- Beitritt
- 24.04.2003
- Beiträge
- 1.444
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Der Ewigkeit so nahe
Ich betätige die Spülung und schlendere zum Waschbecken. Während das Wasser kraftlos über meine Hände plätschert, betrachte ich mich im Spiegel.
Du solltest dich dringend mal wieder etwas pflegen ,rät mir das blasse, in grelles Neonlicht getauchte Antlitz, das ich am liebsten als das einer fremden Person identifizieren würde.
Dunkle Ringe unter den Augen zeugen von den Spuren eines aus den Fugen geratenen Lebens. Die Lippen sind schmaler geworden. Das bilde ich mir nicht bloß ein. Mein Körper ist ein Beispiel menschlicher Degeneration. Überall bedrohlich wirkende Flecken, quer über die knochigen Wangen verteilt.
Ich fühle mich elendig. Ich weiss, dass sie draußen wartet. In den Händen die prall gefüllten Einkaufstaschen. Der Luxus. Gekauftes Glück, sicher verstaut in einigen Tüten. Vielleicht haben wir beide uns niemals geliebt. Es war von Anfang an eine stille Übereinkunft. Sie bekam das Geld, das sie nie hatte und ich die Beziehung, die ich nie brauchte. Möglicherweise ein ziemlich nachteiliges Geschäft für mich, aber wer bin ich schon? Ein krankes Gerippe. Ein genialer Geist, der sich die falsche Hülle zum Leben ausgesucht hat.
Ein stechender Schmerz reisst mich aus meiner Kakophonie und ich ziehe die Hände aus dem kalten Wasserstrahl. Dann verteile ich ein paar Tropfen auf der Stirn und bilde mir ein, Erfrischung zu empfinden. Anschließend drehe ich den Hahn zu und krame ein Euro Stück aus meiner Hosentasche. Von Portemonnaies habe ich nie viel gehalten. Früher oder später sammeln sich Erinnerungen in ihnen an. Photos. Konzertkarten. Kleine Bestandteile einer erfüllten Existenz. Solche Sachen habe ich nie besessen.
Zu meiner Überraschung sitzt die Klofrau nicht mehr an ihrem Platz. Die Zigarette brennt noch im Aschenbecher. Ob sie selbst mal musste? Legt sie sich dann zehn Cent auf den Porzellanteller wenn sie zurückkommt und bildet sich ein, ihr eigener Kunde zu sein? Wahrscheinlich nicht. Wer macht sich schon solche Gedanken, außer mir?
Das Geldstück dreht sich noch für einen Sekundenbruchteil auf der glatten Oberfläche und gibt dabei diesen hellen Laut von sich, den die Leute fälschlicherweise mit Zufriedenheit gleichstellen.
Ich atme ein letztes Mal tief ein, ehe ich die Kundentoilette verlasse. Hier drinnen ist alles echt. Keine falschen Düfte, die dem Gehirn einen Wunsch von unendlichem Konsum vorgaukeln. Keine Parfümnoten, die klanglos den Äther mit ungehörter Musik schwängern. Nur Fäkalien. Die wahre Natur aller Leblosen, die auf Kosten anderer ihren teuren Bedürfnissen nachgehen. Ganz genau wie sie .
Auf der Etage ist es ruhig geworden. Sehr ruhig.
Für einen Augenblick bin ich irritiert und schaue auf meine Swatch. Gerade erst halb Acht. Meine Frau steht auch nicht hier, aber das ist eher weniger verwunderlich. Vermutlich vergnügt sie sich gerade irgendwo mit ihrer Kreditkarte. Das tut sie ja schließlich ständig.
Was mich viel mehr aus der Fassung bringt, ist die plötzlich eingekehrte Stille. Keine Kunden mehr, keine Verkäufer. Nur die Schaufensterpuppen starren wie gehabt mit leerem Blick in die Ewigkeit.
"Hallo?", frage ich schüchtern und komme mir sofort dämlich vor. Dieser Teil der Verkaufsfläche ist halt momentan leer. Kein Grund zur Beunruhigung. Sowas ist reiner Zufall. Mehrere Faktoren, die gleichzeitig zusammenspielen und dem Betrachter mit einer seines Erachtens seltsamen Situation konfrontieren. Mein krankes Herz schlägt dennoch bedrohlich schnell. Eine Stimme in meinem Inneren sagt mir, dass es nicht nur dieser Teil ist, der sich entvölkert gibt. Es braucht einige Sekunden, bis ich begriffen habe, warum dem so ist. Die Musik! Auch sie ist verstummt. Das Easy Listening Geplänkel spült seine seichten Wellen nicht länger in meine Ohrmuscheln. In Einkaufszentren läuft immer Musik. Sie ist manipulatives Hauptorgan der Kundschaft.
Wenn man der Panik keinen Zugriff gewährt und das rationelle Denken an vorderste Front stellt, so ist Logik die einzige Möglichkeit klarer Analyse.
Ich werte den Strom meiner Synapsen aus, nicht ohne zuvor noch einmal "Hallo" gerufen zu haben und komme zu einem Ergebnis: Niemand ist mehr hier, also doch kein Zufall und keine Faktoren.
Ich bin alleine. An für sich nichts besonderes, schließlich bin ich ständig alleine, aber diesesmal richtig. Keine lachenden Kinder, keine Schritte, keine Gespräche, keine Lautsprecherdurchsagen.
Ob das Gebäude evakuiert wurde? Ausgeschlossen. Ich war nicht länger als zwei Minuten auf der Toilette. Irgendetwas hätte ich davon mitbekommen. Nein, so schnell geht die Räumung eines Gebäudes von diesen Ausmaßen nicht vonstatten.
Die Notwendigkeit meine Panik zu unterdrücken, besteht nicht weiter. Sie verschwindet auch so unaufgefordert.
So etwas habe ich mir immer gewünscht.
Unter Menschen ist man ständig, aber wann ist man einfach bloß unter sich? Ich meine so ganz und gar?
Vorsichtshalber, nur um wirklich vollkommen sicher zu gehen, werfe ich einen Blick durch die breite Glasfront zu meiner Rechten, raus auf die Straße. Ausgestorben. Die alten Pflastersteine, die sich durch die Innenstadt ziehen, schimmern verloren im Regen.
Einige Minuten lang stehe ich einfach nur da und halte die Augen verschlossen. Meine Atmung ist ruhig und regelmäßig wie seit Jahren nicht mehr. Es ist fast so, als wenn ich auf einmal den inneren Frieden gefunden hätte, nach dem ich all die Jahre gesucht habe. Dann öffne ich die Augen plötzlich wieder und brülle so laut ich kann. Nichts bestimmtes. Unzusammenhängende Wortfetzen, die sich mit gulateralen Lauten abwechseln. Zuerst ist mir das wahnsinnig peinlich, aber je länger ich mein scheinbar mythisches Ritual fortführe, umso mehr weicht jegliche Scham von mir, bis ich kurze Zeit später der ganzen Welt gegenüber gleichgültig geworden bin. Ich springe erst auf einem Bein, dann auf dem anderen und mein Körper macht den ganzen HokusPokus mit, als wäre ich der gesündeste Mensch auf dem Planeten. Stop! Ich bin der EINZIGE Mensch auf dem Planeten. Ich könnte noch so krank sein und wäre dennoch der gesündeste. Ich lache bei diesem Gedanken und lasse ein schrilles "Biene Maya fickt den Laborassistenten" durch das Stockwerk hallen. Keine Ahnung, warum mir gerade dieser Satz über die Lippen dringt. Vielleicht, weil mich diese Sendung als Kind immer fasziniert hat, möglicherweise auch deshalb, weil es bloßer Nonsens ist, diesen Satz herauszulassen. Am Wahrscheinlichsten ist es aber, dass die Sprache einfach keine Bedeutung mehr hat. Mit wem sollte ich mich noch unterhalten? Mit den Schaufensterpuppen vielleicht? Unter Umständen keine schlechte Idee.
Mit dem Elan eines Teenagers sprinte ich an den körperlich perfekt geformten Plastikkumpanen vorbei. Einem reiße ich dabei die rote Kappe vom Kopf und rufe ihm "Fang mich doch" hinterher. Dann mache kehrt und laufe zurück, hänge einem Dessous-Model die Kappe über den Busen. Sie fällt prompt herunter. Früher galt ein gewaltiger Busen als Sinnbild von Weiblichkeit. Heute ist dem offensichtlich leider nicht mehr so.
"Schlechten Tag gehabt, Süße?", frage ich in ihr regloses Gesicht hinein. "Wegen der geringen Oberweite?", spaße ich weiter.
Nichts. Trotzdem fühle ich mich grandios.
Dann beginnen ihre Augen mit einem mal zu glühen und mir wird von einer auf die andere Sekunde bewusst, dass ich nicht mehr der jüngste bin. Mein Darm entleert sich in die Hose.
Sie bewegt jetzt ihren Kopf und erwidert meinen Blick. Dann zieht sie eine fratzenhafte Grimasse und setzt mit dem grauenvollsten Grinsen, das ich jemals gesehen habe, zur Antwort an: "Warte nur ab, wenn du erst..."
Der Strudel, der mich in sich gefangenhält, ist lediglich von kurzer Dauer. Sterne und Farben, die um mich herum explodieren. War der Strudel der Eingang, oder gar der Ausgang? Alles ist so hell gewesen, ich bin geblendet.
Da stehen Leute...über mich gebeugt. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, ist ich habe gar keine Frau, nie gehabt
Langsam finde ich zu mir. Das Fleisch ist noch immer welk, es liegt schlaff auf dem Labortisch. Mein Name ist Richard. Richard irgendwas. Professor...Professor, aber wo? Bin ich wieder zurück in der Uni? Wo war ich gerade?
Die Leute tuscheln miteinander. Es dauert einen Moment, bis der erste mich anspricht. Seine Worte dringen wie durch ein Kissen zu mir hindurch.
"Waren Sie dort?"
Wo war ich? Verdammt wo? Es war zu hell, um etwas zu erkennen. Ich bin immer noch geblendet. Kann der Kerl nicht deutlicher fragen?
Nur noch die Erinnerung an das Licht. Den Rest habe ich vergessen. Gab es einen Rest? Ich weiss noch, dass ich mich gut fühlte, außer...
"Waren Sie dort?", wiederholt er mit zittriger Stimme.
Im Licht? Ja, da war ich. Es ging mir gut (?). Ich wäre gern länger geblieben (?!).
"Ja", krächze ich.
"Sie waren dort, in der Nach-Tod-Erfahrung, Professor?"
Für einen Augenblick empfinde ich etwas anderes. Eine innere Stimme sagt mir, dass ich eine falsche Vorstellung vom Himmel habe. Dann verstummt auch diese Stimme. Ich erinnere mich nur noch an das Licht. Es war der Eingang, es muss der Eingang gewesen sein.
"Ja, genau da."
"Dann sind Sie der erste Mensch, den wir operativ sozusagen ins Paradies geschickt haben. Sie waren länger dort, als jeder andere. Länger als jedes Unfallopfer, oder auch alle Übrigen."
Am Abend geht es mir schon besser. Sofern man in meinem Alter vom ´gut gehen´ sprechen kann. Ich habe sogar drei Gläser Sekt mit den Studenten getrunken. Nur Charlie, der Laborroboter, jagt mir plötzlich eine schreckliche Angst ein. Wir sollten ihn bei den nächsten Himmelsbesuchen des Projektes VacationINParadies nicht mehr verwenden.
Er erinnert mich immer an eine dieser grässlichen Schaufensterpuppen.