres Metallgestell befand. Von dort aus würde er spielend nach unten kommen, da die Wache gerade auf der anderen Seite des Hauses sein müsste. Er entschied sich jedoch dagegen, sofort herunter zu klettern. Er fluchte kurz, als er seine Halbschuhe sah, die in der Dunkelheit leicht dreckig glänzten und dicke Striemen aufwiesen. Er krallte seine Hände zusammen und fluchte nochmals, dann schlich er zu dem Gestell und legte sich auf die Lauer, bis der Wachmann eine weitere Runde gedreht hatte. Die Straße hier war leer. Verloren beleuchteten die hohen und modernen Straßenlampen die gefegten Wege. Diese Kerle waren in jeder Beziehung dreist, dachte sich Ray. Jetzt bog die Wache ins Wachhäuschen ab, und diese Chance nutzte Ray. Schritt für Schritt hangelte er sich an dem Gestell herab, natürlich war der Fahrstuhl ganz unten geparkt. Ganz unten hielt er kurz inne. Er spähte auf den Boden, seine Augen auf den einen Draht fixiert, der dort gespannt war. Eine Falle, vielleicht Alarm, vielleicht Sprengfalle. Glück gehabt. Er landete auf dem Beton, der Gasse zwischen dem Haus und der Mauer, die das Gebiet absicherte. Wahrscheinlich gab es dort noch mehr Fallen. Aber er wollte ohnehin noch nicht gehen. Ray schlich hinter den Gebäuden lang; hier war es dunkler und ruhiger, es gab weniger Lampen. Er duckte sich unter Fenstern hindurch, die beleuchtet waren, er schlich unter Fenstern entlang, aus denen Zigarettenduft kam und in dessen Räumen Männer Karten spielten und sich gelegentlich darüber aufregten, dass sie sich gegenseitig beschummelten.
Und dann hörte er die schlurfenden Schritte einer schlafend wandelnden Wache, sie so unaufmerksam war, dass er ihr auch ein Bein hätte stellen können, doch wahrscheinlich hätten die anderen, die wachen Männer beim Karten spielen, den Bauchklatscher der Wache gehört. Also versteckte Ray sich hinter einer Ecke und lauerte dem Wachmann auf. Er sah die Stiefelkuppe um die Ecke kommen, und im selben Momente hatte der Mann schon eine von Rays Händen auf dem Mund und der Nase und dessen Knie in den Weichteilen vergraben. Vorsichtig legte er den Bewusstlosen an der Mauerkante ab und borgte sich das Maschinengewehr. Er vertraute auf seine Intuition: die Waffe war geladen, das erkannte er am Gewicht, und sie würde ungenau sein, dass erkannte er am spröden Metall und am abgesplitterten Holz, sie war feuerbereit, dass verriet ihm der Sicherungshebel. Diese Jungs hatten keine Ahnung von Sicherheit, aber wenn sich auch nur ein Schuss löste, würde der Alarm losgehen. Ray legte den Sicherungshebel um. Er schlich um das zweite Gebäude und erreichte die Lagerhalle. Inzwischen war eine weitere Wache aus dem Haus in der Mitte gekommen und reckte sich und gähnte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an. Es war der Typ von heute Morgen. Sie hatten lange Schichten, das war gut, dachte Ray.
Er schaltete die zweite Wache aus, die die Tür zur Lagerhalle bewachte, und nahm ihr sämtliche Munition und Schlüssel ab. Es war ein ziemlicher Bund, der laut klimperte.
„Hé, Ninô, bist du etwa schon wieder eingeschlafen?“, schallte es prompt von drinnen, laut und ungestüm und beleidigt. „Wenn ich rausfinde, dass du wieder am Pennen bist, steck ich dich in eine Zelle, darauf kannst du Gift nehmen!“ Die Tür öffnete sich, und der Ausdruck purer Verärgerung des Dicken, der Ray vorhin das Essen gebracht hatte, wich purer Überraschung.
„Ich sagte dir, dass der Service mies ist.“ Und er verpasste ihm einen Kolbenschlag ins Gesicht, der den Dicken außer Gefecht setzte. Dann setzte er seinen Weg fort. Wahrscheinlich würden gleich die ersten Alarmglocken läuten. Doch wie durch ein Wunder blieb es still. Die Lagerhalle war hell beleuchtet, und sie war voller Leute. Es war ein Wunder, dass niemand den Krach gehört haben wollte, vielleicht wollte sich aber auch nur niemand mit dem Dicken anlegen, er war hässlich, und meistens waren hohe Tiere hässlich, wenn sie eine Guerillaarmee befehligten oder den Drogentransport überwachten. Er konnte unerkannt bis in die Büroräume vordringen, aber was er bis dort schon gesehen hatte, hätte auch ausgereicht.
Die Bande handelte LKW-weise mit Drogen, die sie auf Paletten auf- und abluden. Das Geschäft brummte. Fragte sich nur, was die Gefangenen damit zu tun hatten. Einen ersten Anhaltspunkt hatte ihm José ja schon gegeben. …und das alles nur, weil er eine Abkürzung zu seinem Date hatte nehmen wollen. Dieses Glück konnte auch nur Ray haben, wie ein Tollpatsch auf Reisen. Er wollte die Schubladen des Schreibtisches öffnen, ein hölzernes Ding, das eigentlich gar nicht hier rein passte, aber das Papier, das er darauf fand, war eigentlich schon die Freikarte der Polizei, um den Ring hier zu sprengen. Also nichts wie raus. Vorher wollte er jedoch noch seine Sachen wiederholen.
Er patschte dem hässlichen Dicken auf die Wange. „Aufwachen, Prinzessin.“ Der Dicke erschrak, als er die Augen aufschlug. Ray bedeutete ihm mit einer Geste, Ruhe zu wahren. Der Dicke nickte. Er hatte Pocken auf den Wangen und Schweiß auf der Stirn, als er in die Gewehrmündung blickte.
„Wo sind meine Blumen?“, fragte Ray grimmig. Der Dicke schaute ihn ängstlich und unverständig an.
„Wo habt ihr meinen Blumenstrauß hingebracht?“ Diesmal formulierte Ray es mit mehr Nachdruck und bohrte mit der Gewehrmündung fast in der Nase des Dicken.
„W-Was?“ Dem Dicken stand die Angst im Gesicht.
„Nicht was, sondern wo – sind – meine Sachen?“ Der Dicke schüttelte panisch den Kopf. Ray schob ihn mit der Waffe an. „Wo bewahrt ihr sie auf?“
„I-im Erdgeschoss d-d-des G-gebäudes, in dem sie untergebracht waren.“, stotterte der Dicke.
„Bist du dir sicher, dass das, was du mir sagst, die Wahrheit ist?“ Der Mann am Boden nickte mit weit aufgerissenen Augen.
„Bist du dir wirklich sicher, dass das, was du mir erzählst, der Wahrheit entspricht?“, fragte Ray nach. Der Dicke nickte nochmals.
„Gut. Wenn es nicht stimmt, komme ich wieder. Bist du dir wirklich sicher?“
„Verdammt, willst du mich verarschen?“, flüsterte der Dicke entsetzt.
„Nein. Ich glaube dir, vorerst. Vielleicht komme ich zurück.“ Dann drehte Ray abrupt das Gewehr und versetzte dem Dicken einen zweiten Kolbenschlag, der ihn zurück ins Reich der Träume schickte. Er rümpfte die Nase – der Dicke hatte sich in die Hose gemacht.
So langsam müssten sie eigentlich was merken, dachte sich Ray. Bevor er endgültig von hier verschwinden konnte, musste er noch seine Sachen holen – allem voran die Blumen. Inzwischen hatte er zwei weitere Wachen ins Reich der Träume geschickt und überlegte, wie er am besten zurück in das Gebäude kommen sollte. Da fiel ihm das offene Fenster der Pokerrunde wieder ein. Und es stand noch immer offen. Er hörte Stimmen, aber nicht viele. Sie sagten ihm, dass sie getrunken hatten, mehr als das allabendliche Bier. Er hörte ein allgemeines Stühlerücken, dann das Krachen der Tür – und keine Stimmen mehr. Er wollte gerade über die Böschung lunzen, als doch noch ein Wortwechsel sein Ohr streifte.
„Hey man, wo willst du denn noch hin?“
„Meine Gewinnchancen erhöhen. Das ist das dritte Spiel heute Nacht, das ich verloren hab.“
„Oh super, dann habe ich ja gar keine Chance mehr gegen euch.“ Der Dritte lachte. Südländischer Akzent.
Mit anderen Worten, er geht jetzt auf’s Klo und fängt an zu heulen, dachte Ray. Super. Eine andere Tür fiel ins Schloss, und Ray wagte den Blick ins Zimmer. Der Dritte saß mit dem Rücken zu ihm, und er konnte keine Waffen ausfindig machen. Keine großkalibrigen zumindest. Leise machte er sich daran, sich hochzuziehen. Das Licht aus dem Zimmer half ihm, sich zu verbergen. Gerade als er den zweiten Fuß aufs Fensterbrett zog, merkte er, wie er langsam den Halt verlor. Du wirst alt, dachte Ray noch, instinktiv versteifte er sich und hielt den Atem an, dann ein winziges Rascheln und – der Dritte bekam einen Hustenanfall. Ray verharrte. Noch immer keuchendes Husten, jetzt galt es, die Chance zu nutzen. Er schulterte das Gewehr und nahm den Mann von hinten in den Schwitzkasten. Leise, ganz ruhig, bis er still wurde. Dann legte er den Bewusstlosen auf dem Tisch ab, in schlafender Haltung. Nein, er tötete nicht, nicht, wenn es nicht sein musste. Das machten nur Anfänger, und Ray war ein Profi. Er entwaffnete den Schlafenden. Die versteckte Pistole war dreckig und ein wenig ölig. Nicht unbedingt anfällig für Ladehemmungen, aber ungenau, dennoch war sie klein und handlich und damit viel besser geeignet für ihn als das Gewehr.
Er sah sich kurz um – vier Stühle, ein Tisch, eine alte Couch und ein Fernseher, der entgegen gängiger Klischees nicht am Laufen war. Auf dem Tisch eine Pokerrunde, die Mitspieler, mindestens drei an der Zahl, gerade alle mit etwas anderem beschäftigt.
Sein nächster Gang führte an die angrenzende Toilette des Wachraumes.
„Hey Jorges.“, schallte es aus der letzten Kabine. „Da draußen liegt Mendez. Der pennt! Ich hab ihm schon mal gesagt, dass er das lassen sollte, aber das hier geht echt zu weit. Ich sag’s dir, morgen werd‘ ich ihn beim Dicken verpfeifen!“ Ray ging langsamen Schrittes auf die letzte Kabine zu. „Ich habe keine Lust, seine Arbeit mitzumachen…“
„Lass ihn nur.“, sagte Ray ruhig. „Dem Dicken ist die Nachtschicht auch zu lang.“
„Was?“ Ray trat die Tür ein. „Scheiße…“ Vor ihm saß ein Südländer mit heruntergelassenen Hosen, der ihn überrascht ansah. Ray hielt ihm die Pistole vor. Er hasste unhandliche Waffen.
„Lass die Knarre stecken. Wo finde ich die Warenausgabe für Rehabilitierte?“, sagte er stoisch.
„Was?“
„Das hat heute Nacht schon jemand versucht, und nachdem, was ich gehört habe, ist das heute nicht deine Nacht. Wenn du nicht redest, wird sie garantiert nicht besser. Wo werden meine Sachen aufbewahrt?“, erklärte Ray sachlich und knapp.
„Was?“ Ray knurrte.
„Meine Sachen! Wo finde ich sie?“ Er verpasste dem Ganoven einen Hieb mit der Waffe.
„Also, redest du?“, fragte er, während er auf den Mann eindrosch.
„Was?“
„Rede!!“, brüllte er laut. Immer wieder prügelte er auf den Südländer ein.
„Ich rede ja, ich rede ja!“, wimmerte dieser endlich. Sein Gesicht wies nun einige Platzwunden auf. „Du findest das Zeug im Seitenraum unten am Empfang, man, aber bitte, schlag‘ mich nicht mehr.“ Er bekräftige seine Worte mit verzweifeltem Nicken und einer flehenden Geste.
„Ist da auch ein Blumenstrauß dabei?“
„Was?“
„Vergiss es einfach.“ Er schlug noch einmal mit der Waffe auf den Kopf des Mannes und ließ ihn bewusstlos auf der Toilette sitzen. Hoffentlich hatte niemand die Keilerei gehört. Vielleicht hätte er doch noch den Fernseher anmachen sollen.
Doch wie durch ein Wunder wollte niemand etwas gehört haben. Er schielte durch den Türspalt auf den Flur. Niemand da. Ein entferntes Gespräch verriet ihm, dass noch mindestens zwei Personen hier waren. Wahrscheinlich hatte er den Rest schon ausgeschaltet. Zwei Personen draußen, der Dicke, zwei Personen auf dem Weg zurück und nochmal zwei drinnen. Gute Quote. Egal, ich will ja nicht ewig hier bleiben, sagte er sich und schlenderte galant auf den Gang, ein Gewehr über der Schulter, eine Pistole in der Hand und einen geschundenen, aber gut sitzenden Anzug am Körper.
„Ich möchte auschecken.“ Mit diesen Worten begrüßte er die überraschte Wache am Empfang, während der Erste – einer der Pokerspieler - bewusstlos in sich zusammenfiel, nachdem er einen harten Schlag mit der Pistole auf den Hinterkopf bekommen hatte. „Der Service gefällt mir nicht, die Zimmer sind spartanisch und überfüllt und man versucht, die Gäste auszurauben. Meine persönliche Habe, bitte.“ Ja, Ray war sauer. Man hatte ihn niedergeschlagen, eingesperrt, ausgeraubt und verarscht. „Oh und bitte rufen sie nicht den Sicherheitsdienst, der ist gerade so schön am Träumen. Hände dahin, wo ich sie sehen kann, aufstehen, schön langsam.“ Die Wache gehorchte. „Umdrehen.“ Ray ging um den Tresen herum, dabei war er nicht zu hören. Ein Radio plärrte leise im Hintergrund. Dann ereilte ihn dasselbe Schicksal wie so viele andere in dieser Nacht. Süße Träume, sang Ray in Gedanken, während er die beiden durchsuchte und eine Magnetkarte fand, mit der er den Raum im Hintergrund öffnete. Dort wurden tatsächlich alle Sachen aufbewahrt.
Er fand mehrere Portemonnaies, unter anderem seins, aber ohne Bargeld, seine Pistole ohne Munition und sein Autoschlüssel. Es machte keinen Sinn, die anderen Brieftaschen zu überprüfen. Er machte sich eine geistige Notiz, seiner Freundin für den Schlüsselanhänger zu danken, denn in dem Gewühl an Schlüsselbünden hätte er sonst ewig suchen können. Aber! Und das ließ ihn fast verrückt werden – der Blumenstrauß lag geknickt und zerrupft im Papierkorb, zudem fehlte seine Armbanduhr. Er verwette sein Geld darauf, dass entweder der Dicke oder die Wache von heute Morgen sie noch hatte und sie dreist sogar noch trug. Aber er hatte jetzt keine Lust mehr, noch einmal über das gesamte Gelände zu laufen. Er verfluchte sich selbst dafür, es nicht gleich überprüft zu haben. Du wirst eben alt, dachte Ray und fletschte dabei die Zähne.
Nachdem er nochmal alles überprüft hatte, trat er zurück in die Lobby. Niemand hier, außer zwei schlafenden Wachen. Ray wusste, wie hart er zuschlug, und er wusste, dass hier alle noch mindestens anderthalb Stunden Nachtruhe halten würden. Er erkannte es an seinem harten Schlag und der Physis der Wachen. Zufrieden sah er in die Gänge und sah die Gittertüren, mit denen hier alles gesichert war. In diesem Punkt hatte er Glück gehabt. Er bückte sich und überprüfte die Gesäßtaschen der Wachen. Wie erwartet, fand er dort Brieftaschen mit Bargeld vor. Er war kein Dieb, vielmehr schuldete man ihm noch Geld für den Anzug, die Schuhe und natürlich die Blumen. Außerdem brauchte er eine neue Uhr. Den Rest würden sie mit seiner Rechnungsausstellung bekommen.
Sie hatten ihn niedergeschlagen, eingesperrt und ausgeraubt, dafür hatte er sie entblößt, außer Gefecht gesetzt und bald auch matt gesetzt.
Er strich den Anzug glatt und verließ das Gebäude zur Vordertür. Die restlichen Gefangenen würden bis zum Sonnenaufgang von der Polizei befreit werden. Das war sein Plan. Er ging zielstrebig auf das Wachhaus zu und schlug dort eine überraschte Wache nieder. Dann kletterte er über das Wachhäuschen nach draußen auf die Straße. Niemand hatte etwas bemerkt, denn es war nächtlich still, und jeder schlief jetzt in diesem Stadtviertel. Ein Hund bellte in der Ferne. Nun, vielleicht nicht jeder, dachte Ray.
„Ich kann gar nicht glauben, dass ich hier mit dir sitze.“, nörgelte Rays Freundin. Sie hatte die Tageszeitung aufgeschlagen und las einen interessanten Artikel: Polizei sprengt Drogenumschlagplatz nach anonymen Tipp: Hunderte Vermisste befreit. Sie hatte natürlich keinerlei Ahnung, dass Ray etwas damit zu tun hatte. Andere Gäste sahen sie an, wie sie fluchte und redete, während ihr Essen kalt wurde. Ray hatte sie in ein Nobelrestaurant eingeladen. Er saß ihr gegenüber, etwas verschmitzt und hilflos in einem neuen Anzug. Zwischen ihnen stand ein überdimensionierter, strahlender Blumenstrauß in einer gläsernen Vase. „Du kommst viel zu spät, tischst mir eine abenteuerliche Begründung auf, wie kann man sich denn in dieser Stadt verlaufen? Du siehst übermüdet und abgekämpft aus, dein Anzug sitzt nicht, und die Schuhe sind völlig ramponiert! Und das in diesem Restaurant!“ Sie starrte wutentbrannt auf den Strauß und atmete tief durch, schloss die Augen und sah ihn an. „Aber ich danke dir für die Blumen, Schatz.“ Bei allem, was Ray konnte, waren Frauen für ihn doch unverständlich, und das lag nicht daran, dass er alt wurde. Er grinste, während er auf seinem Zahnstocher kaute.