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Der Essnack

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26.07.2002
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Der Essnack

In Katzwinkel abbiegen, links, Richtung Bergisches auf die L279.
Bauernschnellstraße sagen die Leute im Dorf zu ihr.
Die gelben, kleinen Sonnen auf dem satten Grün entlang der Strasse sind schon in der Wandlung begriffen. Flaumig weiße Schirmchen schweben sachte im Wind.
Feierabend.
Ich freue mich richtig.
Das Fenster runtergekurbelt, die Sonne kann rein und mit ihr der frühlingssüße Duft des Waldes, der mittlerweile an mir vorbeigleitet.
Aus den Boxen klingt Bush, eines meiner Lieblingsstücke: „Glycerin“.
Ganz laut.
Ich summe mit, weil ich den Text nicht kann.
Das macht den Kopf frei.
„Essnack, Essnack“ , hat er heute vor sich hingesagt.
Immer wieder das gleiche Wort. Fast wie ein Mantra.
Bloß nicht anhaltbar vor dem Verlassen der Stimmbänder. Weil meine Rede nicht zu ihm durchdringt, zu dem Teil von ihm, der mich manchmal anhört. In die vergrabenden Schichten des Verstehens.
Weil die Klänge hallen in seinem Kopf und die Wörter Ventil sind. Für das Überdruckgewitter in seinem Schädel.
„Essnack, Essnack“ , da ist es schon wieder.
„Essnack gibt es doch gar nicht“ , werfe ich ein.
Er sitzt am Tisch. Wippend, die Räder des Stuhles vollführen einen Achteldrehung – hin und wieder zurück. Sein Rhythmus.
Zeiten kann er so verbringen. Nichts vermag ihn abzulenken, keine Hand ihn wecken aus der schaukelnden Starre.
Wenn die lauten Worte nicht wären, denke ich oft bei mir.
Es gibt Tage, da nehmen sie überhand, schmiegen sich in die Windungen meines Hirninhaltes und setzen sich fest.
So wie heute.
„Essnack!“
Selbst auf dem Klo, wo ich kurz alleine bin, denke ich es schon.
Das hat er mal wieder geschafft.
Obwohl er es nicht böse meint.
Falls er überhaupt in der Lage ist zu meinen. Er bildet nur. Neue Wörter meist.
Weil er die so schön sagen kann. Einfach sagen, mit seiner sauberen, melodischen Aussprache.
Er formiert Buchstaben und Silben zu Vokabeln die es noch nicht gibt. In unserer Tagtäglichkeit zumindest. Eigentlich ist er ein Erfinder.
Mitunter wirft er sein Essgeschirr hinter sich. Froh, dass die Anderen noch nicht hineingetreten haben wische ich die Reste von Boden und Rollstuhl.
Essnack, Essnack“, schallt es schon wieder. Weil er so wippt komme ich mit dem Zewa kaum zwischen die Speichen. Ausgerechnet da hängt die Soße am dicksten.
Irgendwann ist es vier Uhr. Mein Kopf dröhnt , noch bevor ich in den Wagen steige.

@ merlinwolf Mai 2003

 

Hallo Merlinwolf,

Jenseits von Grammatik und vollständigen Sätzen hast du ein stimmungsvolles Portrait über ein mehrfach behinderten Menschen gemalt.
Es ist gleichzeit die Anstrengung und auch die Liebe deines Protagonisten spürbar, das gefällt mir.
zwei Fehler sind mir aufgefallen.

Nichts vermag ihn ablenken,
abzulenken
Wen die lauten Worte nicht wären, denke ich oft bei mir
Wenn

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,
vielen Dank für dein aufmerksames Lesen. Fehler sind auch schon verbessert.
Den Mensch, von dem ich schreibe, gibt es wirklich. Leider kennt er die Geschichte hier nicht . Weil er nicht lesen kann, er ist blind. Und weil er den Inhalt nicht verstehen kann, keine Ahnung warum genau.
Je länger ich Menschen mit einen schweren geistigen Behinderung kenne um so weniger verstehe ich sie, weil ihre Handlungen fast nie gleich sind. Komisch eigentlich. Aber akzeptierbar.
Ich muß mich bloß darauf einstellen, ständig vor neue Situationen gesetllt zu werden.
Es sind Menschen mit starkem Willen.
Alles Liebe***********merlinwolf*******

 

Hallo Merlinwolf!
Eine ruhige, leise Geschichte hast du geschrieben und ich finde, sie ist dir gut gelungen. :)
Du erzählst mit wenigen Wörtern von der Anstrengung und gleichzeitig auch Liebe und Freundlichkeit eines Menschen, der mit einem mehrfach behinderten Menschen umgeht.
Hat mir gut gefallen. :)

bye und tschö

 
Zuletzt bearbeitet:

hi Merlinwolf

Was deine Geschichte von den meisten anderen in dieser Rubrik, für mich durchaus positiv, abhebt, ist, dass sie weder Negativbeispiel noch Vorbild sein will, sondern einfach den Alltag schildert.

Ich habe das Gefühl, dass der Prot oder die Protagonistin über die Verwunderung hinaus auch noch Bewunderung für sein Gegenüber empfindet.

Das Musikhören, um den "Kopf frei zu bekommen", Mitsummen, ohne den Text zu kennen.
Sie beobachtet und lauscht, fasziniert wie ein Entdecker, als ahnte sie da eine fremde Welt, zu der ihr der Zutritt verwehrt ist.
Ist übrigens auch ganz typisch für die junge deutschsprachige Literatur, diese Sehnsucht nach dem Kindlich-fremden.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

hallo Merlinwolf!

schön, weider einmal von Dir zu lesen, die letze ist lang her.
Dein Stil hat mir wie immer sehr zugesagt, knapp und doch voller Details.
Was sehr schön herauskommt ist die Beziehung der Erzählerinn zum "Essnack" - auch der Stess, den die Situation auslöst. Sich das einzugestehen und dennoch liebevoll und fürsorglich zu reagieren. Sich auch die Freude am Feierabend zugestehen. Du schreibst, es gibt ihn wirklich.

"Je länger ich Menschen mit einen schweren geistigen Behinderung kenne um so weniger verstehe ich sie, weil ihre Handlungen fast nie gleich sind. Komisch eigentlich. Aber akzeptierbar." - diese Einstellung ist für mich absolut nachvollziehbar und auch mutig. Anderes akzeptieren, obwohl man es nciht verstehen kann.

Danke für den Text, Merlin.

alles liebe...
Anne

 

Servus Merlinwolf!

Ein gute Betrachtung zum Thema. Bereits im Erleben des Textes ist diese Akzeptanz vorhanden. Was mir besonders gefällt ist, dass das Genervtsein, das Nichtbegreifen die gleiche Berechtigung hat, den gleichen Raum in der Erzählung einnehmen darf wie das Anerkennen von besonderen Werten - "eigentlich ist er ein Erfinder". Das erlaubt eine neue Normalität.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo ihr Lieben,
danke für euer Interesse an dem "Essnack".
Die Mühe, die ich mir gab um das Thema wertfrei zu beleuchten, ist bei euch angekommen und das ist schön.
Ich war lange nicht auf dieser Seite, nicht etwa wegen einer Schreibblokade, nee.
Oft steht noch so viel im Raum und somit auch vor mirr, dass ich überhaupt nicht an den PC komme. Im Winter wird das sicher wieder besser.
Alle Liebe für Euch
****merlinwolf*******

 

Einen wundervollen schreibstil hast du, allerdings wäre mir, würde der Text nicht im "Jahr der Behinderten" Board stehen nicht kso schnell klar das es um einen geistig Behinderten geht.

einen Satz verstehe ich nicht:

Weil er so wippt komme ich mit dem Zewa kaum zwischen die Speichen.

Was für Speichen?

 
Zuletzt bearbeitet:

Die Speichen vom Rollstuhl? Muß wohl dann einer sein.

Das der Titel dieses speziellen Boards sich manchmal problematisch auswirken kann ist mir auch ein, zwei Mal aufgefallen. Weil er evtl. zu viel vorwegnimmt oder erklärt. Letzteres ist hier der Fall, wenn auch nicht zu schlimm. Natürlich könnte man als Autor mit diesem Kontext auch spielen. hoover hat am Anfang von "lies mich" den Erzähler als poster auf dem board dargestellt, was auch eine interessante Perspektive ist (jedenfalls könnte man es zuerst so auffassen).

 

Hm ja das könnte sein, ich hatte beim Lesen halt einen geistig behinderten bzw einen geistig sehr abwesenden Menschen vor mir... das mit den Specihen kam denns ehr seltsam rüber da ich eben nur an die geistige Ebene dachte...

 

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