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Der erste Tag des Herrn Li
Herr Li steht am Gartenzaun vor seinem Haus. Was hat sich verändert? Eigentlich nichts. Die große Schaukel unter dem Ahornbaum, als wäre er nie fort gewesen. Der Putz ist ein wenig abgeblättert. Die Tannen an den seitlichen Rändern des Grundstückes sind deutlich gewachsen. Alles blüht. Die Zweige des Litschibaumes hängen schwer nach unten, ein Meer an reifen rötlichen Früchten.
Vor dem Gartentor steht ein Fahrrad, das er nicht kennt.
„Komm“, sagt Mayleen, und nimmt ihren Vater an die Hand. Die Tür zur Veranda steht offen, aus dem Dunkeln schreitet langsam seine Schwester auf ihn zu, ein Geschirrtuch in der Hand.
„Du bist zurück.“
Jetzt läuft sie auf ihn zu. Sie fallen sich in die Arme. Er weint nicht, er ist nicht glücklich, nicht traurig, er staunt, so viele Eindrücke, so unwirklich.
Das Leben gab es jahrelang nur in seiner Fantasie. Wenn er im Gefängnis die Augen schloss und daran dachte, wie er inmitten seiner Kinder an einem warmen Sommerabend auf der Schaukel saß, sie fest an sich gedrückt, dann kam ihm das schon ziemlich real vor, und je mehr er sich mit der Zeit in die Welt der Fantasie begab, desto stärker wurden seine wirklichen Gefühle, desto mehr verblasste die wirkliche Welt um ihn herum. Er hatte es fast bis zur Perfektion geübt, eine erträumte Situation als vollkommen real zu fühlen, und das Schöne war, dass es allein in seiner Macht lag, was passierte und wie er sich folglich fühlte. Was würde nun passieren? In den letzten Tagen hatte er ein wenig Angst, dass sich die wirkliche Welt nicht so entwickelte, wie er sie sich erträumt hatte. Er hatte fünf Jahre ohne Streit, ohne Schulden ohne Alltagssorgen gelebt. Was war denn die wirkliche Welt eigentlich, wo war der Unterschied, im positiven Sinne? Er hatte es fast vergessen, da war immer nur eine undefinierbare Sehnsucht, nach seinen Kindern vor allem. Nun spürt er zum dritten Mal nach seiner Freilassung, wie sich eine Umarmung in der Wirklichkeit anfühlt. Er spürt den warmen Körper seiner Schwester, fest an sich gedrückt, ihre zerfurchten Hände an seinen Wangen, ihre kalten Tränen an seinem Hals, ihr langes fusseliges Haar in seinem Mund. So verharren sie eine Weile.
„Du hast sicher Hunger. Das Essen ist schon fertig.“ Sie gehen in das Haus. Er erkennt den Geruch wieder. Der Tisch in der Küche ist gedeckt, auf dem Herd qualmt und zischt es aus Töpfen.
„Komme gleich wieder. Ich habe 5 Jahre lang keine Blumen gesehen.“
Seine Schwester lächelt.
Herr Li läuft in schnellen kleinen Schritten hinaus, an er Haustür verlangsamt sich sein Schritt. Er geht hinter das Haus. Alles scheint wie vorher, der Gemüsegarten, die Obstbäume. Doch, da ist ein Unterschied, Kletterpflanzen haben die Rückseite des Hauses zur Hälfte erobert. Es gefällt ihm. Er schließt die Augen und atmet, tief ein und aus. Aus dem Haus hört er das Klappern von Geschirr, Stimmen, gemischt mit Vogelgezwitscher aus allen Himmelsrichtungen. Eine Hummel summt nahe an seinem Ohr.
Am Küchentisch warten sie bereits. Mayleen reicht ihrem Vater einen dampfenden Teller mit Reis, es gibt Zitronenhuhn. Schweigend verschlingt er den ersten Teller und verlangt den zweiten, noch ehe das erste Wort gesprochen ist.
„Was macht die Schule?“
Das Dorffest, an dem sein Leben eine andere Richtung nahm, weil er den Großen Parteivorsitzenden verhöhnte, es war eine Woche nach Mayleens erstem Schultag, Minh war schon in der fünften Klasse.
„Sie gehören in ihren Klassen zu den Besten“, sagt seine Schwester.
„Ich muss noch Hausaufgaben machen,“ sagt Mayleen.
Nach dem Essen legt die Schwester ihre Hand um die Schulter ihres Bruders.
„Ich muss sie jetzt zu ihrer Mutter bringen und dann zur Arbeit. Gib ihnen Zeit. Ich komme dich morgen besuchen. Ruh dich aus. Wenn du etwas brauchst, ruf mich an.“
Sie will noch etwas sagen, doch sie zögert.
„Ich…Schön, dass du wieder da bist.“
Sie verabschieden sich.
Herr Li sieht aus dem Fenster. Vor dem Haus steht noch immer der Wagen mit demselben Mann, der ihn zusammen mit seinen Kindern abgeholt hatte. Auf der Hinfahrt hatten sie kein Wort gewechselt.
„Wer ist dieser Mann?“
Sie lächelt ihren Bruder an, braucht eine Weile, um zu antworten.
„Nimm es ihr nicht übel. Ihr Leben ging weiter. Sie brauchte jemanden, der für die Kinder da ist, und für sie.“
Sie verabschieden sich.
„Tschüss Papa“, sagt die Große.
Herr Li schaut ihnen hinterher. Der Mann wartet im Auto, schaut nicht hoch, wie schon im Auto scheint er sich unwohl zu fühlen, unglücklich. Herr Li schließt daraus, dass seine Freilassung in den Augen des Mannes eine Bedrohung war. Er kann es ihm nicht übelnehmen. Ob Ling glücklich mit ihm ist? Er würde es bald herausfinden.
Seine Schwester winkt ihm vom Gartentor zu und radelt davon. Bald ist auch der Wagen verschwunden. Die Dämmerung hat eingesetzt. Herr Li geht hinter das Haus und schaut, riecht, atmet. Die Nacht verbringt er auf der Schaukel, es ist nicht kalt. Stundenlang schaut er in den Sternenhimmel. Er denkt an seinen Großvater, der ihm die Sterne erklärt hatte. Im Haus brennt Licht. Hunderte Mücken und andere Insekten drängen sich vor dem verschlossenen Fenster. Sie wissen nicht, dass das Licht trügerisch ist, dass sie ihre Freiheit, ihr Leben riskieren, wenn sie dem Drang folgen. Herr Li pflückt eine Handvoll Litschis und setzt sich schmatzend auf die Schaukel. Er fühlt sich nicht einsam. Jetzt ist er doch glücklich.