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Der Essnack
In Katzwinkel abbiegen, links, Richtung Bergisches auf die L279.
Bauernschnellstraße sagen die Leute im Dorf zu ihr.
Die gelben, kleinen Sonnen auf dem satten Grün entlang der Strasse sind schon in der Wandlung begriffen. Flaumig weiße Schirmchen schweben sachte im Wind.
Feierabend.
Ich freue mich richtig.
Das Fenster runtergekurbelt, die Sonne kann rein und mit ihr der frühlingssüße Duft des Waldes, der mittlerweile an mir vorbeigleitet.
Aus den Boxen klingt Bush, eines meiner Lieblingsstücke: „Glycerin“.
Ganz laut.
Ich summe mit, weil ich den Text nicht kann.
Das macht den Kopf frei.
„Essnack, Essnack“ , hat er heute vor sich hingesagt.
Immer wieder das gleiche Wort. Fast wie ein Mantra.
Bloß nicht anhaltbar vor dem Verlassen der Stimmbänder. Weil meine Rede nicht zu ihm durchdringt, zu dem Teil von ihm, der mich manchmal anhört. In die vergrabenden Schichten des Verstehens.
Weil die Klänge hallen in seinem Kopf und die Wörter Ventil sind. Für das Überdruckgewitter in seinem Schädel.
„Essnack, Essnack“ , da ist es schon wieder.
„Essnack gibt es doch gar nicht“ , werfe ich ein.
Er sitzt am Tisch. Wippend, die Räder des Stuhles vollführen einen Achteldrehung – hin und wieder zurück. Sein Rhythmus.
Zeiten kann er so verbringen. Nichts vermag ihn abzulenken, keine Hand ihn wecken aus der schaukelnden Starre.
Wenn die lauten Worte nicht wären, denke ich oft bei mir.
Es gibt Tage, da nehmen sie überhand, schmiegen sich in die Windungen meines Hirninhaltes und setzen sich fest.
So wie heute.
„Essnack!“
Selbst auf dem Klo, wo ich kurz alleine bin, denke ich es schon.
Das hat er mal wieder geschafft.
Obwohl er es nicht böse meint.
Falls er überhaupt in der Lage ist zu meinen. Er bildet nur. Neue Wörter meist.
Weil er die so schön sagen kann. Einfach sagen, mit seiner sauberen, melodischen Aussprache.
Er formiert Buchstaben und Silben zu Vokabeln die es noch nicht gibt. In unserer Tagtäglichkeit zumindest. Eigentlich ist er ein Erfinder.
Mitunter wirft er sein Essgeschirr hinter sich. Froh, dass die Anderen noch nicht hineingetreten haben wische ich die Reste von Boden und Rollstuhl.
Essnack, Essnack“, schallt es schon wieder. Weil er so wippt komme ich mit dem Zewa kaum zwischen die Speichen. Ausgerechnet da hängt die Soße am dicksten.
Irgendwann ist es vier Uhr. Mein Kopf dröhnt , noch bevor ich in den Wagen steige.
@ merlinwolf Mai 2003