Der Epilog
Der Epilog. Für B.
Am trüben Fenster sitzend blickte er in den kleinen Garten, der draußen im Herbst lag. Die Gaslaternen dröhnten in den Nebel, der von ihrem matten Schein zu einer schleichenden Bank wurde, die sich unaufhaltsam durch die Gräser und Sträucher bewegte. Fast schon erreichte die Nebelbank die Haustür. Es würde ihn nicht sonderlich verwundern, wenn sie dann auch noch die Türglocke läuten würde. Lange Fangarme schienen sich verwaschen und windend an die Hauswand zu lehnen, als würden sie auf das Öffnen der Türen warten.
Im Haus selbst hörte er nichts mehr: Die Geschäftigkeit des vergangenen Tages endete, als die Glocken der alten Kirche ein letztes Mal läuteten. In der letzten Zeit geschah es nur noch selten, dass man sie läuten hörte. Gerade eben noch meinte man sie zu hören, aber dann verstummten sie wieder gänzlich. Bald, dachte er, würden sie gar nicht mehr in die Nacht läuten, denn bald schon würde alles gesagt sein, was eine Glocke in diesen trüben Tagen sagen konnte.
Der Winter war noch gar nicht gekommen, aber es war dennoch kalt wie in den eisigen Regionen des Nordens, die er nur aus Erzählungen der reisenden Nachbarn kannte. Warum sie davon gerade ihm erzählten, das war unklar. Stets aber nickte er interessiert und konnte seine Abneigung gegen Erzählungen von der Ferne sicher verbergen. Wenn dann ein solches Gespräch im Hausflur beendet war, dann lief er schnell die Treppen hoch ins Dachgeschoss, setzte sich wie an diesem späten Abend ans Fenster und beschaute den Garten, die angrenzende Straße mit den Gaslaternen, den schnell einsetzenden Nebel, das letzte Zuschlagen der Türen der anderen Mietshäuser, die letzten Spaziergänger, drüben die alte Kirche und die Nachtwächter, die als einzige in der Nacht ihrem Geschäft nachgingen, abgesehen von den Mädchen, die hier und da für ein paar Groschen verschiedene Dinge taten, die ihn nicht mehr interessierten –wie sie auch für die Mädchen nicht von Bedeutung sein würden, sollte das Geklimper des Geldes einmal in der Nacht verhallt sein. Aber auch die Mädchen wurden weniger. Manchmal sah man sie noch glänzend durch den Nebel tanzen, aber die Zeiten würden wohl anders werden, vernahm er in seinen Gedanken, die sich wieder in die Wohnung schlichen. Langsam folgte er ihnen und setzte sich an den Tisch zurück.
Das Papier lag noch gänzlich unbeschrieben vor seinen müden Augen. Daneben warteten Tinte und Feder auf ihr Werk. In den letzten Nächten wurde es immer weniger, was sie für ihn tun konnten. Oft kam es sogar vor, dass er beim Anblick des Schreibzeugs einschlief. Er wachte dann immer mit dem ersten Läuten der Türglocke auf.
Unten im Haus begann dann wieder reges Treiben. Ein Eisenwarenladen und eine Nähstube teilten sich das Erdgeschoss. Die Inhaber teilten sich den Besitz des Hauses. Er selbst war der letzte Mieter, der mit Hilfe eines geringen Einkommens gerade noch das Dachgeschoss bekam. Es war ein Glück für ihn, denn zu lang schon dauerte die Suche nach einer geeigneten Wohnung, einem Fluchtpunkt in diesen unsicheren Zeiten.
Vater und Mutter waren einverstanden, sagten sie wenigstens. Der anklagende Blick beider im letzten Monat sagte freilich etwas ganz anderes. Die Schwester hingegen machte ihm Mut, das Geplante auszuführen. Eine Unterhaltung mit seinem Freund und Förderer schließlich fegte die letzten Zweifel in den anderen Dreck, den er langsam von sich kehrte. Ein großer Haufen Kehricht wich der Entschlossenheit, endlich den Schritt zu wagen, einen nur, von der elterlichen Haustüre fort in dieses Haus, gelegen an diesem kleinen Garten, der in den langen Nächten, die er hier endlich beruhigt schreibend verbringen konnte, sein stiller Freund war. Er mochte auch seinen menschlichen Freund sehr, immerhin machte er ihm vieles möglich und unterstützte sein Streben nach Alleinsein. Aber der Garten und der Nebel waren Verbündete, so wie es kein Mensch für einen anderen sein könnte.
So kam es, dass er wieder aufstand, um noch einen Blick zu wagen. Der Frieden war unzerstörbar. Bei den Eltern hatte es das nicht gegeben:
Wenn wieder einmal eine Heirat anstand, wenn wieder ein Geburtstag oder ein anderes Fest geplant wurden, dann gab es großes Geschrei. Der Lärm stieg ihm in den Kopf, drehte sich ein wenig und schleuderte jeden sinnvollen Gedanken fort. Das Schlimmste war, dass sein Zimmer tatsächlich ein Durchgangsflur war, an den Seiten nur etwas breiter als ein gewöhnlicher Flur. An beiden Seiten waren Türen. Die eine Tür führte in das Schlafzimmer der Eltern, die andere gerade in die Küche. Und die Küche war der ganze Mittelpunkt der elterlichen Wohnung. So kam es also, dass jeder hin und her lief, stets sein Zimmer wie ein fremder Eindringling durchquerte, manchmal gar ohne einen Grund dafür zu haben. Ihn selbst beachteten sie dabei nicht. Nur die Schwester hatte ab und an einen treuen Blick für ihn übrig, der ihm doch eher wie Mitleid vorkam. Mitleid wollte er gar nicht, er wollte die Ruhe haben, die es brauchte, um das Werk endlich beginnen zu können.
Aber es waren nicht nur der häusliche Lärm und die damit verbundene Verachtung eines fremden Sohnes, es war auch die Fabrik, die ihn ärgerte. Sein Vater hatte einen Bruder. Dieser Bruder, ein Mann mit unerträglich lauter Stimme, ansonsten eher unwichtig, leitete eine Asbestfabrik. In dieser Fabrik wurden eines Tages Teilhaber gesucht: Was lag also näher, als den eigenen Bruder darum zu bitten. So steckte der Vater ein wenig Kapital in die Fabrik. Und er bat ihn, seinen Sohn, sich um die juristischen Belange zu bemühen. Er ahnte wohl nicht, nein, er wußte wohl ganz sicher, wie lästig das seinem Sohn vorkommen würde. Täglich schleppte er sich in die verhasste Fabrik und kümmerte sich um Belanglosigkeiten, die sich in seinen Kopf warfen, sich einmal innen an die Schläfen drückten und dann wieder verschwanden, nur um diese Kopfschmerzen zu hinterlassen. In der Nacht konnte er dann nicht mehr arbeiten und lag wach mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Am Tag wieder die Fabrik. Und dann die Unterhaltungen mit dem Freund und der Schwester. Heimlich besorgten sie ihm eine Wohnung. Als alles geregelt war, kündigte er schriftlich bei seinem Onkel in der Fabrik. Den Eltern teilte er den Auszug am Vortag mit. Er wagte es nicht, um Hilfe zu bitten. Er sah nur die Körper, die für ihn wie Gesichter waren: Nach vorn gebeugt, zur Seite geschoben, geknickt in sich selbst und mehr als einmal um sich selbst gedreht erschienen sie. Nach dem Auszug verbesserte sich die Haltung nur wenig. Diesen Schritt aber sah er als vollkommen notwendig an.
Endlich klopfte es. Schon den ganzen Tag hatte er gewartet. So lief er eilig an die Tür und öffnete. Der Bote verlangte eine Unterschrift und übergab dann das schwere Paket. Schnell schloss er die Tür. Er stellte das Paket auf den Tisch. Papier, Tinte und Feder beobachteten fast schon in mißtrauisch anmutender Lage das Öffnen des Holzkastens, der unter dem Paket hervor kroch. Darin war ein weiterer Kasten, darauf ein paar Metallstücke, ein paar Knöpfe und Kurbeln. Ein schlauchartiges Kabel schlängelte sich heraus, an seinem Ende eine Muschel aus Messing. Er drückte ein paar Schalter und sprach in den Parlographen.
Jetzt waren Schreibzeug und Papier unwichtig. So würde die Arbeit viel schneller verlaufen. Und die gewonnene Zeit würde er nutzen können, um endlich wieder nachts zu schlafen. Jetzt aber würde er das Gerät testen. Leise und sich selbst schlecht beurteilend sprach er in den Parlographen.
Er diktierte ein paar Zeilen und wollte sich das Ergebnis dann gleich anhören. Als er gerade beendete, da läutete aber der Telephonapparat. Zögernd fuhr er mit den Armen herum an die kleine Kommode, auf der das Ding stand, das immer noch unglaubwürdig klingelte. Es war sein erstes Gerät dieser Art. Man konnte so viele Dinge mißverstehen, wenn man die Gesichter nicht sah, dachte er. Er dachte zu lang nach, denn das Läuten verklang, als er gerade handeln wollte.
Er setzte sich wieder an den Tisch und bewunderte den Parlographen. Auch diesen neumodischen Dingen war er unvertraut gegenüber gestanden, als er sie das erste Mal auf einem Photo betrachtete. Damals dachte er, es wäre eine scheußliche Sache, so ein Ding zu besitzen oder gar zu benutzen. Und heute stand es vor ihm. Aber schon früher hatte er unglaubliche Ideen: Was wäre, wenn ein Grammophon über ein Telephon mit einem Parlographen sprechen würde ? Was wäre, wenn man einen Parlographen mit einem Telephon verbinden würde ? Er würde den Anrufer bitten, eine Nachricht für den Empfänger zu hinterlassen. Schnell tat er solche Gedanken ab als Gewäsch.
Als er den Parlographen mit ein paar Handgriffen bat, die diktierten Zeilen zu wiederholen, da knarrte das Gerät nur kurz und verstummte dann vollkommen. Was war denn nun geschehen ? Er wiederholte den Vorgang, aber die Antwort war gleich. Er drückte wahllos ein paar Knöpfe, aber es passierte gar nichts. So schob er den Parlographen an die Seite und stand auf, ging ans Fenster, sah den Garten und den wartenden Nebel an, der noch immer leicht gebeugt und verharrend die Türglocke ansah.
Hatte der Bote ihn denn nicht bemerkt ? Warum hatte der ihn nicht eingelassen, wenn er selbst wohl unfähig war, die Glocke zu betätigen ? Er öffnete das Fenster und bat den Nebel, einzutreten. Der Nebel kletterte schüchtern, dann schneller werdend die Hauswand hinauf. Durch das geöffnete Fenster stieg er in die Wohnung. Der Nebel setzte sich an den Tisch und sah sich den Parlographen an. Er drückte ein paar Knöpfe und spielte das gemachte Diktat ab. Während der Nebel interessiert weitere Hebel und Schalter betätigte, kletterte der Sohn die Hauswand hinab, denn durch das Treppenhaus wagte er um diese Zeit nicht mehr zu gehen. Er würde ins Elternhaus gehen, die Schwester würde ihn schon erwarten, die Eltern würden es verstehen. Der Lärm würde gar nicht mehr so schlimm sein.
Und während er durch den Garten schlich und sich verabschiedete, hörte er, wie der Nebel in den Parlographen sprach.
Er wolle lieber mit dem Epilog beginnen, sagte er.