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Der Engel
„A little child was standing out in the cold,
the sky was crying, the little child was too,
although she was smiling, looking forward at
something she can never have“
Der Engel
„Wer bist du?“, fragte das kleine Mädchen.
„Ich bin ein Engel“, antwortete der Engel.
„Ich habe gar nicht gewußt, daß es Engel wirklich gibt“.
„Nun, jetzt weißt du es“.
Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Der liebe Gott hat mich zu dir geschickt, weil er meinte, du bräuchtest jemanden, der auf dich aufpaßt und er selbst ist im Moment leider sehr beschäftigt, weshalb er nicht persönlich vorbeischauen kann.“
Das kleine Mädchen blickte verwundert drein und fragte den Engel:
„Mein Religionslehrer hat gesagt, Gott sei allmächtig und jetzt sagst du mir, daß es ihm nicht möglich sein soll, sich persönlich um mich zu kümmern. Ich weiß nicht, wem ich glauben soll, mein Religionslehrer ist nämlich ein sehr gescheiter Mensch, mußt du wissen.“
„Das mag wohl sein, aber in diesem Punkt irrt er sich, Engel können nämlich gar nicht lügen und deshalb kann auch ich dich nicht anlügen“.
Das kleine Mädchen dachte einen Moment lang nach, dann sagte es:
„Seltsam, ich habe eigentlich auch immer gedacht, Gott sei allmächtig, wo er doch die ganze Welt erschaffen hat, das ist ja sicherlich nicht so einfach gewesen. Aber wenn du sagst, daß er es nicht ist, dann wird das wohl stimmen.“
Dann überlegte sie kurz und fuhr fort:
„Aber woher weißt du das denn überhaupt so genau?“, wollte sie wissen.
Der Engel lächelte und sah dabei selbst aus wie ein kleines Mädchen, das sich über etwas freut. Dann sagte er:
„Ich habe ihn danach gefragt, weil ich das schon von vielen Menschen gehört habe, daß Gott allmächtig sein soll. Aber du mußt wissen, Gott hat über meine Frage so laut gelacht, daß einige von uns schon gedacht haben, der ganze Himmel würde einstürzen.“
Und nach einer kurzen Pause erzählte er weiter:
„Gott lacht nämlich überhaupt sehr gerne, er ist aber auch sehr kritisch, vor allem mit sich selbst. Er sagte zu mir, daß wenn er sich die Welt, seine eigene Schöpfung, heute so ansieht, dann wird ihm bewußt, daß er damals, als er die Welt geschaffen hat, einige Fehler begangen hat. Aber weißt du, Gott ist immer noch erschöpft von seinem letzten Schöpfungsakt, so würde er zwar gerne zumindest einige der Fehler ausbessern, die er damals gemacht hat, aber im Moment ist er einfach zu erschöpft dazu.“
Das kleine Mädchen dachte einen Moment lang nach, dann antwortete es:
„Weißt du, ich finde, daß Gott das im Großen und Ganzen sehr gut gemacht hat, das mit der Welt, meine ich. Bitte bestell ihm doch das nächste Mal wenn du ihn siehst einen schönen Gruß von mir und sage ihm, daß ich seine Arbeit echt toll finde. Besonders gut gefällt es mir auf der Welt, wenn gerade draußen Schnee liegt, man glaubt gar nicht, was man mit dem weißen Zeug so alles anfangen kann, und außerdem sieht alles so wunderschön aus, wenn es mit Schnee bedeckt ist.“
Die Augen des Mädchens fingen vor Begeisterung an zu leuchten, als sie weitersprach:
„Aber im Sommer ist es auch toll, da kann man schwimmen gehen und radfahren, oder sich einfach in die Wiese legen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.“
Bei den letzten Worten errötete das kleine Mädchen.
„Entschuldige, das ist mir so rausgerutscht“.
Wieder lächelte der Engel und sah dabei selbst aus wie ein kleines Mädchen.
Dann antwortete er:
„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Weißt du, was Gott gemacht hat, als er zum ersten mal dieses Sprichwort gehört hat?“
„Hat er wieder gelacht?“, fragte das kleine Mädchen.
„Und wie. Noch lauter als damals, als ich ihn gefragt habe, ob er allmächtig sei.“
„Ich glaube, daß Gott wirklich ein netter Kerl sein muß, wenn er soviel über sein eigenes Werk lachen muß“, sagte das kleine Mädchen.
Der Engel erwiderte nichts darauf sondern lächelte nur weiter.
Nach einigen Minuten, in denen das kleine Mädchen angestrengt nachgedacht hatte, begann sie wieder:
„Weißt du, es gibt etwas, was ich nicht so toll finde an der Welt und es wäre nett, wenn du das dem lieben Gott auch sagen könntest, wenn du ihn das nächste Mal siehst. Vielleicht kann er mir ja helfen, wenn er wieder einmal ein bißchen Zeit hat.“
Der Engel blickte jetzt ernster drein und sah das kleine Mädchen fragend an.
„Ich finde es gar nicht toll, daß ich im Moment den ganzen Tag nur im Bett liegen kann“, erklärte das kleine Mädchen.
„Meine Oma hat mir zwar sehr viele Bücher zum Lesen geschenkt und mein Vater hat mir sogar sein Radio neben mein Bett gestellt, damit ich Musik hören kann. Aber leider bin ich in letzter Zeit meistens so müde, daß ich nur schlafen kann, und wenn ich dann einmal wach bin, dann ist mir das Lesen und Musikhören meistens doch zu anstrengend.“
Der Engel sah dem kleinen Mädchen einen Moment lang in die Augen und während dieses kurzen Augenblicks glaubte das kleine Mädchen die Schöpfung selbst und alles, was sie einschließt, zu erkennen.
„Ich glaube, ich habe gerade Gott gesehen. Und die Welt.“
Wieder lächelte der Engel und sah dabei aus wie ein kleines Mädchen, das sich über etwas freut, als er schließlich antwortete:
„Irgendwann werden wir alle einmal die Welt erschaffen.“
Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort:
„Du bist noch jung, ein Kind, und deshalb bist du noch in der Lage, Dinge zu sehen, die für viele Menschen unsichtbar sind. Du bist noch in der Lage zu träumen und zu glauben, zu fragen und dich zu wundern.
Für dich ist das Leben noch das Wunder, das es für einen jeden sein sollte. Die Meisten von euch vergessen das nach einiger Zeit, viele von euch können es kaum erwarten, bis daß sie endlich erwachsen sind und lange aufbleiben dürfen oder den Führerschein machen können. Doch in Wahrheit ist es so, daß man zwar vielleicht autofahren kann und bis spät in die Nacht fernsehen darf wenn man erwachsen ist, doch ich sehe jeden Tag viele Menschen, die seit sie erwachsen sind nicht mehr eine einzige Frage gestellt haben oder die ganz vergessen haben, wie es ist, zu träumen.“
Das kleine Mädchen sah jetzt sehr nachdenklich drein.
„Welch weise Worte du sprichst“, meinte sie dann.
„Ja, welch weise Worte. Nur sind sie nicht von mir, sondern von Gott persönlich.“
Eine Zeit lang schwiegen sie beide, dann fragte der Engel:
„Weißt du eigentlich, was Gott besonders gerne mag?“
„Nun ja, er lacht sehr gerne, das habe ich ja heute erfahren“, antwortete das kleine Mädchen nach kurzem Nachdenken.
Jetzt mußte auch der Engel lachen.
Das kleine Mädchen glaubte, daß der Engel sie auslachte, deshalb war sie ein bißchen wütend geworden.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte sie. „Du hast doch selbst gesagt, daß Gott sehr oft lacht.“
Der kleine Engel hatte sich wieder beruhigt, als er antwortete:
„Ich lache nicht über dich, sondern darüber, daß sich der liebe Gott vielleicht ein bißchen wundern wird, wenn er erfährt, daß ich überall auf der Erde herumerzähle, daß er den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun hat, als zu lachen.“
Das kleine Mädchen blickte ihn erstaunt an und erwiderte:
„Das glaube ich ja sowieso nicht, daß Gott die ganze Zeit nur lacht. Aber was hast du denn sonst gemeint, als du micht gefragt hast, was Gott besonders gerne hat?“
„Er mag es sehr gerne, wenn Leute etwas schreiben, ein Buch zum Beispiel. Oder wenn sie zeichnen, singen oder ein Instrument spielen. Gott ist nämlich selbst der größte Künstler, denn in ihm vereint sich alle Kunst der Welt.“
Dann sprach er weiter:
„Denn du mußt wissen: Gott denkt in den Genies, träumt in den Dichtern und schläft in den anderen Menschen.“
„Aber das würde ja heißen, daß Gott in mir nur schläft, denn ich bin weder Genie noch Künstler!“, rief das kleine Mädchen erschrocken. „Dann könnte er ja gar nicht zu mir kommen und mit mir reden, selbst wenn er Zeit dazu hätte!“.
Der Engel kam jetzt zu ihr ans Bett und setzte sich direkt neben sie, und als das kleine Mädchen den lächelnden Engel ansah kam es ihr so vor, als sehe sie in einen Spiegel, der ihr ihr eigenes Antlitz zeigte.
Dann sprach der Engel:
„Keine Angst, das ist natürlich auch nur ein Sprichwort.“
Das kleine Mädchen war wieder etwas beruhigter. Zugleich breitete sich aber auch eine neue Welle der Müdigkeit über sie, obwohl Mama heute noch gar nicht gekommen war, um ihr die Spritze zu verabreichen, von der sie immer so müde wurde. Sie wollte deshalb den Engel fragen:
„Weißt du vielleicht zufällig, wo...“, begann sie, doch dann bemerkte sie plötzlich, daß der Engel verschwunden war. Dafür betrat im nächsten Augenblick ihre Mutter das Zimmer. Seltsam, wie traurig sie doch dreinsah! Um sie aufzumuntern lächelte das kleine Mädchen sie an und sagte:
„Hallo Mama, ich habe schon gedacht, du kommst heute gar nicht mehr!“.
Doch seltsam, ihre Mutter schien die Worte gar nicht gehört zu haben, sie stand nur neben dem Bett und blickte traurig auf sie herab.
Und dann kamen auch noch die anderen Mitglieder ihrer Familie herein, ihr Vater, ihre Großmutter und ihr kleiner Bruder. Und sie sahen alle so traurig aus!
Und das obwohl sie sich mit einem Male viel frischer und leichter fühlte als vorhin, als sie mit dem Engel geredet hatte. Da dachte sich das kleine Mädchen, ob sie nicht versuchen sollte, wieder einmal vom Bett aufzustehen, etwas, wozu sie in den letzten Wochen immer zu schwach gewesen war. Die Mitglieder ihrer Familie würden sich sicherlich sehr freuen, wenn sie sehen könnten, daß es ihr schon besser ginge.
Und tatsächlich gelang es ihr, vollkommen ohne Anstrengung und ohne Schmerzen vom Bett aufzustehen, worüber sie sich so freute, daß sie lachen mußte. Aber dann fiel ihr auf, daß ihre Familie offenbar gar nicht bemerkt hatte, daß sie aufgestanden war, sie starrten alle immer noch auf das leere Bett herab!
Jetzt wurde das kleine Mädchen wütend, daß sich keiner um sie kümmerte und keiner sich mit ihr darüber freute, daß sie endlich wieder einmal aus dem dummen Bett herausgekommen war!
Dann drehte sie sich um und blickte auf ihr Bett herab und mit einem Male war jede Wut verschwunden, denn sie konnte sich selbst auf dem Bett liegen sehen. Sie schien zu schlafen, jedenfalls hatte sie die Augen geschlossen.
„Hab keine Angst“, sagte der Engel.
„Aber...aber...was ist denn mit mir passiert?“
„Nichts, wovor du dich fürchten müßtest“, sagte der Engel und stellte sich direkt vor das kleine Mädchen und sah ihr tief in die Augen.
Das Mädchen lächelte, als sie sich selbst in seinen Augen erblickte, und sie sah dabei selbst aus, wie ein kleiner Engel, der sich über etwas freut...