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Der erste Schultag
Gerard, das rote Eichhörnchen, hatte die Mäusefamilie gebeten, unter die Linden zu kommen. Er hatte sein Bild von dem Fußballspiel endlich fertig gemalt. Stolz zeigte er es den Mäusen, nachdem sie aus ihrem Bau gekommen waren. Selbst Lucia musste es zugeben, das Bild war ihm wirklich gut gelungen. Er hatte genau den Moment festgehalten, als der Stürmer seiner Lieblingsmannschaft den Ball in das Tor schoss. Die Zuschauer auf der Tribüne hatten die Arme hochgerissen und jubelten. Das war ein aufregender Tag gewesen.
Aber das Bild war nicht die einzige Erinnerung an diesen Tag. Fine steckte der Schreck noch immer in den Knochen. Da war der Ausflug der Mäusemädchen in den Umkleideraum der Fußballer, der beinahe damit geendet hätte, dass eine Katze die abenteuerlustigen Mädchen erwischt hätte. Wäre Oskar nicht so mutig zur Stelle gewesen ... Den Mäuseeltern und den Eichhörnchen stellten sich die Haare auf, wenn sie nur daran dachten.
Fine und Cäsar hatten sich alles genau von den Kindern erzählen lassen, was im Stadion passiert war. Oskar fühlte sich noch immer als Held, er war der Katze ins Gesicht gesprungen und hatte ihr in die Nase gebissen. Die Katze war heulend davongelaufen. Sie hätte aber genauso gut noch wütender werden können, was den Kindern mit Sicherheit nicht recht bekommen wäre. Fine wurde schlecht, wenn sie sich daran erinnerte. Sie hatten ihnen doch alles über Katzen erzählt. Wie gefährlich sie waren. Und Katzen waren nicht die einzigen, vor denen sich die Mäuse in Acht nehmen mussten. Sie und Cäsar hatten sich die größte Mühe gegeben, ihre Kinder auf das Leben in einer Stadt vorzubereiten, aber es war scheinbar nicht genug. Die kleinen Mäuse wussten noch gar nichts. Ihr Entschluss stand damit fest: die Kinder mussten in eine Schule gehen, und das sofort.
"Lehrer Flux erwartet euch schon morgen", sagte Cäsar und die Mäusekinder sahen ihn mit ihren glänzenden Knopfaugen ungläubig an. Sie blickten zu ihrer Mutter, doch Fine nickte nur zustimmend.
„Warum?“, fragte Cäsaria „Lesen und Schreiben haben wir doch schon von euch gelernt.“ Auch Maria sah nicht glücklich aus. Sollten sie nicht mehr im Gras spielen können? Was war eine Schule und mussten sie von zu Hause fort? Maria hatte nicht bemerkt, dass sie ihre Ängste laut gesprochen hatte. Das führte dazu, dass Jenny, die kleine Angstmaus, zu weinen anfing.
„Da habt ihr doch selber Schuld“, sagte Oskar.
„Nun tu doch nicht so, als ob du das unschuldige Goldkind wärst!“ Griselda sah beleidigt hin zu Oskar.
„Jetzt ist es genug!“, tadelte Fine die Mäuse. „Ihr geht alle in die Schule, da gibt es keine Ausnahmen. Und dass Oskar ein Goldkind ist, hat keiner behauptet!“
Jenny sah dadurch nicht unbedingt beruhigt oder glücklich aus. Fine setzte sich zu ihr und schaute ihr in die Augen.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Die Schule ist etwas ganz wunderbares. Ihr lernt Dinge kennen, die wir euch nicht alle beibringen könnten ...“ Sie machte eine kleine Pause und schaute in die Runde. “... und im Gras spielen könnt ihr, so lange ihr wollt, wenn ihr nach der Schule wieder zu Hause seid.“ Sie sah zu ihrem einzigen Jungen. „Und Oskar, du bist zwar der Jüngste, wenn es auch nur ein paar Minuten sind. Du kannst deinen Schwestern Gutenachtgeschichten vorlesen.“
Oskar blickte etwas verlegen drein. Er fühlte sich für Mädchengeschichten nun doch langsam zu groß.
„Aber damit ihr euch wie richtige Schulanfänger fühlt, bekommt jeder von euch eine Schultüte.“ Cäsar legte fünf kleine Schultüten auf den Tisch und es duftete augenblicklich nach reifen Körnern.
Lehrer Flux war ein großer Mäuserich mit langen Barthaaren. Jenny machten sie Angst, weil sie so weiß von seinem sonst graubraunen Fell abstachen. Unheimlich fand sie auch, dass er immer, wenn er etwas beim Sprechen betonte, eine schwungvolle Bewegung mit seinem Mäuseschwanz machte. Ihre Schwestern Griselda und Cäsaria waren dadurch eher belustigt und kicherten.
„Psst!“, zischten die anderen Mäusekinder, sie fürchteten sich, wegen der Unruhe Strafarbeiten für zu Hause zu bekommen.
„Kinder, wir haben fünf neue Schüler in unserer Klasse. Sie haben noch nie eine Schule besucht und wissen noch nicht, wie man sich in einer Klasse verhält. Ich schlage vor, die fünf stellen sich erst einmal vor und auch von euch sagt danach jeder seinen Namen, damit auch sie euch kennenlernen.“
Oskar, Cäsaria, Maria, Jenny und Griselda stellten sich der Klasse vor und mussten staunen, dass es noch zwei weitere Marias und auch noch eine Jenny gab. Oskar war stolz, dass er sich seinen Namen mit niemand sonst teilen musste.
„Jetzt kennen sich alle, und wer sagt denn unseren neuen Schülern, was wir heute vorhaben?“
Brigitte meldete sich und schnipste dabei mit den Fingern. Brigitte war ein kleines Mäusemädchen aus der Stadt. Sie war klug und hob immer als erste die Pfote, wenn Lehrer Flux den Schülern eine Aufgabe stellte.
„Ach, Brigitte, ich weiß doch, dass du es weißt. Fragen wir doch lieber jemand anderen. Vielleicht weiß es ja Kurt.“
„Am Bach sind Bäume umgefallen. Wir wollen uns ansehen, wer sie umgeworfen haben könnte.“
Oskar und seine Schwestern waren noch nie am Bach und fanden es spannend, was sie an diesem Tag noch alles in der Schule erleben würden. Und damit sie keine Zeit verlören, mussten sich die Schüler in Zweierreihe anstellen und Lehrer Flux zählte sie.
Dann ging es los. Sie liefen an den Gärten vorbei und nahmen dann den Weg entlang des Feldrains, der zu einem kleinen Bach führte. Am Bachufer standen kleine Bäume und ab und zu fehlte einer. Die Bäume selbst lagen im Wasser und bildeten einen Damm, hinter dem sich das Wasser staute. Das Erstaunliche an den Baumstümpfen war, wie diese aussahen.
„Kinder, könnt ihr mir sagen, was euch an den gefällten Bäumen auffällt?“, fragte Lehrer Flux die Klasse.
Da die meisten der Mäusekinder noch nie einen umgefallenen Baum gesehen hatten, konnten ihnen die Spitzen an den Baumstümpfen auch nicht auffallen. Sie staunten die Stümpfe mit großen Augen an. Oskar hatte sich an einen herangeschlichen und beäugte die Spitze.
„Das sieht aus, als hätte jemand mit seinen Zähnen das Holz abgenagt.“ Oskar sagte das mehr zu sich selbst. Lehrer Flux hatte ihn aber gehört.
„Sag es laut, dass alle es hören können, Oskar“, sagte der Lehrer. Oskar wiederholte, was er festgestellt hatte.
„Und weißt du auch, welches Tier das gewesen sein könnte?“
In diesem Moment kam eine nasse Schnauze aus dem Wasser. Sie sah fast wie eine Mäuseschnauze aus, nur größer.
Die Mäuse, auch der Lehrer Flux, wichen ängstlich zurück, einige piepsten laut. Sie drängten sich an ihren Lehrer.
„Vor ihm müsst ihr euch nicht fürchten. Wisst ihr, wer das ist?“ Er wartete eine Weile, dann gab er die Antwort: „Das ist Herr Biber.“
Der Biber bestaunte die Mäusegesellschaft ebenfalls.
„Wir wollten Sie nicht stören. Ich möchte den Kindern nur zeigen, wer die Bäume gefällt hat.“ Lehrer Flux verneigte sich tief.
„Wollt ihr sehen, wie schnell das geht?“, fragte der Biber und begann sogleich, an einer kleinen Pappel zu nagen.
„Oh, ich glaube, das ist zu gefährlich für uns. Wir gehen dann lieber wieder.“ Der Lehrer drängte die Kinder, zu gehen. Die protestierten laut, sie wollten es sehen, wie der Baum umfällt und was der Biber dann damit macht. Aber Lehrer Flux trieb die Klasse zur Eile und führte sie so weit weg, dass sie von dem Baum nicht erschlagen werden konnten.
„Es würde auch zu lange dauern. Für diesen Baum braucht der Biber bestimmt drei Stunden und so lange können wir nicht hier bleiben. Eure Eltern machen sich bestimmt jetzt schon Sorgen und wir haben noch einen langen Weg zurück. Aber hat euch denn unser kleiner Ausflug gefallen?“
Wie aus einer Kehle piepsten die Mäuse laut zustimmend.
Es dauerte nicht lange, und die Kinder waren wieder in der Schule angekommen. Jedes Mäuslein war so mit den Eindrücken vom Bachufer beschäftigt, dass die Wanderung zurück sehr schnell ging.
Als die Kinder wieder auf ihren Plätzen saßen, fragte Lehrer Flux: „Hat sich denn jemand den Schwanz des Bibers angesehen? Kann mir jemand von euch sagen, welche Form er hatte?“
Diesmal war es Jenny, die sich als erste meldete.
„Der Biber hatte einen Schwanz, der ganz flach war, nicht wie ein Mäuseschwanz.“
„Das hast du sehr gut beobachtet“, sagte Lehrer Flux. „Aber warum muss denn der Schwanz des Bibers diese Form haben? Weiß das jemand?“
Er schaute zu Brigitte, doch sie sah ihn nur fragend an.
Da hob Oskar die Pfote. „Ich habe gesehen, dass er sich draufgesetzt hat. Das würde bei einem runden Schwanz nicht gehen.“ Alle lachten, und Oskar war traurig, dass seine Antwort falsch war.
„Über eine falsche Antwort darf man nicht lachen, wenn man selbst nicht weiß, wie die richtige lautet“, tadelte der Lehrer die Schüler. „Und darum schreibt ihr als Hausaufgabe alle auf, warum der Biber einen Schaufelschwanz braucht.“
Und so gingen die Mäusekinder nach Hause und es war die erste Frage, die sie ihren Eltern stellten.
Fine und Cäsar setzten sich mit ihren fünf Kindern an den großen Tisch im Esszimmer, und Cäsar fragte: „Habt ihr euch angesehen, wo der Biber wohnt?“
„Im Wasser“, sagten die Kleinen gleichzeitig.
Und plötzlich sprudelte es aus Maria heraus: „Ja, das ist genau wie bei der Taube Grete, die benutzt ihren Schwanz zum Lenken in der Luft. Und der Biber lenkt mit seinem Schwanz im Wasser!“
„Dann schreibt das alle auf“, sagte Fine und war stolz auf ihre fünf Mäuslein, die an ihrem ersten Schultag eine spannende Wanderung unternommen und schon eine ganze Menge gelernt hatten.
„Und nun geht spielen!“
Das ließen sich die Kleinen nicht dreimal sagen. Als erstes liefen sie zu den Linden und riefen die Eichhörnchen. Sie erzählten von ihrem ersten Tag in der Schule und fragten Lucia und Gerard natürlich auch, ob sie eine Schule besucht hatten. Die mussten sofort erzählen, was sie erlebt hatten. Ans Spielen dachte keins der Mäusekinder mehr. Als die Dämmerung heraufzog, gingen sie in ihren Mäusebau und es dauerte nicht lange, da herrschte im Kinderzimmer himmlische Ruhe. Sie waren erschöpft eingeschlafen, kaum, dass sie sich hingelegt hatten. Und sie träumten vom nächsten Tag.