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Der erste Schnee

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26.12.2009
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Der erste Schnee

Sie sah aus dem Fenster. Es war ein hellgrauer Tag, mit dichten Wolken und blindem Licht.
Die Scheibe beschlug von ihrem Atem, es war kalt dort draußen. Ein paar Spatzen saßen auf dem Balkon, mit aufgeplustertem Gefieder, sahen sie an. Mit ihren kleinen, schwarzen Augen.
Spatzen sind neugierig, dachte sie. Sie wissen, wieso ich nicht dort draußen bin.
Die Vögel hüpften vor ihrem Fenster auf und ab. Der Himmel war kalt und grau, aber die Vögel flogen trotzdem. Wieso sind sie nicht im Süden, dachte sie, bis ihr einfiel, dass Spatzen über den Winter das Land nie verließen. Sie machen lieber Sommerurlaub, dachte sie und lächelte dabei. Sie wandte den Blick ab und sah auf die Uhr. Er wollte seit zwei Stunden da sein. Er war es nicht. Zwei Stunden grauer Himmel und Spatzen auf ihrem Balkon. Zwei Stunden halber Winter. Der Bilderrahmen auf ihrem Schreibtisch zeigte ihn, er trug sein gelbes T-Shirt und saß auf dem Balkon. Es war ein heißer Sommertag und seine Stirn glänzte in der Sonne. Sie mochte das Bild. Sie mochte ihn, auf dem Balkon, mit seinem gelben T-Shirt. Die Spatzen fehlten. Die sind im Sommerurlaub, dachte sie.
Als sie wieder nach draußen sah, war es ein dunkelgrauer Tag geworden.
Ein dunkelgrauer Tag auf ihrem Balkon, mit braunen Spatzen und weißen Punkten.
Es hatte angefangen zu schneien. Sie sah wieder auf die Uhr. Zwei Minuten ganzer Winter.
Sie stand auf und öffnete die Balkontür. Die Vögel flatterten aufgeregt durcheinander, ihre Füße hinterließen kleine Scharten im frischen Schnee.
Sie ließen sich auf den kahlen Ästen der großen Eiche nieder, die im Park gegenüber stand.
Sie zählte sieben braune Punkte zwischen den weißen Schneeflocken. Vierzehn schwarze Augen, die sie über die Straße hinweg beobachteten.
In der Stadt war es auch nicht still, wenn Schnee fiel.
Inmitten von Häusern, Straßen und geschäftigem Treiben schienen die lautlosen, federartigen Flocken fast unwirklich. Zu langsam und zu sanft waren sie, zu zärtlich für eine Welt wie diese, dachte sie.
Im Park ging eine Frau mit ihrem Hund spazieren. Es war ein kleiner, quirliger Hund, mit weißem Fell. Wie ein Schneeball, dachte sie. Ein hüpfender Schneeball.
Der Hund bellte ein paar Kinder an, die vorbei rannten und sich lachend mit Schnee bewarfen.
Ihr Blick folgte der Straße und verlor sich zwischen den mit Lichtern geschmückten Fenstern.
Ihr eigenes Fenster hatte keine Lichter. Das ist Kitsch, sagte er immer. Das gelbe T-Shirt und ein blauer Schal - seine einzigen Farben im Alltagsgrau. Keine Lichter, bloß nicht. Er wollte auch keinen Weihnachtsbaum. Zu viel Arbeit, und außerdem, was wollen wir mit einem Baum in der kleinen Wohnung, sagte er.
Sie dachte an den großen Baum im Einkaufszentrum. Rote Kugeln wären toll, dachte sie.
Die würden zu den Vorhängen passen. Rote Kugeln und ein Stern auf der Spitze.
Sie fing an zu frieren und ging wieder nach drinnen. Eine halbe Stunde ganzer Winter.
Mit einem letzten Blick auf die Uhr ging sie in den Flur und nahm ihren Mantel von der Garderobe.
Sie verließ die Wohnung und betrat das alte Treppenhaus. Es war dunkel und sie musste aufpassen, auf den glatten, abgetretenen Holzstufen nicht auszurutschen.
Einige Mieter hatten geschmückte Kränze an ihre Türen gehängt, es roch im ganzen Treppenhaus ein bisschen nach Tannennadeln. Ein bisschen Weihnachten, dachte sie, während sie die Stufen zum Erdgeschoss hinabstieg.
Schließlich erreichte sie die Tür. Das Metall der Türklinke war kalt und sie zog ihre Handschuhe an, bevor sie nach draußen ging.
Sie erinnerte sich an einen Tag im vergangenen Winter. Er war nach Hause gekommen und hatte ihr die Handschuhe gegeben. Hier, hatte er gesagt, für dich. Damit du keine kalten Hände bekommst, wenn wir in die Stadt gehen. Es waren dunkelblaue Wildlederhandschuhe.
In die Stadt? Hatte sie gefragt und dabei ihren Mantel angezogen. Ja, in die Stadt. Wir gehen auf den Weihnachtsmarkt.
Sie hatte nicht geantwortet und sich still gefragt, was es dieses Mal war.
Ob er sie betrogen hatte, an einem anderen Tag, als er spät nach Hause kam.
Ob er die Kette aus seinem Nachttisch einer anderen Frau geschenkt hatte.
Ihren Geburtstag hatte er nicht vergessen.
Aber sie fragte ihn nicht. Stattdessen hatte sie ihre Handschuhe angezogen und ihre Handtasche aus dem Schrank genommen. Sie war dunkelblau, ein Geschenk von ihm.
Jetzt hatte sie keine Handtasche dabei. Sie überquerte die Straße und ging durch das große Tor zum Park. Inzwischen war es dunkel geworden. Die Lichter der Stadt schimmerten durch die kahlen Bäume zu ihr hinüber.
Es hatte aufgehört zu schneien. Der Schneeball war auch verschwunden, bis auf ein paar Leute am anderen Ufer des Teiches war der Park unbelebt.
Sie folgte dem Weg am Wasser entlang und stellte sich vor, wie sie im Sommer auf der Wiese gelegen hatten. Mit ihrer roten Picknickdecke und seinem gelben T-Shirt. Sie lagen in der Sonne und hielten ihre Füße in den Teich, wenn es ihnen zu heiß wurde.
Jetzt war das Wasser kalt, vielleicht würde es sogar zufrieren. Dann werden Kinder hier sein, dachte sie. Als Kind war sie auch immer Schlittschuh gelaufen.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und ihre Schritte hinterließen eine Spur im unberührten Weiß. Sie blieb stehen und betrachtete ihre Fußstapfen. Dann hüpfte sie auf einem Bein, hüpfte einen Kreis und blieb wieder stehen, um vergnügt lächelnd ihr Werk zu betrachten. Sie wäre kindisch, sagte er oft, doch er lächelte dabei.
An jenem Tag im vergangenen Winter hatte er ihr einen Zuckerapfel gekauft. Er war rund, knallrot und glänzend gewesen, wie eine Weihnachtskugel. Kitsch zum essen, dachte sie.
Sie umrundete den Teich und als sie am Tor ankam, fing es wieder an zu schneien.
Große, weiche Flocken. Sind Schneeflocken auch Kitsch? Dachte sie.
Vor dem Tor blieb sie stehen und sah zu ihrer Wohnung hinauf. Keine Lichter.
Auch das Wohnzimmer war dunkel, er war also immernoch nicht da. Sie ging über die Straße und schloss die Haustür auf. Langsam stieg sie die knarrenden Stufen hinauf in den dritten Stock. Ein Kranz an der Tür wäre auch schön, dachte sie, bevor sie die Wohnung betrat und ihre Handschuhe auszog. Sie gähnte. Die kalte Luft hatte sie müde gemacht.
Sie legte ihren Mantel ab, ging ins Schlafzimmer und zog sich um.
Als er eine Stunde später nach Hause kam, lag sie bereits im Bett. Er setzte sich neben sie und gab ihr einen Kuss. Es hat geschneit, sagte er und strich ihr durchs Haar.
Wirklich? Fragte sie. Das habe ich gar nicht mitbekommen.

 

meine erste geschichte hier :)
war mir nicht ganz sicher bei der rubrik, vllt wäre weihnachten auch gut gewesen. naja, freu mich über eure meinungen/kritik/anregungen :)
liebe grüße
stacybell

 

Hej stacybell92,

herzlich willkommen hier!

Eine kleine Geschichte, die mir gut gefällt. Eher winter- als weihnachtlich.

Was ich so beim Drüberlesen gedacht habe:

Sie sah aus dem Fenster. Es war ein hellgrauer Tag, mit dichten Wolken und blindem Licht.
Hab mich gefragt, ob Du das nicht weglassen oder später einbauen könntest.

Spatzen sind neugierig, dachte sie. Sie wissen, wieso ich nicht dort draußen bin.
Widerspricht sich das nicht, Neugierde und Wissen?

Der Himmel war kalt und grau
Grau ja, aber kalt? Licht kann kalt sein, aber der Himmel?

Er wollte seit zwei Stunden da sein. Er war es nicht.
Dass er nicht da ist, sagst Du schon im ersten Satz.

Sie zählte Sieben braune Punkte
Sieben klein.

In der Stadt war es auch nicht still, wenn Schnee fiel.
Irrtum. Der lärmtechnische Unterschied ist gewaltig.

Hund spazieren. Es war ein kleiner, quirliger Hund, mit weißem Fell. Wie ein Schneeball, dachte sie. Ein hüpfender Schneeball.
Der Hund bellte ein paar Kinder an, die vorbei rannten und sich lachend mit Schnee bewarfen.
Solche Wortwiederholungen hast Du öfter, vielleicht kannst Du da etwas streichen oder andere Wörter finden.

Sie dachte an den großen Baum im Einkaufszentrum. Rote Kugeln wären toll, dachte sie.

es roch im ganzen Treppenhaus ein bisschen nach Tannennadeln. Ein bisschen Weihnachten, dachte sie

er war also immernoch
fehlt 'n Leerzeichen, in diesem Fall würde es aber gut passen, so ein zusammengeschobenes, ungeduldiges "immernoch".

Sind Schneeflocken auch Kitsch? Dachte sie.
Wirklich? Fragte sie.
So betonst Du die jeweilige Handlung ihres Denkens und Fragens, wirkt auf mich etwas komisch.

Viele Grüße
Ane

 

Dankeschön für deine Kritik, und freut mich, dass die Geschichte dir gefällt.
Hatte sie mal im Deutschunterricht vorgestellt und analysieren lassen, und dabei kamen tatsächlich mehr oder weniger dieselben Kritikpunkte raus. Besonders die Wiederholungen, wobei ich die an manchen Stellen auch bewusst eingebaut habe (z.B. bei der zitierten Stelle mit dem Hund, Schneeball, ein bisschen).

liebe Grüße
stacybell

 

Hallo stacybell92!

Ich finde, dass das eine tolle Geschichte ist.
Der Text hat sehr viele und schöne Metaphern. z.B.:>>Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und ihre Schritte hinterließen eine Spur im unberührten Weiß.<<
Ich habe festgestellt, dass im Text einige Wiederholungen darin sind. Ist das mit Absicht? Wenn ja, dann hast du für die Wiederholungen ein gutes timing. Ist dein eigener Stil - find ich klasse. Das macht eine gute Schreiberin aus.
Weiter so.

Ich wünsche dir für dein weiteres Schreiben viel Glück und viel Erfolg.

Grüße
Argus

 

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