Der ewige Führer
Bekanntlich haben die meisten Außerirdischen nichts besseres zu tun, als unsere Fernsehsendungen zu verfolgen. Man vergegenwärtige sich ein glitschig-oranges Geziefer, das sich auf einem Sofa-Analogon fläzt, mit sich lustig windendem Rüssel Bier-Analogon konsumiert und dabei terranisches Reality-TV verfolgt. Wahrscheinlich müssten wir uns wegen einiger Infraschall-Attacken (Gröhl-Analogon) solange übergeben, bis unser Zuschauer endlich aufs Klo geht, weil Werbung kommt ...
Wir blenden an dieser Stelle die Geruchswahrnehmung vorsichtshalber aus und warten, bis das Wesen zurückkehrt. Es drückt eine Taste auf seinem Fernbedienungs-Analagon und sieht ...
Einblendung: Freitag, 13. August 1954
»Die landesweite Depression nimmt zu. Die Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz steckt noch in allen Köpfen. Ausgerechnet gegen Österreich ausgeschieden. Mit 1:5. Vor acht Jahren wäre das nicht passiert. Die Alliierten kümmern sich seit unserer Niederlage nicht um uns. Müssen ja unbedingt immer noch in Asien Weltkrieg spielen. Wir brauchen wieder einen guten Mannschaftskapitän, der den Leuten kräftig in den Hintern tritt, damit sie aufstehen und sich ihre Hände wieder dreckig machen. Wir brauchen wieder einen Führer.«
Der Vorsitzende – immer vornüber gebeugt, Wahnsinn in Stimme, Augen und Frisur, wirft einen schmerzenden Blick in die Runde. Die Sitzungsteilnehmer beeilen sich, energisch zu applaudieren und gelegentlich »Bravo« und »Jawoll« einzustreuen. Der Vorsitzende nickt zufrieden, dann stellt er der Kommission Herrn Professor D. I. Hilsenbrecht vor, der einen längeren, aber unverständlichen Vortrag hält, in dem mehrfach der Name Einstein fällt.
»Herr ... Hilsenbrecht«, unterbricht der Vorsitzende, »ich würde Sie im Interesse des Projekts bitten, sich verständlicher auszudrücken. Wir alle hier haben ja schließlich nicht Physik, sondern Machtmissbrauchslehre studiert.«
Der ordentlich gescheitelte, kunterbunt krawattierte Hilsenbrecht räuspert sich und erklärt auf dem sprachlichen Niveau einer Boulevard-Zeitung mit vielen Gesten: Mittels einer Zeitreise soll der Führer vom Zeitpunkt unmittelbar vor seinem Tod in die Gegenwart befördert werden. Hilsenbrecht versichert, dass dadurch eine neue, sogenannte »Isolierte Zeitlinie« entsteht. Die Vergangenheit bleibe also unverändert, und eine neue, starke Regierung könne gebildet werden.
»Regierung?«, kiekst der traktorbreite Stellvertretende Vorsitzende und nimmt eine Pille. »Ich dachte, es geht hier um Fußball.« Er sinkt in sich zusammen, als ein paar Sitzungsteilnehmer kichern und mit Fingern auf ihn zeigen.
»Nun ...« Hilsenbrecht zögert. Dann fängt er den Blick des sabbernden Vorsitzenden auf wie eine heiße Kartoffel und beeilt sich zu versichern: »Das Projekt wird selbstverständlich auch den Chancen bei der nächsten Fußball-Weltmeisterschaft zugute kommen.«
Der Vorsitzende setzt die Durchführung auf nächsten Freitag nach dem Mittagessen fest und streicht sich zufrieden durch den halb lockigen, halb strähnigen Grauschopf.
Einblendung: Freitag, 20. August 1954
Ein fisseliges Glitzern spaltet den Teppich, eine grunzende Wolke steigt aus der Öffnung.
»Ich wusste gar nicht, dass die Vergangenheit unten ist«, murmelt jemand.
Der Führer erscheint leichenbleich mit einer auf sich selbst gerichteten Waffe in der Hand. Peng. Vor Schreck erschießt er den Stellvertretenden Vorsitzenden, bevor ihm die Pistole aus den zitternden Händen entfernt werden kann.
Der Führer erweckt den Eindruck, als wäre er nicht aus der Vergangenheit geholt, sondern auf einem Friedhof ausgebuddelt worden.
Er verlangt Nudeln mit Tomatensoße, die eilig bestellt werden. Unterdessen erkundigt er sich nach dem Verbleib seiner Ehefrau.
Professor Hilsenbrecht erklärt, dass er die Zeitmaschine rekonfigurieren müsse, um Frau Braun ebenfalls aus der Vergangenheit zu holen, weil der Führer sie in dem Moment, aus dem wir ihn geholt haben, leider bereits erschossen habe.
»Fangän Sie an«, donnert der Führer. Danach wartet er tattrig am Fenster, während der Professor die nötigen Arbeiten vornimmt.
Plötzlich fängt der Führer an, laut zu fluchen.
»Offenbar hat ihn eine Wespe gestochen«, sagt der Protokollführer und macht fein säuberlich eine Notiz.
»Wir sollten einen Arzt benachrichtigen«, erklärt der langhaarige Fahnenjunker Trulsek und bohrt in der Nase.
»Darf ich darauf hinweisen, dass diese Maßnahme eventuell unerwünschte Aufmerksamkeit ...«
»Zu spät.« Professor Hilsenbrecht zeigt auf den Führer, der in diesem Moment hintenüber kippt, kotzgrün anläuft und beginnt, unkontrolliert zu zucken. Jemand murmelt »anaphylaktischer Schock«, und kurz darauf bewegt sich der Körper nicht mehr.
»Kein Problem«, sagt Professor Hilsenbrecht. »Wir holen einfach einen neuen, von fünf Minuten früher.«
Eine Diskussion setzt ein. Fahnenjunker Trulsek schlägt gar vor, den Führer aus dem Jahr 1939 zu holen, um in einer anderen Zeitlinie den Ausbruch des Krieges zu vermeiden. Der Professor erläutert, warum das nicht funktionieren könne. Niemand versteht ihn,aber alle nicken, damit er endlich den Mund hält.
Es klopft, und der Sicherheitsbeamte streckt kurz den Kopf aus der Tür. »Die Nudeln, Herr Vorsitzender.«
»Sehr gut«, grinst der Vorsitzende. »Ich habe einen Bärenhunger. Trulsek, Ihr Onkel ist doch im, äh, Bestattungsgewerbe tätig?«
»Er ist Sarginnenausstatter.«
»Dann sorgt er sicher gerne dafür, dass der Führer es gemütlich hat. Ach ja, und mein Stellvertreter hier ...« Abschätzend wirft er einen Blick auf den breiten Mann neben ihm, der die Decke anstarrt, als würden ihm sensationelle Fresken den Atem verschlagen. »Kostet ein Großraumsarg eigentlich extra?«
»Nicht unter Freunden«, versichert Trulsek.
»Gut«, nickt der Vorsitzende. »Dann allerseits guten Appetit. Die Sitzung ist vertagt.«
Einblendung: Freitag, 1. Oktober 1954
Professor Hilsenbrecht stellt uns Professor Oppenheimer vor, der aus den USA ausgewiesen worden ist, weil er federführend am sogenannten Manhatten-Projekt beteiligt war, das der amerikanischen Regierung eine Superbombe bauen sollte.
»Leider funktionierte our Atombombe not«, erklärt Oppenheimer mit einer kubanischen Zigarre im Mundwinkel. »Sie crashed das Dach einer Vorschule im japanischen Hiroshima. Die Kindern thought it's a heruntergefallenes Mondmann-Auto, mit dem sie anfingen sofort to play. Mr President war not really amusiert.«
Hilsenbrecht erklärt mit einer Geste, als hätte man ihm soeben den Nobelpreis verliehen: »Die Beteiligung Herrn Professor Oppenheimers wird einen entscheidenden Durchbruch bringen.« Er lächelt verbindlich. »Wir können nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach einen in einer anderen Zeitlinie erfolgreich aus der Vergangenheit geholten Führer nach einigen Jahren aus der Zukunft zu uns holen.«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach?«, wiederholt Fahnenjunker Trulsek und spielt mit einer seiner Locken.
»Steht der Führer dann nicht nur zur Verfügung, bis er von uns selbst wieder in die Vergangenheit geholt wird?«, fragt der Vorsitzende misstrauisch.
Die meisten Sitzungsteilnehmer werfen verständnislose Blicke in den Raum wie Siebtklässler, die sich in eine Quantenelektrodynamik-Vorlesung verirrt haben.
Professor Oppenheimer stellt fest: »Sie haben no Ahnung von Physics, Gentlemen. Überlassen Sie die Sache einfach uns.«
Offenbar, so Professor Hilsenbrecht, besitze die Natur eine Art Selbstheilungsmechanismus, der Manipulationen an Zeitlinien betrifft. Er erinnert an die unerwartet aufgetauchte Wespe. Indem man den Führer aus der Zukunft hole, würde man automatisch auf eine Zeitlinie mit fehlerhaftem Selbstheilungsmechanismus zugreifen.
Nach längerer Debatte über Für, Wider und ob man ein heißes Nudelgericht bereithalten solle, wird der kommende Freitag zur Durchführung bestimmt.
Einblendung: Freitag, 8. Oktober 1954
Der Vorsitzende rutscht unsicher auf dem Stuhl hin und her. »Aus welchem Jahr wollen wir den Führer doch gleich holen?«
Oppenheimer seufzt: »Twothousand 18.«
»Aber«, stammelt der Vorsitzende, »wäre der Führer da nicht ...« Er scheint mit bebenden Lippen im Kopf nachzurechnen. Dann ergänzt er: »... längst tot?«
»In der Zukunft gibt es of course große Fortschritte in der Verjüngungs-Forschung«, entgegnet Oppenheimer geduldig.
»Alles exakt berechnet«, behauptet Professor Hilsenbrecht und klopft mit dem Finger auf einen Stapel Papiere.
»So fahren wir fort«, lächelt Oppenheimer zufrieden. Er nimmt die nötigen Schaltungen vor.
Ein hysterisches Glitzern spaltet die Decke, eine wispernde Wolke fällt aus der Öffnung.
Der Führer erscheint mitten im Raum. Er trägt einen halb durchsichtigen, verschwitzten, schwarz-weiß-rot gekringelten Sportanzug und wirkt nicht älter als 25 Jahre.
»Oh!«, entfährt es dem Vorsitzenden.
Das Gesicht des Führers läuft blutwurstrot an. »Idiotäään! Ihrrr habt mich aus däääm WM-Finalää entführrrt!«
Der Vorsitzende zeigt auf die Binde am Arm des Führers. »Er ist Mannschaftskapitän«, flüstert er.
»Wääärrr dänn sonst?«, schreit der Führer. »Jätzt wääärrrden wirrr schon wiedäärr nicht Wääältmeistäärrr!«
»Wieso? Wie steht es denn? Ich meine – stand? Äh, wird stehen?«, erkundigt sich Fahnenjunker Trulsek.
»7:7 im Ääälfmäätäärrschießään!«
»Gegen wen«, wagt der Vorsitzende zu fragen, »ich meine, wer ist denn der Gegner?«
»Na wääär schon, die Amis natürrrlääch!«
Hilsenbrecht durchschaut das Komplott als erster. »Das war Oppenheimers Idee!«
Alle Blicke richten sich auf den Amerikaner, der gerade versucht, aus dem Raum zu schleichen.
»Haltet den Spion!«, befielt der Vorsitzende.
»Vääärrräääätäääärrr!«, kreischt der Führer und stürzt sich auf Oppenheimer.
Kehren wir an dieser Stelle zu unserem metadimensionalen Fernsehzuschauer zurück, der mit der Fernbedienung nicht durch Kanäle, sondern Wochen zappt. Stellen wir uns ferner vor, dass in diesem Moment sein Vorgesetzter erscheint und ihn zur Schnecke macht, weil er gefälligst seinen verdammten Job machen soll, wofür bezahle man ihm zehn Kisten Bier-Analogon pro Usek (Urknallendem Sekundäruniversum)?
»Es war gerade so lustig«, würde unser Zuschauer wohl mit seinen Kommunikationsfühlern anzeigen, bevor er seinen Rüssel zu einer schuldbewussten Schleife kringelt.
»Verletzungen der Zeitmanipulations-Verbote durch egal wie knuddelige Männchen der minus-zweieinhalbten Evolutionsstufe sind durch Sie zu unterbinden, kapiert? Wozu haben wir Sie zu dieser unglaublich teuren Fortbildung ins demokratisch-ultimative Paralleluniversum geschickt!«
Während wir noch hoffen, dass der Vorgesetzte gleich etwas ergänzt wie »Gut, dass das alles nur eine Simulation war, um Sie zu testen« gefolgt von »Sie sind übrigens durchgefallen«, schweift unser Blick auf den Fernseher, der jetzt zeigt, wie weiße und rote Knuddelmännchen auf einem grünen Rasen stehen und ziemlich ratlos aussehen. Sie scheinen jemanden zu vermissen, und wir schließen die Augen und schütteln den Kopf.
Und wieder eine völlig verquaste Zeitlinie ...
Dann hören wir die Stimme des Vorgesetzten, die einen knuddeligen Tonfall angenommen hat: »Wie steht's eigentlich?«
Thema des Monats Dezember - Zeitreisen mit Augenzwinkern