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Der Exerzierplatz
Ich gehe gerne hier spazieren, ein kleines Naturschutzgebiet mitten in der Stadt. Ein 1890 angelegtes deutsches Armeegelände, dann nach dem Krieg besetzt von Amerikanern, schließlich vor einigen Jahren von der Stadt zurückgekauft. Es hat etwas Urzeitliches, eine sandige, niedrig bewachsene Landschaft. Im Sommer ist sie trocken und staubig, den Rest des Jahres von kleinen, stinkenden Tümpeln durchzogen. Darin seltene Kröten, Lurche und anderes Getier, deren glasige Körper sich in der warmen Suppe winden. Mir wird schlecht, vielleicht ist es die warme, feuchte Luft heute. Sie schmeckt ein bisschen nach Blut. Oder wie eine Batterie vielleicht.
Nacktschnecken. Hunderte von Nacktschnecken die über meinen Weg kriechen. Einige wurden bereits unter den Schuhen von Spaziergängern zertreten oder von Fahrradreifen zerquetscht. Die anderen kriechen unbeirrt weiter oder machen sich über die verschmierten Körper ihrer Artgenossen her.
Ich gehe normalerweise gerne hier spazieren. Heute sind viele Leute unterwegs. Ein paar Meter vor mir unterhält sich ein junges Paar auf Englisch. Sie grüßen eine ältere Dame, die uns entgegenkommt. Es kommt mir komisch vor, fast feindselig. Ist es ihnen auch so unangenehm wie mir? Ich fühle mich fremd und seltsam nackt, spüre Blicke, doch jedes mal wenn ich mich umdrehe, ist da niemand der mich ansieht. Ständig ist da ein Kribbeln von Augen auf meinem Rücken, das Gefühl von mir zugewandten, blassen Gesichtern im schwarz-weißen Bereich meines Sichtfeldes. Augen, die mich verurteilen, mich als Beobachter lächerlich machen. Ich gehe schneller, nach Hause.
Nacktschnecken haben kaum Fressfeinde, die meisten Tiere verschmähen sie. Einige der wenigen, die den bitteren, klebrigen Geschmack ihrer Körper ertragen können, sind ihre Artgenossen.
Zwei Straßen von meinem Haus entfernt stellt eine junge Frau ein paar Blumentöpfe und verkratzte Rollschuhe an den Gehweg. Freundliche, breite Hände, ihr Rücken etwas von der Sonne verbrannt. Auf einem der Töpfe balanciert sie ein handgeschriebenes Schild, alter fleckiger Karton, die Schrift bereits verlaufen, als hätte sie es durch die ekelhaften Tümpel voller Laich und Lurche gezogen. Kostenlos, steht da in unordentlicher Schrift. Sie hört meine Schritte. Ihr Gesicht erscheint mir ungewohnt nah, die Augen und Zähne gläsern und riesengroß, als wäre sie ein paar Schritte auf mich zugegangen, anstatt sich nur umzudrehen. Obwohl sie einen guten Meter von mir entfernt ist, erscheint mir ihr Gesicht so nah, als wäre es mein eigenes, als hätte jemand eine Maske durch den Nebel der stickigen, warmen Luft nach mir geworfen. Etwas zieht sich in mir zusammen.
„Greifen Sie nur zu, Sie können alles mitnehmen!“
Ich will nichts.
Nacktschnecken sind nicht giftig, aber im Gegensatz zu Weinbergschnecken, deren Innereien sich in ihrem Haus befinden, sind sie bei Nacktschnecken im Fuß, was es schwierig macht sie zu entfernen.
„Danke, ich brauche nichts.“
Ich weiß nicht warum, aber sie lacht und ihre offene Freundlichkeit ist so überraschend, dass sich der Takt meiner Schritte verändert, dass sich auf meinem eigenen Gesicht ein Lächeln abzeichnet, dass das was sich in mir beim Anblick ihres Gesichtes zusammenzog, gegen meinen Willen löst, dass sich etwas in mir umkehrt.
Meine zuvorige Übelkeit ist auf einmal ein nicht zu ignorierender Ekel vor dieser Fremden, vor mir selbst. Eine Widerwärtigkeit, die ich noch niemals zuvor gespürt habe, als hätte sie mit ihren schönen Händen tief in meinen hässlichen Leib gegriffen und dort einen bitteren, klebrigen Schleim hinterlassen.
Nacktschnecken sind trotz allem essbar. Wenn du sie am Bauch entlang aufschneidest und die Innereien und den Dreck entfernst, sie danach gut kochst um die Parasiten abzutöten, sind sie genießbar. Wenn es also mal um Leben oder Tod gehen sollte, kann es somit von Vorteil sein, sich nicht vor ihnen zu ekeln.