Der erste Korb
Selten haben meine Hände so geschwitzt. Ich hielt das bisher immer für einen Zeichntrick-Gag, auf einer Ebene mit Tortenschlachten und ähnlichen Kindskram, aber es ist tatsächlich wahr. Den ganzen Tag, was sag ich, seit Anfang der Woche hatte ich mich gedrückt. Zurückgezogen in mein stilles Kämmerlein. Nur das Mausgeklicke meiner Mutter bei Solitär durchbrach für 1 oder 2 Stunden die Ruhe. Selten hatte sie mit ihrem Spruch „Versteck dich nicht in deinem stillen Kämmerlein“ so recht. Aber um nachzudenken muss ich liegen. Und das ließ sich eben am Besten auf dem Bett ausüben.
Also ließ ich meine Gedanken schweifen, dachte an jenen Tag kurz nach Silvester 2000 als sie mich besuchen kam. Selbstredend nicht alleine. Ihre Schwester, ihre Freundin und mein Kumpel, der zugleich mit ihr um ein paar Ecken Verwandt ist, versammelten sich in meinem Zimmer. Schon an Silvester selbst, als eine alte Freundin bei mir übernachtete, sie heißt Nicole, gab es ein ähnliches Bild. Auch damals leitete Jens, mein Kumpel, alles in die Wege. Aber das störte mich nur gering, denn in meinen Träumen schweifte ich sowieso an entlegene Orte ab; natürlich mit Ihr... Vielleicht sollte man mit 14 Jahren nicht mehr soviel träumen, aber in Traumwelten fühlte ich mich am wohlsten.
Damals hatte sich alles in die Wege geleitet. Jedenfalls war es, glaube ich, der 3. Januar. Ja, das kommt hin. Die Giessener hatten ein Auswärtsspiel gegen Frankfurt, welches nur 45 Minuten entfernt liegt. Natürlich hatte ich Karten! Mein Cousin sollte mich also um 18:00 abholen. Er ist ein Basketball-Freak und freute sich schon am 2. Weihnachtsfeiertag, als die Familie groß essen ging, wie ein Kind auf dieses Revierderby. An diesem 3. Januar ausgerechnet, waren sie also alle bei mir. Einige zockten am Nintendo 64, doch ich bevorzugte es Ihr die tiefen Spielzüge eines uralten Labyrinth Spiels aus den 80ern am Computer nahe zu bringen. Immer wieder berührten sich unsere Schenkel, Hände oder Füße. Doch der Traum zerplatzte rasch, als mich meine Mutter an das Basketballspiel erinnerte. Und was dann kam, werde ich nie vergessen. Es stellte die Weichen. Diese Fünf oder Drei oder Zwei Minuten sollten bis heute richtungsweisend sein. Sie fragte mich ob sie mit dürfe! Sie fragte MICH; dass war in meinem damaligen Leben ein absolutes Novum gewesen. Mit Mädchen hatte ich bis dato leider soviel zu tun, wie sie mit Jungen: Fast nichts. Bei ihr lag das allerdings an den misstrauischen Eltern, die nur mir und meinem Kumpel vertrauten. Meine Wenigkeit war schüchtern, unattraktiv und auch ansonsten für Mädchen vollkommen uninteressant. Meine folgenden Worte jedenfalls, kann man als Zitat ansehen. Mir schwirrten sie noch Wochen danach im Kopf herum: „Nein Isa, das geht natürlich nicht! Oder denkst du, dass in der Jahrhunderthalle für eine wie dich Platz ist?“
Autsch, das muss gesessen haben. „...für eine wie dich...“ empfand ich besonders schlimm. Was in den Minuten danach kam könnte ich zu meiner eigenen Schockierung nicht wiedergeben, selbst wenn ich es wollte. Jedenfalls fuhren wir dann wohl irgendwann in die Jahrhundert Halle zu Frankfurt. Von außen her schien sie mir pompös und unbezwingbar, vielleicht in etwa so wie der Betzenberg zu Kaiserslautern. Doch was mich in der Halle erwartete machte alles für mich nur noch schlimmer. Die Halle war leer. Sie war quasi leer! Später erfuhr ich, dass Frankfurt ein Retortenclub ist, der vor der Saison die Lizenz für die Ligateilnahme erkauft hatte und nicht erst durch die Zweite Liga musste. Daher blieben Fans noch fast vollkommen aus. Noch schockierender war, dass es überhaupt kein Problem gewesen wäre noch eine weitere Karte zu bekommen. Denn auch wir mussten kurz vor Spielbeginn noch Karten kaufen, weil mein Cousin irgendwelche Schwierigkeiten hatte frühzeitig an sie heranzukommen.
Doch mit den ersten Monaten des Jahres 2000 fand ich mich damit ab, die vielleicht einzige Chance bei ihr zu landen nicht genutzt zu haben. Und nun liege ich hier in meinem Bett, meine Mutter hat endlich den PC verlassen und meine Gedanken finden ihren Weg in die Realität zurück. Mittlerweile haben wir November. Das Revierderby Giessen-Frankfurt steht wieder an. Frankfurt spielt in seiner zweiten Saison auf unterem Niveau und unsere Siegchancen standen gut. Meine Cousine und ihr Freund hatten in der Saison Dauerkarten, doch „leider“ waren sie verhindert. Prompt boten sie mir die Karten an. Und nun hatte ich ein Problem. Wir waren im Sommer des gleichen Jahres in ein Dorf in der nähe unserer Stadt gezogen, weshalb ich Isabella mehr oder weniger kein einziges mal mehr sehen konnte. Die Idee lag also auf der Hand: Ich musste sie einladen. Was tun, ist die Frage, die ich mir permanent stellen muss, seitdem sich mir diese Gelegenheit bot. Die Nummer wusste ich noch auswendig, sie war idiotensicher. Doch wollte ich das wirklich, wollte ich nicht viel, viel lieber in meinen Träumen und Phantasien bei ihr sein? Würden die Phantasien bei einer Absage platzen? Könnte ich eine Absage überhaupt verkraften? Auf der anderen Seite würde ich es mir nie verzeihen, wenn ich diese Chance ungenutzt lassen würde. Dies ist in meinem Kopf dann immer der Zeitpunkt, an dem die Phantasien anfangen. In der Halbzeit sie zur Cola einladen, im Foyer Smalltalk führen und dann... Ach, wäre das schön.
Ich sah meine Beine sich langsam aufrichten. Es war Mittwoch, Samstag sollte das Spiel laufen. Höchste Zeit anzurufen. „Willkommen in der Gegenwart, Sohnemann“, grinste mir meine Mutter entgegen. Auch heute saß sie wieder vorm Computer und spielt ihr dämliches Kartenspiel. Klick, Klick – Klick. Ohne etwas zu sagen ging ich in Richtung Telefon. Wie war noch mal die Nummer? Sie ist doch idiotensicher. Vielleicht ist man als Verliebter mehr als ein Idiot? Idiot Hoch 2. Ich musste kichern. Plötzlich fiel sie mir wieder ein. 10 Ziffern und eine handvoll Klingeltöne später würde sie an den Apparat gehen. Mein Sprüchlein hatte ich in den letzten 48 Stunden fast auswendig gelernt. Hallo, hier ist der Sebastian Friedmann, könnte ich bitte mit der Isabella sprechen. In der näheren Auswahl stand auch Hallo, hier ist der Sebastian, ist die Isabella da und Hi, ich bins, der Sebastian, kann ich mit der Isa sprechen.
Nach 5mal läuten wurde der Hörer abgenommen. „Mangold?“, sagte eine weibliche Stimme am anderen Ende, 8 Kilometer von mir entfernt. Dies hätte die Mutter, die Schwester oder auch Isa selbst sein können. „Hallo, hier ist der Sebastian Friedmann, könnte ich bitte mit der Isabella sprechen?“. Es war gesagt, die Einleitung war gefunden. Viele meiner Klassenkameraden behaupten, dass schwerste an einer Erzählung sei die Einleitung. Ich allerdings behaupte, der Hauptteil hat wesentlich mehr Tücken aufzuweisen. Man kann ihn sich nicht einfach aufschreiben oder auswendig lernen!
„Ich bin am Telefon“, antwortete sie. Noch so eine Geschichte. Immer wieder peinlich nach jemandem zu Fragen, wenn dieser Jemand schon selbst am Telefon ist. Besonders, wenn man die Stimme 5 Jahre lang fast jeden Tag gehört hat! Fast jeden Tag...
„Also Isa, ich wollte dich Fragen ob -. Du hattest doch vor ca. einem Jahr, kurz nach Silvester oder so, gefragt, ob du mit zu einem Basketballspiel gehen darfst. Ich sagte damals >Nein<, doch jetzt ginge es wieder“. Unheimlich in welcher Geschwindigkeit man so was sagen kann. Dabei hatte ich mir geschworen, langsam und deutlich zu sprechen. Dennoch setzte ich (bevor sie antworten konnte) hinterher: „Es ist diesen Samstag“.
Es war geschafft! Ich wusste, ich hatte meinen Teil getan. Zum einen war ich erleichtert, wie ein Bergsteiger, der gerade den Mount Everest erklommen hat. Zum anderen musste ich sofort wieder an den beschwerlichen Abstieg denken: Ihre Antwort!
„Tut mir Leid, das geht nicht“. Eine Welt brach für mich zusammen. Alle Taktiken, Redewendungen, Einleitungen und Metaphern vergessend, setzte ich unmittelbar hinterher: „Warum denn nicht?“. Ich war beim Abstieg ins stolpern geraten und gerade dabei, in einen tiefen Abgrund zu stürzen. Das einzige was mich hätte retten können, wäre ein plausible Antwort gewesen: „Darum“.
Darum! Einfach nur darum! Das Seil war gerissen und ich auf den Boden der Tatsachen zurück gefallen. Irgendwie hatte ich „Daran kann man nichts machen, wiedersehen.“ herausgebracht. Eher herausgedrückt, denn mein erster Gedanke war zorniger, schmutziger.
„Tschüss“, erwiderte sie. Tschüss! Pff...sollte sie doch machen was sie wollte. Leck mich am Arsch.
Der Zorn hielt vielleicht zehn Sekunden an. Danach fiel ich in eine 2tägige Trauer. Eine tiefe Wunde blieb zurück: Mein erster Korb. Allerdings war es eben doch nur ein Wunde, die glücklicherweise wieder verheilte.
Darum!
Tschüss...