Der erste schöne Tag
Stephanies Mundwinkel ärgern mich. Stephanies Geruch ärgert mich auch aber nicht so sehr wie ihre Mundwinkel. Es stehen alle Zeichen auf Aufgeben und Untergehen. So sitzt sie mir gegenüber am weißen Tisch der Oberstufencafeteria. Das Gesicht mit dem breiten Kiefer und den kleinen, blassgrünen Augen nach links gewendet. Sie redet mit Mara. Hinter meinem Stuhl steht Lars. „Sitz hin!“ sage ich. Er ist riesig. Im Sitzen. Ich pule die Erdnüsse aus Maras Studentenfutter und lasse sie in seine großen, rosa Hände fallen. Er hasst es, wenn ich ihn wie einen Hund behandle. Manchmal kann ich es nicht lassen. Ich selbst esse nur die Cranberries, Rosinen und Walnüsse. Es reden alle durcheinander. Ihre Köpfe und Hände schwenken und ich lächle und schwenke meine Hände und rede und kichere. Es ist alles überhaupt nicht wichtig und doch schön. Ich schaue flüchtig durch die Glaswand der Cafeteria. Steinplatten und das ehemalige Rauchereck, dahinter die Stadt in der Sonne. Es ist fast eine Frühlingssonne. Der erste schöne Tag. Ein Tag an dem ich mich in jeden verlieben könnte. Ein Tag an dem ich es schön finde dumme Geschichten zu erzählen, mich über fremde Mundwinkel zu ärgern und den Anderen in ihrem Geplapper zuzuhören.
Schwimmunterricht am Nachmittag. Die besseren Schwimmer sollen den Schlechteren beim Verbesser ihres Kraulstils helfen. Ich tauche auf. Tobi fragt mich ob ich ihm zusehe und helfe. „Du darfst aber nicht zu viel erwarten, ich kanns nich so besonders gut“ sagt er, während er sich seine Brille über den Kopf zieht und zurechtrückt. Ich nicke, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Ich mag ihn. Er springt und taucht ein. Ich laufe neben der Bahn entlang während er schwimmt. Sein Stil ist eher mühevoll. Die Bewegungen stimmen. Er schwankt zu stark, liegt nicht gut im Wasser. Wenig Eleganz. Er ist groß, größer als ich, dunkle Haare, braune Augen, blasse Haut. Sein Aussehen ist vollständig dunkelblau. Nicht wie Nachthimmel, eher wie ein Bartschatten oder Blut unter der Haut.
Seine Bahn verläuft ganz hinten, parallel zur Glaswand. Geradeaus gibt es einen Liegebereich und ein Kiosk. Ich mag die Schwimmbadluft. Die Wärme und den Chlorgeruch. Er ist am Ende, taucht auf. Ich rutsche ins Wasser. Einerseits um auf gleicher Höhe zu sein, andererseits um weniger zu frieren. Außerdem will ich nicht, dass alle meinen Körper zu genau sehen können. Ich finde mich zwar schön, aber deshalb muss ich ja nicht gleich vor allen im hautengen, nassen, schwarzen Badeanzug dastehen. Nur unsere Köpfe kommen aus dem Wasser. Ich übe Kritik. Er versteht nicht was ich meine. Er versteht es schon, was er falsch macht aber er weiß nicht wie er es richtig machen muss. Ich bin hilflos ich weiß es nämlich auch nicht.
Beim Schwimmen tue ich zwei Dinge. Ich schiebe das Wasser weg und strecke mich so weit wie möglich nach vorne. Ich bin langsam, nicht unbedingt ausdauernd, aber elegant im Wasser. Ehrgeizig bin ich nicht.
Manche denken sie würden leiden. Stephanie hat heute morgen fast geweint weil sie ihren besten Freund zu zynisch findet. Sie hat recht. Er ist zynisch und selbstverliebt und süchtig nach Anerkennung. Ist doch egal. Dafür ist Steph weinerlich und deprimiert und kindlich. Und ich bin egoistisch, verständnislos und verplant. Ich verstehe nicht was das Problem sein soll. Deswegen sind wir auch nicht schlechter als Andere. Das Leben sollte einfach mal ein bisschen weniger dramatisiert werden. Das Leben ist nicht dramatisch. Es ist kalt, heiß, grausam und birgt unvorstellbare Qualen. Es macht dich so glücklich und zerstört dich in der selben Minute. Das alles zwischen Kaffeebechern zum Mitnehmen und Leuchtbuchstaben, Sternbildern, Marmorfußböden und Flugzeugträgern. Der Taubendreck auf dem Gehweg und die Kreuzung am Ende der Straße. Wenn ich das alles so ansehe bin ich unendlich glücklich. Die größte Faszination ist das Gesamtbild. Weil es nur durch die Erschaffung von Millionen von Teilen und das Aneinanderreihen, Übereinanderstapeln, Aufeinander häufen und Ineinander verstecken dieser Teile möglich ist. Und das macht uns zu Menschen. Weil wir das Drama erfunden haben, obwohl das Leben viel zu echt ist um dramatisch zu sein.