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Der erste Morgen
Seine Mutter hatte die Kleidungsstücke bereits herausgehängt als er aus der Dusche kam. Hemd, Schlips, Bankerklamotten eben. Beim Frühstück alles wie auch zu Schulzeiten. Er löffelte sein Ei und las die Zeitung. Nur diesmal auch den Wirtschaftsteil. Falls jemand etwas fragte, wollte er nicht desinteressiert erscheinen.
Seine Mutter bekundete abermals ihren Stolz darüber, dass er der einzige aus dem Ort sei, der es geschafft habe, dort unterzukommen. Marvin und Gerrith hätten immer noch keine Lehrstelle gefunden. Und Sarahs Mutter sei so sicher gewesen, dass ihre Tochter genommen würde, wegen des Großvaters, der bei der Deutschen Bank jahrelang Geschäftsstellenleiter gewesen war. „Und du hast sie alle ausgestochen.“ „Ach Mama“, antwortete er. Er mochte derlei Reden nicht, denn er war keineswegs so zufrieden, wie es seine Eltern waren.
Er wollte die Stelle. Das ja. Unbedingt wollte er sie haben. Fast zwei Jahre hat er dafür geschuftet. Jeden Eignungstest, den er in die Finger bekam, hat er rauf und runter, vor- und rückwärts gerechnet. Adenauer, Erhardt, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder. Was jemals in einem Test gefragt wurde, wusste er auswendig. Er hatte Dreiecke verschoben und Analogien gebildet. Er überließ nichts dem Zufall. Und es zahlte sich aus. Der Personalchef sagte, von über Tausend Bewerbern sei er als erster durchs Ziel gegangen. Er bekam seine Zusage noch im Vorstellungsgespräch. Man habe seine verbalen Unzulänglichkeiten zwar erkannt, schiebe es aber auf die Nervosität. Das war sein Glück. Von alledem wussten seine Eltern nichts.
Auch nichts davon, dass noch ein anderer genommen wurde, den er von seiner Schule kannte. Und das eben hatte ihm alle Freude auf die Ausbildungsstelle verdorben. Er hasste diese lockeren Typen. Man erkennt sie sofort an ihrem Mut zu ausgefallenen Frisuren. Und vor allem an ihrem Umgang mit Mädchen. Er konnte sich nicht erinnern, dass der andere jemals ohne Freundin gewesen sei. Selbst mit seiner Jana war er über ein Schuljahr zusammen. Er hingegen traute sich nicht mal, sie anzusprechen. Und dann saßen sie gemeinsam im Vorstellungsgespräch. Lediglich aufgrund seiner eigentümlichen und einfallsreichen Bewerbung habe man ihn soweit kommen lassen. Man habe Interesse gehabt, ihn kennen zu lernen, diesen Dennis Maibaum, obwohl sein Test eher durchwachsen ausfiel. Und man lernte ihn kennen. Die Kandidaten bekamen Handzettel und sollten improvisieren. Und Dennis tat, was er immer tat: Gut ankommen.
Daran erinnerte ihn nun der Lobgesang seiner Mutter. Überpünktlich stieg er ins Auto und machte sich auf den Weg zu seinem ersten Arbeitstag. Doch er blieb unruhig. Dieser Dennis würde immer glänzen. Auch wenn man selbst seine Arbeit immer hundertprozentig erledige: Ginge es irgendwann um eine Beförderung, käme Maibaum hereinspaziert und ließe die Entscheidung in Windeseile zu seinem Gunsten ausfallen. Er wäre immer uneinholbar voraus und irgendwann, wenn er beginnt, seine Arbeit auch noch gut zu machen, hält ihn nichts mehr, dann ist der Weg frei bis an die Spitze.
Er könnte schuften wie er wollte, im Licht stünden andere. Und wie viele Maibaums würde man noch nach ihm einstellen und alle würden sie ihn schon bald überrundet haben. Diese Gedanken waren ihm unerträglich. Er fuhr von der Landstraße ab und bog in einen Feldweg. Die Ausbildung war ein Fehler. Er hatte ein Einser-Abi, damit könnte er alles studieren. Wie kam er bloß auf den Trichter, Banker zu werden. Als Kind sammelte er Münzen und ging immer zur Sparkasse, wenn neue Gedenkmünzen herauskamen. Als seine Oma ihn seinerzeit fragte, wo er denn mal arbeiten wolle, gab er spontan zur Antwort: "In einer Bank." Sein altkluger Cousin, der zugegen und ebenfalls Enkel seiner Oma war, begann darüber zu lachen. Er verstand dieses Lachen sofort. Schmerzhaft in Erinnerung blieben jedoch die gut gemeinten Ratschläge einem Kinde gegenüber, das man vor künftigen Enttäuschungen schützen will. Sein Cousin wurde schon deutlicher. „Mit seinen Noten kommt er nicht mal auf die Realschule, geschweige denn aufs Gymnasium.“ Heute hatte er Abi und sein Cousin nicht. Aber es war Arbeit, all die Jahre. Und nun, wo er es geschafft hatte, wo er am Ziel war, sah er, dass es nicht ausreichte.
Er stieg aus dem Auto, lehnte sich an die Motorhaube. Er fühlte sich wie damals bei seiner Oma. Nur war nicht mehr der Cousin der Konkurrent, sondern der Maibaum. Damals fällte er eine Entscheidung und hielt es durch. Nun war es Zeit, eine neue Entscheidung zu treffen. Er wollte kein Malocher bleiben, er wollte auch durch seinen Charme bestechen, in einen Raum kommen und alle für sich einnehmen, Humor und Flair haben. Die Grundbildung sitzt, jetzt ist es Zeit an der Persönlichkeit zu arbeiten; unsinnig, die guten Jahre an die Bank zu verschwenden. Er schnürte seine Krawatte los und warf sie weg.
Siege im Vorbeigehen, das war nun sein Ziel, daran musste man arbeiten, das tägliche Einerlei kann jeder erledigen. Er hatte sich für Psychologie beworben. Nicht um es zu studieren. Nein nur, weil er wusste, dass einige Schulkameraden es gerne studieren würden, ihr Notendurchschnitt aber nicht reicht. Vielleicht sollte er doch annehmen und im Oktober mit einem Studium beginnen.
Diese Gedanken beruhigten ihn. Er rollte den Fahrersitz zurück und schloss die Augen. Vom Verkehrsfunk im Radio erwachte er. Es war kurz nach acht. Die anderen saßen jetzt beim Personalchef und besprachen ihren Ausbildungsplan. Er war froh, nicht dort zu sein. Die Entscheidung war gefallen. Zu groß war auch der Respekt vor den Verhaltensweisen, die man dort an den Tag zu legen hatte. Er besaß einfach keine Etikette. Im Oktober würde er mit dem Studium beginnen. Doch noch war August. Er versuchte, erneut einzuschlafen. Er konnte nicht. Nach Hause fahren wollte er nicht.
„Warum nicht“, dachte er plötzlich. „Du willst locker werden, deine Persönlichkeit bilden? Mit der richtigen Einstellung ist es doch die optimale Gelegenheit.“ Für die Verspätung würde ihm schon eine Begründung einfallen. Die ersten Wochen einfach mitmachen und sich im nachhinein ein Praktikum bescheinigen lassen. Außerdem gibt's Geld. Man muss seine Entscheidung ja nicht gleich allen auf die Nase binden.
Gegen halb zehn traf er ein. Mit offenem Kragen.