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Der Erkenntnishascher
Der Erkenntnishascher
oder: Verwaschene Bilder
Ich gebe zu: Es ist September, es ist kalt, saukalt, besonders so nahe am Wasser. Die Badesaison ist definitiv beendet, die letzten Gäste sind schon vor Wochen verschwunden, der Strand verlassen.
Nasse Kälte kriecht meinen Rücken hinauf. Eiskaltes Wasser leckt durch Schuhe und Hose nach mir. Ich zittere, liege rücklings am verlassenen Sandstrand, die Kleidung durchnässt, und starre in den tristen Himmel. Gebe sicherlich ein seltsames Bild ab.
Nur zwei, drei Wochen ausspannen. Einfach auf „Pause“ drücken: Auszeit. Die herrlich salzige Luft genießen, den Sommer an der See verbringen, das erschien mir der einzige Ausweg aus meiner damaligen Sinnkrise. Ich kam mit den Arbeiten an meinem Roman einfach nicht voran, der Verlag drängte, noch dies zu tun, das zu tun, alles wuchs mir über den Kopf. Kurzentschlossen nahm ich Reißaus.
Wunderschön, diese herbe Freundlichkeit der Menschen, diese Landschaft, das Meer.
Es hat, erkannte ich, kiffend am abgelegenen Strand sitzend, seinen eigenen Rhythmus. Ist an sich eine, nein, die Weisheit. Nannte es damals, etwas schwammig, das „Meerprinzip“, und verbrachte meine Tage in einer wunderbar unbeschwerten Zeitblase - bis mich ein wildes Tier anfiel und sie binnen Sekunden zerriss. Irgendwas musste diesen Möchtegern-Zerberus an meinem Versinken in Erkenntnis - oder meinem Gras - gestört haben: Ich lag mit geschlossenen Augen da, dem Rauschen zuhörend, in Gedanken versunken, als mich dieser riesige schwarze Mischlingshund anfiel.
Er schnappte nach mir, halb spielerisch, halb bedrohlich, und ich suhlte mich kreischend mit ihm im Sand, zu Tode erschrocken.
Schließlich biss er wirklich zu.
Sein Frauchen kam herbeigelaufen, endlich hörte dieser blutrünstige Köter wieder auf sie und ließ von mir ab. „Mein Gott, hat Buddha dich verletzt?“ waren ihre ersten Worte. Sie waren glücklicher gewählt als meine: ich lachte auf, sah endlich die blutende, sandverdreckte Stelle an meiner Hand – ich hätte dem Vieh die Tüte vielleicht doch besser kampflos überlassen sollen – und hielt es für angebracht – guter, guter Stoff! – festzustellen:
„Oh Scheiße, das Chi verlässt meinen Körper.“
Ich lachte über ihren Vorschlag, mich ins Krankenhaus zu bringen, doch erkannte gleichzeitig, dass ich immer mehr Lebensenergie verlor und nur an ihrer Seite vor weiteren Attacken ihrer Drogenhundbestie sicher wäre.
Sieben Stiche hielten mein Chi bei mir. Dazu diese undefinierbaren Blicke nordisch–provinziellen Krankenhauspersonals. Das Hundefrauchen bemühte sich rührend um mich, machte allen Zweiflern klar, mein ständiges Lachen sei einzig und allein auf mein sonniges Gemüt zurückzuführen.
Wir waren uns schon auf dem Hinweg sympathisch, jedoch verhinderte auf dem Rückweg das von meiner Hand aus in den Körper schwärmende Narkotikum ein sinnvolles Gespräch. Ich weiß bis heute nicht genau, was ich ihr erzählt habe. Allzu abschreckend war es anscheinend nicht, denn sie bestand darauf, mich am nächsten Tag mit einer Einladung zum Kaffee zu entschädigen. Ich nahm an.
Wir hatten eine wunderbare Zeit. Sie wollte nur eine Woche ausspannen, eine knappe Woche, genau wie ich für kurze Zeit alle Stränge zu Zwang und Alltag kappen.
Sie blieb länger. Wir teilten Geld, Gras und Unterkunft, teilten Nachmittage am Strand, teilten sogar die Erkenntnis des undefinierbaren, aber universalen und unfehlbaren Meerprinzips.
Wir waren fast so etwas wie die letzten Hippies. Vier Wochen Trance, Entrücktheit. Ich vergaß den Verlag, verkaufte schließlich sogar mein Auto, um länger bleiben zu können, denn sie hatte versprochen, mit mir hier zu bleiben, für immer.
Doch sie hatte gelogen.
Der Sommer verabschiedete sich langsam, sie aber war eines Morgens plötzlich verschwunden, hatte ihre Sachen heimlich gepackt, den Hund - eigentlich haben wir uns letztendlich gut verstanden - mitgenommen und war abgefahren. Sicherlich, ich füllte die See mit meinen Tränen, doch ich blieb.
Jeden Tag sitze ich am Strand und hoffe, dass Buddha wieder über mich herfallen, sie wieder zurück gekommen sein könnte. Schon nach einiger Zeit stellte sich eine gewisse Gleichgültigkeit ein. Warum noch trauern, dachte ich, du hast eigentlich nur verloren, was du kurz zuvor gewonnen hattest. Flüchtige Augenblicke. Sie kommen kaum wieder – nein, ich gebe sie nicht auf, halte sie innerlich fest. Konserviere sie in seltsam meditativem Zustand.
Meine Miete läuft aus, mein Gras geht zuende, Geld für neues habe ich nicht, gerade noch genug, um nicht zu verhungern. Nach Hause kann ich nicht, gänzlich ohne Auto und Kapital - egal.
Inzwischen habe ich wieder angefangen zu schreiben, etwas Neues, etwas wahrhaft Bedeutendes. Da bin ich mir sicher: sobald „Das Meerprinzip“ erscheint, wird es die Menschheit mehr prägen als Marx und Engels es je taten.
Nur wird diesmal der blutrote Mars schweigen, diese Weltrevolution wird einer immergrünen Aphrodite geweiht sein und Buddha. Dem echten.
Langsam wird es dunkel über der trüben, verschwommenen Spiegelfläche der See. Wenn ich weiterhin am Strand, dort wo Land und Meer verschmelzen, liegen bleibe, werde ich mich noch fürchterlich erkälten.
Noch einmal rudere ich mit den Armen, zeichne Muster in den nassen, kalten Sand, doch ihre Wirkung ist verflogen, nun, da ich sie alleine zeichnen muss. Das Wasser steigt, nun leckt es nicht mehr nur nach Schuhen und Hose, einige Wellen erreichen schon – fürchterlich kalt – den Rücken, sogar meine Unterhose – abscheulich kalt! – wird von einer besonders großen Brandung erwischt.
Zeit zu gehen. Ich raffe mich auf, unterkühlt, durchnässt und besandet. Die nächste Welle bricht sich an meinen Füßen und wischt meine Zeichnungen aus, lange starre ich ihr auf das offene Meer hinaus hinterher.
Nichts erinnert mehr an unsere gemeinsamen, fast ekstatischen Bilder, fällt mir zitternd auf.
Es scheint fast so, als habe ich eine weitere Ebene des Meerprinzips verstanden.