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Der Erkenntnishascher

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06.02.2002
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Der Erkenntnishascher

Der Erkenntnishascher
oder: Verwaschene Bilder

Ich gebe zu: Es ist September, es ist kalt, saukalt, besonders so nahe am Wasser. Die Badesaison ist definitiv beendet, die letzten Gäste sind schon vor Wochen verschwunden, der Strand verlassen.
Nasse Kälte kriecht meinen Rücken hinauf. Eiskaltes Wasser leckt durch Schuhe und Hose nach mir. Ich zittere, liege rücklings am verlassenen Sandstrand, die Kleidung durchnässt, und starre in den tristen Himmel. Gebe sicherlich ein seltsames Bild ab.

Nur zwei, drei Wochen ausspannen. Einfach auf „Pause“ drücken: Auszeit. Die herrlich salzige Luft genießen, den Sommer an der See verbringen, das erschien mir der einzige Ausweg aus meiner damaligen Sinnkrise. Ich kam mit den Arbeiten an meinem Roman einfach nicht voran, der Verlag drängte, noch dies zu tun, das zu tun, alles wuchs mir über den Kopf. Kurzentschlossen nahm ich Reißaus.
Wunderschön, diese herbe Freundlichkeit der Menschen, diese Landschaft, das Meer.
Es hat, erkannte ich, kiffend am abgelegenen Strand sitzend, seinen eigenen Rhythmus. Ist an sich eine, nein, die Weisheit. Nannte es damals, etwas schwammig, das „Meerprinzip“, und verbrachte meine Tage in einer wunderbar unbeschwerten Zeitblase - bis mich ein wildes Tier anfiel und sie binnen Sekunden zerriss. Irgendwas musste diesen Möchtegern-Zerberus an meinem Versinken in Erkenntnis - oder meinem Gras - gestört haben: Ich lag mit geschlossenen Augen da, dem Rauschen zuhörend, in Gedanken versunken, als mich dieser riesige schwarze Mischlingshund anfiel.
Er schnappte nach mir, halb spielerisch, halb bedrohlich, und ich suhlte mich kreischend mit ihm im Sand, zu Tode erschrocken.
Schließlich biss er wirklich zu.
Sein Frauchen kam herbeigelaufen, endlich hörte dieser blutrünstige Köter wieder auf sie und ließ von mir ab. „Mein Gott, hat Buddha dich verletzt?“ waren ihre ersten Worte. Sie waren glücklicher gewählt als meine: ich lachte auf, sah endlich die blutende, sandverdreckte Stelle an meiner Hand – ich hätte dem Vieh die Tüte vielleicht doch besser kampflos überlassen sollen – und hielt es für angebracht – guter, guter Stoff! – festzustellen:
„Oh Scheiße, das Chi verlässt meinen Körper.“

Ich lachte über ihren Vorschlag, mich ins Krankenhaus zu bringen, doch erkannte gleichzeitig, dass ich immer mehr Lebensenergie verlor und nur an ihrer Seite vor weiteren Attacken ihrer Drogenhundbestie sicher wäre.
Sieben Stiche hielten mein Chi bei mir. Dazu diese undefinierbaren Blicke nordisch–provinziellen Krankenhauspersonals. Das Hundefrauchen bemühte sich rührend um mich, machte allen Zweiflern klar, mein ständiges Lachen sei einzig und allein auf mein sonniges Gemüt zurückzuführen.
Wir waren uns schon auf dem Hinweg sympathisch, jedoch verhinderte auf dem Rückweg das von meiner Hand aus in den Körper schwärmende Narkotikum ein sinnvolles Gespräch. Ich weiß bis heute nicht genau, was ich ihr erzählt habe. Allzu abschreckend war es anscheinend nicht, denn sie bestand darauf, mich am nächsten Tag mit einer Einladung zum Kaffee zu entschädigen. Ich nahm an.
Wir hatten eine wunderbare Zeit. Sie wollte nur eine Woche ausspannen, eine knappe Woche, genau wie ich für kurze Zeit alle Stränge zu Zwang und Alltag kappen.
Sie blieb länger. Wir teilten Geld, Gras und Unterkunft, teilten Nachmittage am Strand, teilten sogar die Erkenntnis des undefinierbaren, aber universalen und unfehlbaren Meerprinzips.
Wir waren fast so etwas wie die letzten Hippies. Vier Wochen Trance, Entrücktheit. Ich vergaß den Verlag, verkaufte schließlich sogar mein Auto, um länger bleiben zu können, denn sie hatte versprochen, mit mir hier zu bleiben, für immer.

Doch sie hatte gelogen.

Der Sommer verabschiedete sich langsam, sie aber war eines Morgens plötzlich verschwunden, hatte ihre Sachen heimlich gepackt, den Hund - eigentlich haben wir uns letztendlich gut verstanden - mitgenommen und war abgefahren. Sicherlich, ich füllte die See mit meinen Tränen, doch ich blieb.
Jeden Tag sitze ich am Strand und hoffe, dass Buddha wieder über mich herfallen, sie wieder zurück gekommen sein könnte. Schon nach einiger Zeit stellte sich eine gewisse Gleichgültigkeit ein. Warum noch trauern, dachte ich, du hast eigentlich nur verloren, was du kurz zuvor gewonnen hattest. Flüchtige Augenblicke. Sie kommen kaum wieder – nein, ich gebe sie nicht auf, halte sie innerlich fest. Konserviere sie in seltsam meditativem Zustand.

Meine Miete läuft aus, mein Gras geht zuende, Geld für neues habe ich nicht, gerade noch genug, um nicht zu verhungern. Nach Hause kann ich nicht, gänzlich ohne Auto und Kapital - egal.
Inzwischen habe ich wieder angefangen zu schreiben, etwas Neues, etwas wahrhaft Bedeutendes. Da bin ich mir sicher: sobald „Das Meerprinzip“ erscheint, wird es die Menschheit mehr prägen als Marx und Engels es je taten.
Nur wird diesmal der blutrote Mars schweigen, diese Weltrevolution wird einer immergrünen Aphrodite geweiht sein und Buddha. Dem echten.

Langsam wird es dunkel über der trüben, verschwommenen Spiegelfläche der See. Wenn ich weiterhin am Strand, dort wo Land und Meer verschmelzen, liegen bleibe, werde ich mich noch fürchterlich erkälten.
Noch einmal rudere ich mit den Armen, zeichne Muster in den nassen, kalten Sand, doch ihre Wirkung ist verflogen, nun, da ich sie alleine zeichnen muss. Das Wasser steigt, nun leckt es nicht mehr nur nach Schuhen und Hose, einige Wellen erreichen schon – fürchterlich kalt – den Rücken, sogar meine Unterhose – abscheulich kalt! – wird von einer besonders großen Brandung erwischt.
Zeit zu gehen. Ich raffe mich auf, unterkühlt, durchnässt und besandet. Die nächste Welle bricht sich an meinen Füßen und wischt meine Zeichnungen aus, lange starre ich ihr auf das offene Meer hinaus hinterher.
Nichts erinnert mehr an unsere gemeinsamen, fast ekstatischen Bilder, fällt mir zitternd auf.
Es scheint fast so, als habe ich eine weitere Ebene des Meerprinzips verstanden.

 

Hallo Paranova,

zum erstenmal lese ich was von dir. Leicht abgedreht, etwas philosophisch, viel Wehmut, teils romantisch. Schreiben kannst du. In der Story passiert nicht allzu viel, muss aber auch nicht. Sie lebt von den erinnerungen, bzw. der Gefühlswelt, das Empfinden und Interpretieren des Haupdarstellers. Sie vermittelt, also die Geschichte vermittelt, Sinneseindrücke. Es ist eine Episode. Es ist sehr gut gelungen. Ja!

Liebe Grüsse Stefan

 

Vielen Dank, Stefan.
Die Geschichte nahm am letztjährigen Allegra-Literaturwettberb ("Das Meerprinzip") teil.
Die Jury teilte deine Meinung leider nicht... naja, was soll´s.
Grüße,
Steffen

PS:
Weil irgendwelche Beiträge von mir verschwunden sind, ist das hier jetzt mein vierhundertster. Tata!
:anstoss:

 

Hallo Paranova,

ich bin gerade zufällig beim Blättern auf deine Geschichte gestoßen und mußte bei der Erwähnung des "Meerprinzips" sofort an den Allegra Wettbewerb denken. ;)

Ich halte die Beiträge für die Allegra-Wettbewerbe manchmal für leicht abgedreht auf einer bestimmten (vielleicht intellektuellen?) Ebene, jedenfalls gefiel mir bisher selten eine der Gewinnerstories (die Meer-Prinzip Gewinnerstory habe ich allerdings noch nicht gelesen).
Deine spricht mich sehr an. Spektakulär oder aufwühlend ist die Handlung zwar nicht, aber ich glaube, gerade das empfand ich als sehr wohltuend. Diese kleine, emotionale Verirrung während der Auszeit am Meeresstrand, die dann doch leider so endet wie viele andere emotionale Verirrungen, die Begegnung mit dem umwerfenden Buddha und die gewonnene Erkenntnis ist angenehmen zu lesen und läßt mich teilnehmen am "Meerprinzip". Ich fühlte mich vom zarten Sog dieser Story sanft hin- und hergschaukelt.

Besten Gruß!

Die Trainspotterin

 

Hallo Paranova,

eine eigen-artige, aber schöne Stimmung beschreibst Du in Deiner Geschichte. Der Protagonist befindet sich in einer besonderen geistigen Verfassung, man kann versuchen, das „Meerprinzip“ nachzufühlen... eine schöne Aufgabe!
Besonders interessant fand ich die Idee, dass der Protagonist nichts verloren hat, sondern eine Zeitlang (unerwartet) mehr hatte, als erträumt. Am Schluß bleibt ihm nur noch „Muster in den kalten, nassen Sand“ zu zeichnen, „doch ihre Wirkung ist verflogen“. Ein symbolträchtiges Bild von Vergänglichkeit, dem vergeblichen Versuch, Dinge festhalten zu wollen.

Vielleicht willst Du da noch `mal etwas ändern:

„die letzten Gäste“ sind „schon verschwunden“.
„Drogenhundebestie“ - Drogenhundbestie?
„alle Stränge von Zwang und Alltag kappen“ - Stränge zu Zwang? (Alle Verbindungen zu ...).
„dass Buddha über mich herfallen“ würde, „dass sie“ - `und sie` vermeidet zweimal `dass´.

„das Karma verläßt meinen Körper“ - das klingt so, als ob Du Karma mit Lebenskraft (?) gleichsetzt. Karma ist aber ein moralisches Gesetz „of cause and effect governing the future: bad actions lead to rebirth ...“ (zit. Nach M. Langley `Religions`, D.C: Cook Publ. Co. USA).

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Oh nein, mein Beitrag ist weg!
Ich danke euch halt nochmals für´s Lesen und dir, Woltochinon, für deine Anmerkungen.
Die Drogenhundbestie ist besser. Was hast du aber an den Gästen auszusetzen?
:confused:
Die Stränge... hm, ich bin unsicher. Hab es grade nicht gefunden, deshalb bleibt es erstmal :rolleyes:
Karma. Ja, falsches Wort. Protagonist ist aber bedröhnt und abgehoben. Es war schön... weißt du ein besseres für "Lebensenergie"? Wäre schön, wenn du mir da helfen könntest.
Liebe Grüße,
...para

 

Hallo Para,

dem Gelobe meiner Vorredner kann und will ich mich gerne anschließen, besonders jenem, der schrieb: "Schreiben kannst Du". No doubt about it.

Gruß
Bobo

PS: Ein Hund namens "Buddha" - köstlich!!

 

Hallo Paranova,

bei den „Gästen“ glaube ich, klingt es flüssiger, wenn man `sind` einsetzt (die letzten Gäste sind schon ...).
Bei Lebensenergie ist mir `Vitalität´ eingefallen, z.B. ´Oh Scheiße, das letzte bißchen Vitalität verläßt meinen Körper´.

Weiterhin viel Erfolg,

tschüß... Woltochinon

 

Wolto!
Ja, hm... sind... na gut. Auch die Stränge sind jetzt akzeptiert. Aber "Vitalität" ist mir nichts. Also ich könnte das einfach nicht aussprechen, wenn ich in der Lage des Protagonisten wäre...
:teach: :dope: :D
Ich danke dir.
...para

 

Hallo Paranova,

wenn Du im asiatischen Kontext bleiben willst, geht vielleicht `Chi´ (universelle chinesische Lebensenergie). Oder `Glückswolke´ (etwas übertrieben, denk´ ich).

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Es war mir eine EHRE und ein VERGNÜGEN !

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Paranova!

Eine eigenwillige Geschichte hast Du uns da aufgetischt, wo zwei Menschen durch eine Situation (das Anfallen des Hundes) zusammenfinden, in der andere eher Haßgefühle entwickeln. Eine gewisse Naivität des Protagonisten (Auto verkaufen...) spielt natürlich mit, aber daß die Frau ihn nur sozusagen verbraucht, ist auch nicht gerade fein. Aber das Meer schluckt alle negativen Gedanken Deines Protagonisten, verwäscht sie sozusagen, läßt ihn sogar Hoffnung für die Zukunft schöpfen. Dein Protagonist lebt mit dem Auf und Ab der Wellen, die kommen und gehn. So hab ich Dein „Meerprinzip“ zumindest verstanden.

Deine Geschichte hat mir jedenfalls sehr gut gefallen. :)

Nur ein paar Winzigkeiten noch:

»Ich gebe zu: es ist September, …«
– eigenständiger Satz nach dem Doppelpunkt: groß weiter. – zu: Es – und es sind noch zwei weitere solche Stellen, die Du aber selber findest ;)
– Was mir eigentlich nicht ganz klar ist: Wieso leitest Du diesen Satz mit „Ich gebe zu“ ein? Warum muß Dein Protagonist zugeben, daß es September und saukalt ist?

»Eiskaltes Wasser leckt durch meine Schuhe und Hose nach mir.«
– würde das „meine“ weglassen, dann hört es sich besser an, und daß es wohl die eigene Hose und die eigenen Schuhe sind, geht aus dem Zusammenhang hervor

»Möchtegern- Zerberus«
– ohne Leertaste: Möchtegern-Zerberus

»„Mein Gott, hat Buddha dich verletzt?“ waren ihre ersten Worte.«
– die Frage find ich voll gelungen :lol:, und alles was mich stört, ist eigentlich der fehlende Beistrich nach der direkten Rede. ;)

»„Oh Scheiße, das Chi verlässt meinen Körper.“«
– das Qi

»Blicke nordisch – provinziellen Krankenhauspersonals«
– ohne Leertasten: nordisch-provinziellen

»das von meiner Hand aus in den Körper ausschwärmende Narkotikum«
– würde das erste „aus“ weg lassen – es ist überflüssig und wiederholt sich dann nicht

»den Hund- eigentlich haben wir uns letztendlich gut verstanden - mitgenommen und abgefahren.«
– bei diesen Gedankenstrichen gehört jeweils vorne und hinten ein Leerzeichen – vor „mitgenommen“ hast Du zwei, das nach „Hund“ fehlt. Außerdem verwendest Du manchmal die langen, manchmal die kurzen Striche – als Gedankenstriche, wie hier, sind die langen schöner, als Bindestrich (z.B. bei „nordisch-provinziellen“) gehören die kurzen. ;)
– vor „abgefahren“ fehlt ein „ist“

»gerade noch genug, um nicht zu Verhungern.«
– zu verhungern

»Nach Hause kann ich nicht, gänzlich ohne Auto und Kapital - egal.«
– naja, es gäbe noch den Weg auf die Botschaft...;)

»einige Wellen erreichen schon – fürchterlich kalt – den Rücken, sogar meine Unterhose – abscheulich kalt!!! – wird von einer besonders großen Brandung erwischt.«
– eventuell würd ich „abscheulich kalt!“ ans Ende des Satzes geben, um ihn nicht zweimal zu unterbrechen, aber das ist nur so ein Gedanke

»Zeit zu gehen.«
– hier würd ich auf alle Fälle mit „Es ist …“ beginnen, was aber auch nur ein Vorschlag ist ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

N´Abend Susi,
was für eine Überraschung, dass du kurz vor der Ingolstadtlesung diesen Text rauskramst.
... :rolleyes: ;)
Deiner Interpretation lässt sich nicht widersprechen, auch wenn ich seinerzeit noch was anderes sagen wollte, glaube ich zumindest.
Zu deinen Anmerkungen:

  1. Ja, warum gibt er zu? Weil es recht ungewöhnlich ist, nach Ablauf der Saison angekleidet im kalten Wasser zu liegen. Er rechtfertigt sich, in gewisser Weise, ja durch das erzählen dieser Geschichte. Muss mal überlegen, ob ich das ändere.
  2. Das ""meine" ist tatsächlich nur bestärkend, zwar etwas besser für den Wortfluss, aber überflüssig, deshalb gestrichen.
  3. Nun gut, ohne Leerzeichen.
  4. Der fehlende Beistrich nach der wörtlichen Rede muss nicht sein, aber mal schaun.
  5. Chi oder Qi, Whiskey oder Whisky? Geht beides, denke ich.
  6. zweimal "aus", guter Einwand.
  7. Die kurzen und langen gedankenstriche sind nicht mehre Schuld, das "Word" war´s. "Ist" ist richtig, oder besser "war"?
  8. Jupp, verhungern.
  9. Botschaft? Der Protagonist muss ja nicht mal zwangsläufig im Ausland sein...
  10. Das zweimalige Unterbrechen, hm, muss mal schaun, eigentlich muss das ja sein, weil es ihn aus seinen Gedanken reißt.
  11. "Zeit zu gehen" beginnt härter als "Es ist...", soll einwenig den Aufbruch verdeutlichen.
    [/list=1]

    Besten Dank,
    ...para

 

Lieber Paranova!

Ja, welch ein Zufall... :lol:

"Der fehlende Beistrich nach der wörtlichen Rede muss nicht sein,"
- nach neuer RS eigentlich schon, nach alter nicht.

"Botschaft? Der Protagonist muss ja nicht mal zwangsläufig im Ausland sein..."
- ähem, ja, für Dich stimmt das natürlich. Für uns Österreicher ist "Meer" ja leider automatisch mit Ausland verbunden, da hab ich nicht richtig geschaltet. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Servus Paranova!

Eine Geschichte in der das Meer das Bild beherrscht. Sie hat mir gut gefallen. Auch dass nach der Ebbe eine neue Flut zwar die Zeichnungen der Vergangenheit verwischt, aber auch eine neue Malfläche im Sand bildet gefällt mir, allem voran finde ich das Wort "Meerprinzip" und das schrittweise Verstehen desselben einen schönen Gedanken.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Der Erkenntnishascher


Ich gebe zu: Es ist September, es ist kalt, saukalt, besonders so nahe am Wasser. Die Badesaison ist definitiv beendet, die letzten Gäste sind schon vor Wochen verschwunden, der Strand verlassen.
Nasse Kälte kriecht meinen Rücken hinauf. Eiskaltes Wasser leckt durch Schuhe und Hose nach mir. Ich zittere, liege rücklings am verlassenen Sandstrand, die Kleidung durchnässt, und starre in den tristen Himmel. Gebe sicherlich ein seltsames Bild ab.

Nur zwei, drei Wochen ausspannen. Einfach auf „Pause“ drücken: Auszeit. Die herrlich salzige Luft genießen, den Sommer an der See verbringen, das erschien mir der einzige Ausweg aus meiner damaligen Sinnkrise. Ich kam mit den Arbeiten an meinem Roman einfach nicht voran, der Verlag drängte, noch dies zu tun, das zu tun, alles wuchs mir über den Kopf. Kurzentschlossen nahm ich Reißaus.
Wunderschön, diese herbe Freundlichkeit der Menschen, diese Landschaft, das Meer.
Es hat, erkannte ich, kiffend am abgelegenen Strand sitzend, seinen eigenen Rhythmus. Ist an sich eine, nein, die Weisheit.
Mich durchzuckte ein Gedanke: Noch war diese ozeanische Weisheit namenlos, vielleicht sogar unentdeckt!
Zuerst wollte ich sie "Die Wahrheit der Ursuppe" nennen, was mir ebenso passend wie seriös erschien. Je länger ich jedoch darüber nachdachte und je klarer mein Kopf wieder wurde, desto mehr nahm ich von dieser Bezeichnung wieder Abstand.
Eines Abends erinnerte ich mich dann zufällig an das Motto jenen Schreibwettbewerbes, den irgendeine Frauenzeitschrift vor geraumer Zeit veranstaltet hatte, so eine Art "Bild der Frau" für die werberelevante, jüngere Zielgruppe. "Enteignet Springer!", schrie plötzlich ein winziger 68er mit langen, grauen Haaren, der statt Frankfurter Häuserzeilen mein Hirn besetzt hatte, ohne dass ich vorher von ihm Notiz genommen hätte.
Ich seufzte wie ein alter Mann, taufte meine Entdeckung in das etwas schwammige „Meerprinzip“ um
und beschloss, zweimal die Woche weniger zu kiffen.

Diesen Beschluss vergaß ich jedoch bald wieder. Immer unwichtiger wurde der ferne Verlag, ich fühlte mich wunderbar entrückt, verbrachte meine Tage sinnierend am Strand, in einer wunderbar unbeschwerten Zeitblase - bis mich ein wildes Tier anfiel und sie binnen Sekunden zerriss. Irgendwas musste diesen Möchtegern-Zerberus an meinem Versinken in Erkenntnis - oder meinem Gras - gestört haben: Ich lag mit geschlossenen Augen da, dem Rauschen zuhörend, in Gedanken versunken, als mich dieser riesige schwarze Mischlingshund anfiel.
Er schnappte nach mir, halb spielerisch, halb bedrohlich, und ich suhlte mich kreischend mit ihm im Sand, zu Tode erschrocken.
Schließlich biss er wirklich zu.
Sein Frauchen kam herbeigelaufen, endlich hörte dieser blutrünstige Köter wieder auf sie und ließ von mir ab. „Mein Gott, hat Buddha dich verletzt?“ waren ihre ersten Worte. Sie waren glücklicher gewählt als meine: ich lachte auf, sah endlich die blutende, sandverdreckte Stelle an meiner Hand – ich hätte dem Vieh die Tüte vielleicht doch besser kampflos überlassen sollen – und hielt es für angebracht – guter, guter Stoff! – festzustellen:
„Oh Scheiße, das Chi verlässt meinen Körper.“

Ich lachte über ihren Vorschlag, mich ins Krankenhaus zu bringen, doch erkannte gleichzeitig, dass ich immer mehr Lebensenergie verlor und nur an ihrer Seite vor weiteren Attacken ihrer Drogenhundbestie sicher wäre.
Sieben Stiche hielten mein Chi bei mir. Dazu diese undefinierbaren Blicke nordisch–provinziellen Krankenhauspersonals. Das Hundefrauchen bemühte sich rührend um mich, machte allen Zweiflern klar, mein ständiges Lachen sei einzig und allein auf mein sonniges Gemüt zurückzuführen.
Wir waren uns schon auf dem Hinweg sympathisch, jedoch verhinderte auf dem Rückweg das von meiner Hand aus in den Körper schwärmende Narkotikum ein sinnvolles Gespräch. Ich weiß bis heute nicht genau, was ich ihr erzählt habe. Allzu abschreckend war es anscheinend nicht, denn sie bestand darauf, mich am nächsten Tag mit einer Einladung zum Kaffee zu entschädigen. Ich nahm an.
Wir hatten eine wunderbare Zeit. Sie wollte nur eine Woche ausspannen, eine knappe Woche, genau wie ich für kurze Zeit alle Stränge zu Zwang und Alltag kappen.
Sie blieb länger. Wir teilten Geld, Gras und Unterkunft, teilten Nachmittage am Strand, teilten sogar die Erkenntnis des undefinierbaren, aber universalen und unfehlbaren Meerprinzips.
Wir waren fast so etwas wie die letzten Hippies. Vier Wochen Trance, Entrücktheit. Ich vergaß den Verlag, verkaufte schließlich sogar mein Auto, um länger bleiben zu können, denn sie hatte versprochen, mit mir hier zu bleiben, für immer.

Doch sie hatte gelogen.

Der Sommer verabschiedete sich langsam, sie aber war eines Morgens plötzlich verschwunden, hatte ihre Sachen heimlich gepackt, den Hund - eigentlich haben wir uns letztendlich gut verstanden - mitgenommen und war abgefahren. Sicherlich, ich füllte die See mit meinen Tränen, doch ich blieb.
Jeden Tag sitze ich am Strand und hoffe, dass Buddha wieder über mich herfallen, sie wieder zurück gekommen sein könnte. Schon nach einiger Zeit stellte sich eine gewisse Gleichgültigkeit ein. Warum noch trauern, dachte ich, du hast eigentlich nur verloren, was du kurz zuvor gewonnen hattest. Flüchtige Augenblicke. Sie kommen kaum wieder – nein, ich gebe sie nicht auf, halte sie innerlich fest. Konserviere sie in seltsam meditativem Zustand.

Meine Miete läuft aus, mein Gras geht zuende, Geld für neues habe ich nicht, gerade noch genug, um nicht zu verhungern. Nach Hause kann ich nicht, gänzlich ohne Auto und Kapital - egal.
Inzwischen habe ich wieder angefangen zu schreiben, etwas Neues, etwas wahrhaft Bedeutendes. Da bin ich mir sicher: sobald „Das Meerprinzip“ erscheint, wird es die Menschheit mehr prägen als Marx und Engels es je taten.
Nur wird diesmal der blutrote Mars schweigen, diese Weltrevolution wird einer immergrünen Aphrodite geweiht sein und Buddha. Dem echten.

Langsam wird es dunkel über der trüben, verschwommenen Spiegelfläche der See. Wenn ich weiterhin am Strand, dort wo Land und Meer verschmelzen, liegen bleibe, werde ich mich noch fürchterlich erkälten.
Noch einmal rudere ich mit den Armen, zeichne Muster in den nassen, kalten Sand, doch ihre Wirkung ist verflogen, nun, da ich sie alleine zeichnen muss. Das Wasser steigt, nun leckt es nicht mehr nur nach Schuhen und Hose, einige Wellen erreichen schon – fürchterlich kalt – den Rücken, sogar meine Unterhose – abscheulich kalt! – wird von einer besonders großen Brandung erwischt.
Zeit zu gehen. Ich raffe mich auf, unterkühlt, durchnässt und besandet. Die nächste Welle bricht sich an meinen Füßen und wischt meine Zeichnungen aus, lange starre ich ihr auf das offene Meer hinaus hinterher.
Nichts erinnert mehr an unsere gemeinsamen, fast ekstatischen Bilder, fällt mir zitternd auf.
Es scheint fast so, als habe ich eine weitere Ebene des Meerprinzips verstanden.

 

Sooo,
erstmal noch vielen Dank an Schnee.eule für´s Lesen.

Das da oben ist die Lesungsversion für Ingolstadt, ein wenig erweitert, aber ansonsten genauso "vollwertig" und kalorienarm wie die Urversion.

...para

 

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