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Der Engel des Todes 2
(Wörter: 4630)
Der nächste Ruf führte mich zurück in die Innenstadt.
Die letzten Tage hatte ich in den ländlichen Gebieten zu tun gehabt, doch was heißt hier 'die letzten Tage'? Im Grunde genommen war es immer wieder der selbe Tag, den ich so oft erleben musste, bis ich alle Seelen der Sterbenden eingesammelt hatte. Für den Tod war jeder Tag eine Ewigkeit.
Was hatte mein Vorgänger noch gesagt, wie lange er den Job gemacht hatte? Eintausend Jahre? Unvorstellbar.
Schon erblickte ich meinen Bestimmungsort und wollte genervt aufstöhnen, doch es kam nur ein Krächzen aus meiner Kehle. Der Ruf kam aus einem Krankenhaus. Ich hasste Krankenhäuser, dort musste ich ständig hin, weil dort irgendwelche Menschen starben. In den seltensten Fällen waren es alte Leute, meistens Unfallopfer, und wenige starben auch bei Operationen. Einmal sogar hatte ich eine Frau im besten Alter an einer Überdosis Medikamente sterben sehen. Das viele Sterben an diesem Ort machte mich krank.
Irgendwie war das paradox, schließlich war ich der Todesengel. Doch auch ich war ein Mensch gewesen, vor einer Ewigkeit oder zwei.
Mein Krähenkörper landete auf einem Fensterbrett und ich spähte durch die Scheibe, zur Quelle des Rufs.
Na toll!
Dort lag ein kleiner Junge an einem Tropf und mit einer Atemmaske auf dem Gesicht. Ich hasste meinen Job wirklich. Warum machte ich das überhaupt, fragte ich mich, bevor ich mir selbst die Antwort gab. Es musste sein, da sich die Menschen in Untote verwandelten, wenn ihre Körper nicht lebensfähig, aber noch beseelt waren. Also war ich gezwungen, ihnen für immer die Augen zu schließen. Ich wollte das nicht, aber dass sie untot wurden noch weniger.
Mein Körper nahm wieder seine menschliche Gestalt an und ich musste höllisch aufpassen, um nicht nach hinten zu fallen. Das Fenster war zwar geschlossen, doch den Tod hielt das nicht auf.
Nur ein Schritt, dann landete ich auf dem Zimmerboden. Hier hörte ich auch das Piepen der Maschine, die den Herzschlag des Jungen aufzeichnete. Fast schon erwartete ich, dass es plötzlich keinen Schlag mehr registrierte und nur noch einen lang gezogenen Ton von sich gab, wie ein Schrei.
Verfluchtes Ding.
Vor dem Bett sah ich nun eine junge Frau stehen, die mitleidig auf den Jungen herab blickte. Sie störte mich nicht, da mich ohnehin nur die Todgeweihten sehen konnten. Meistens hatten sie Angst vor mir und versuchten zu fliehen, einige baten mich auch um etwas mehr Zeit. In der Ausnahme kamen welche auch freiwillig mit oder freuten sich sogar, wenn ich sie besuchte. Am einfachsten war es natürlich, wenn sie bewusstlos waren, wie der Junge hier. Das ging schnell und machte keine Probleme.
Für gewöhnlich.
Plötzlich hob die Frau den Kopf und schaute mich an. Ich erschrak, dann aber prüfte ich schnell, ob auch von ihrem Körper ein Ruf ausging, der sie als Todgeweihte entlarven würde.
Nichts.
Das wunderte mich dann doch.
Die Frau aber trat einen Schritt zur Seite und versperrte mir damit den Weg zum Bett des Jungen.
"Hau ab!", befahl sie. "Bleib von ihm weg, sonst kannst du was erleben!"
Ich lauschte auf den Ruf von der Seele des Jungen, die danach schrie, aus ihrer sterbenden Hülle befreit zu werden.
Damals - das heißt, vor einigen Tagen - hatte ich genau diesen Ruf von Klarissas Seele ignoriert, als sie ihren tödlichen Autounfall hatte. Ich wollte nicht, dass sie starb und hatte sie nach Hause gebracht, in der Hoffnung, dass sie sich wieder erholen würde.
Mein Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken an meine Dummheit und daran, was ich damit angerichtet hatte. Wie lange hatte es gedauert, bis sie eine Untote wurde? Eine Viertelstunde oder eine halbe ... Genau wusste ich es nicht, da ich nicht dabei war.
Wie auch immer, der Junge hatte noch ein paar Minuten Zeit, bis zu seinem Tod. Trotzdem wollte ich es schnell hinter mich bringen und hoffte, dass die Frau mich nicht zu lange aufhielt.
"Du kannst mir nicht befehlen zu gehen", protestierte ich. "Ich bin der Todesengel und habe die Aufgabe, seine Seele zu holen." Dabei wies ich auf den Jungen, der schwach atmete. Er war bis zum Hals zugedeckt, deswegen wusste ich nicht, woran er starb. Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt, vielleicht raffte ihn eine schwere Krankheit dahin. Vor Wut biss ich mir auf die Unterlippe. Ich wollte nicht, dass er starb, aber ich hatte keine Wahl. Den selben Fehler wollte ich nicht zweimal machen.
"Ich weiß", antwortete die Frau und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Ich kenne dich, Jolerenio!"
Nun war ich vollkommen perplex, als sie meinen Namen nannte. Und sie benutzte sogar die lange Version und kürzte nicht zu 'Joli' ab, wie es die meisten Leute taten. Sonst wussten nur Tote und Untote, wie ich hieß.
"Und ich bin der Schutzengel des Jungen", fuhr sie fort, "und meine Aufgabe ist es, ihn vor allem zu beschützen. Inklusive vor dir!"
Na toll. Da hatte wohl jemand ganz schlecht geplant. Leider kannte ich mich zu wenig aus, um jemandem die Schuld zu geben. Bei Gelegenheit sollte ich den Sensenmann fragen - der mich ständig runterputzte und mir sowieso nie antwortete. Lieber doch nicht.
"Wie willst du das denn machen?", fragte ich. "Du hast es ja nicht mal geschafft, ihn vor dem zu beschützen, das ihn jetzt umbringt."
"Was kann ich denn dafür?", protestierte sie. "Es ist doch nur ein kleiner Fehler gewesen. Ich mache doch den Job noch nicht so lange."
Das erinnerte mich stark an meine Situation. Mit dem Unterschied, dass ich schließlich meinen Fehler wieder gut machen konnte. Einem Untoten konnte ich seine Seele nicht entreißen, sie waren verdammt dazu ewig auf Erden zu wandeln, ohne Erinnerung und ohne Hoffnung auf Erlösung. Während ich von einer grauenhaften Abart des Rufs gequält wurde, der dumpf klang, als würde die Seele an der Innenwand eines Sarges kratzen. Doch als Klarissa mich erkannt hatte, war sie freiwillig mitgekommen. Auf keinen Fall wagte ich mir auszumalen, was gewesen wäre, wenn nicht.
"Weißt du, das ist dein Problem, aber wenn ich nicht ..."
"Ach komm schon", unterbrach sie mich und ich spürte deutlich, wie sie ihre Taktik änderte. Sie nahm eine entspanntere Körperhaltung ein und lächelte mir freundlich ins Gesicht. "Der Kleine ist doch noch jung und kräftig. Er wird es überstehen." Sie kam einen Schritt auf mich zu und tätschelte meinen Arm. Meine Gedanken kreisten um Klarissa und ich fühlte mich unwohl. "Du kannst ihm und mir doch sicher den Gefallen tun und ihn ein andern mal holen, oder?"
Ehe sie sich versah, täuschte ich einen Ausfall rechts vor und stürmte dann links an ihr vorbei. Vermutlich hätte ich auch durch sie hindurchgehen können, wie ich es bei Wänden tat, doch ganz sicher war ich mir da nicht. Immerhin war sie kein Mensch.
Ihren entsetzten Aufschrei hörte ich, kurz bevor ich dem Jungen mit Daumen und Mittelfinger über die geschlossenen Augenlider strich. Der vertraute Farbstrudel hüllte uns ein und im nächsten Augenblick fanden wir uns im Jenseits wieder.
Mit großen Augen schaute sich der kleine Junge - oder besser gesagt: seine Seele - in der Gegend um, doch ich schob ihm wortlos auf das große Tor zu.
Schon oft hatte ich mich gefragt, was wohl dahinter lag, denn außer einigen Schatten, die gelegentlich vorbei glitten, war nichts zu sehen. So oft schon hatte ich Seelen in diese kahle Gegend gebracht, ohne dass ich selbst jemals durch das Tor geschritten war. Um uns herum verschwand der Boden im Nebel, doch mittlerweile wusste ich, dass dort das Jenseits endete und man sich in der Welt der Sterblichen wiederfand.
Sachte schob ich den Jungen zum Schreibpult neben dem Tor, an dem der faltige Alte mit seinem Federkiel saß.
"Name?", fragte er den Neuankömmling und fing an, auf ein leeres Pergament zu schreiben. "K... Kevin S... Seiler", stotterte der Junge unbeholfen und wurde von dem Schreiber unterbrochen.
"Ja, ich erinnere mich." Er setzte seine krakelige Unterschrift unter die wenigen Zeilen. "Schau mal, Kevin, deine Eltern sind leider noch nicht hier. Aber da, hinter dem Tor, wartet dein Urgroßvater auf dich. Willst du ihn nicht begrüßen?"
Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus und nachdem er eifrig genickt hatte, lief er los.
Hinter dem Tor tauchte die Hand eines alten Mannes auf, deren Haut noch fleckiger war als die vom Schreiberling. Sie schob das Tor einen Meter weit auf, um den Jungen durch zu lassen.
Ich ergriff die Gelegenheit und lief ihm nach. Nur ein paar Schritte weit wollte ich durch den Nebel gehen, bis ich sah, was dahinter lag.
"Opa!", rief der Junge und warf sich dem Besitzer der fleckigen Hand in die Arme.
Das rostige Tor begann quietschend, sich wieder zu schließen.
Gerade wollte ich an den beiden vorbei treten, da erschien ein Schatten vor mir und zwang mich zum Anhalten, wenn ich nicht dagegen laufen wollte.
"Wo willst du denn hin, Grünschnabel?"
Oh nein, dachte ich, als ich die Stimme des Sensenmannes hörte, der sich im nächsten Moment aus dem Nebel schälte. Mit einer Handbewegung scheuchte er mich zurück hinter das Tor.
"Du hast da nichts verloren", belehrte er mich, während er selbst aus dem Tor trat und es hinter sich schloss.
"Du willst mir ja nicht sagen, was dahinter ist", wälzte ich die Schuld auf ihn ab. "Also wollte ich selbst gucken gehen."
"Quatsch nicht und geh wieder an die Arbeit!"
Mit schweren Schritten trat der Sensenmann an das Schreibpult, seine schwarze Kutte wiegte leicht bei jedem Schritt. Wohlgemerkt hatte ich ihn noch nie mit Sense gesehen. Wahrscheinlich war das nur eine Erfindung der Menschen. Aber wo hatten sie eigentlich die Idee her?
"Hey, altes Haus", grüßte der Sensenmann. "Warum hatte der Junge eben kein Formular dabei?"
Der Schreiber legte seinen Federkiel beiseite und ließ einige Blätter in der Klappe seines Pults verschwinden.
"Hat es im Eifer vergessen", antwortete er knapp. "Sei doch so nett und nimm es mit, damit er keine Schwierigkeiten bekommt." Der Alte reichte ihm die Zeilen.
Der Sensenmann nahm sie entgegen, bevor er mich anfuhr. "Trödelst du wieder hier herum? An die Arbeit!"
Ich aber blieb wo ich war. Etwas Wichtiges fehlte. "Wo ist Klarissa?"
Untypischerweise schwieg der Tod, was mir das ungute Gefühl gab, dass etwas nicht stimmte. Sonst wies er mich sofort schroff ab, wenn
ich ihn etwas fragte. Mein Blick wanderte zum Schreiber, der sich wortlos wieder seinen Formularen zuwandte, und zurück.
"Hey, was ist? Ich habe euch was gefragt!" Meine Stimme klang panischer als ich beabsichtigt hatte. Das Schweigen der beiden war mir noch unerträglicher als die ständige Tyrannisierung des Sensenmannes.
"Sie wollte wiedergeboren werden", antwortete er endlich und mit weniger Härte in der Stimme, als ich sonst von ihm gewohnt war.
"Was?", rief ich fassungslos. "Das hätte sie niemals getan, ohne sich von mir zu verabschieden!" Klarissa liebte mich doch und ich sie. Sie hatte versprochen, immer beim Tor zu bleiben, damit wir uns sehen konnten. Bei meinem letzten Besuch war sie noch da gewesen. Und sie hätte mir doch erzählt, wenn sie eine Wiedergeburt geplant hätte, aber nicht mal angedeutet hatte sie es. Allerdings, soweit ich mich erinnern konnte, hatte mich der Tod noch nie belogen.
"Sie wollte keine Ewigkeit lang hier auf dich warten, bis du endlich Zeit für sie hast. Also haben wir ihr eine Wiedergeburt vorgeschlagen und ihr geraten, gleich zu gehen, weil eine günstige Stelle frei war."
"Günstige Stelle frei?", schrie ich ihm voll Zorn ins Gesicht. "Ihr seid schuld, dass ich meine Freundin nicht mehr sehen kann! Ihr habt mich zu diesem Schicksal verdammt, ihr scheucht mich ständig herum. Ihr wollt nur, dass ich unglücklich bin!"
Wäre ich nicht zu stolz zum Weinen gewesen, wäre ich in Tränen ausgebrochen. So aber drängte ich sie mit einem Biss auf die Unterlippe zurück und fuhr herum. Die beiden hielten mich nicht auf, als ich auf den Nebel zulief, aus dem ich gekommen war.
"Er wird nicht Amok laufen", flüsterte der Sensenmann dem Schreiber zu. Für gewöhnlich hätte ich das überhört, doch nun zeigte es mir ein weiteres Mal, dass sie mich kontrollierten.
Kaum erreichte ich den Nebel, hüllte mich der vertraute Farbstrudel ein. Nein, ich würde wirklich nicht Amok laufen, doch nicht, weil ich nicht wollte - ich konnte nicht. Ohne dass die Seele nach mir rief, konnte ich sie nicht von ihrer Hülle befreien. Und die Erfahrung, die meine erste und letzte 'Arbeitsverweigerung' mit sich brachte, war zu bitter gewesen, als dass ich sie jemals wiederholen wollen würde. Ich war gezwungen, weiterhin Seelen zu sammeln und einem fremden Willen zu dienen, bis sie mir irgendwann gestatten würden, einen Nachfolger zu suchen, dem ich die gleiche Last aufbürden konnte. All dies musste ich tun, doch ohne den Trost meiner geliebten Klarissa.
Kaum verblasste der Farbstrudel, erinnerte ich mich genervt an das, was vor meinem Besuch im Jenseits geschehen war. Die Schutzengelin stand noch so halb herumgedreht da, wie ich sie verlassen hatte, denn in der Zeit war keine einzige Sekunde vergangen.
Sie führte die Bewegung zu Ende und klatschte mir dabei mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich vernahm das lang gezogene Piepen der Herzmaschine wie einen Tinitus.
"Mistkerl!", schimpfte sie, dann ließ sie die Hand sinken. Während ich meine Wange brennen spürte sah ich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. "Er war doch noch so jung."
Mit dem Gesicht in der Armbeuge stürmte sie hinaus, direkt durch die geschlossene Tür hindurch.
"Warte doch", rief ich ihr hinterher, obwohl ich wissen müsste, dass jeder Erklärungsversuch sinnlos war. Ich wollte ihr folgen und lief mit voller Wucht gegen die Tür, bevor ich mich darauf konzentrierte, meinen Körper durchlässig zu machen.
"Verflucht", schimpfte ich und rieb mir die Stirn, als ich endlich auf den Gang hinaus trat. Dort sah ich wieder die Engelin, die heulend davon lief und nicht auf die Menschen in ihrem Weg achtete, und rief ihr hinterher: "Ich kann doch nichts dafür!"
Dann fiel mir ein, dass ich lieber nicht im Krankenhaus umher laufen sollte, da es passieren konnte, dass einige der Patienten mich sahen. Denn ich wollte nicht, dass sie mich sahen und sich zu Tode erschreckten, sodass ich für ihren Tod verantwortlich wäre. So ähnlich war es auch bei Klarissa gewesen. Sie hatte mich gesehen und wollte zu mir laufen. Direkt über die Straße, ohne auf die Autos zu achten. Und ich war noch so blöd gewesen und hatte ihren Namen gerufen, was sie erst auf mich aufmerksam gemacht hatte.
Ein neuer Ruf riss mich aus meinen Gedanken und erinnerte mich an meine qualvolle Aufgabe. Ohne mich um die Leute zu kümmern, die in das Zimmer des toten Jungen stürmten, verließ ich das Krankenhaus durch die Wände.
Als mein Fuß ins Leere trat, verwandelte ich mich in eine Krähe und flog dem Ruf, der mir irgendwie vertraut vorkam, entgegen. Unterwegs entdeckte ich sogar einige weitere Krähen, die mich irgendwie zu grüßen schienen.
Diese Vögel waren mehr als nur Tiere, deren Aussehen ich annehmen konnte. Sie konnten mir auch ihre Gedanken mitteilen, waren meine Augen und Ohren, auch wenn ich sie bisher nicht als solche gebraucht hatte. Boten des Todes waren sie, Boten von mir. Doch warum es ausgerechnet die Krähen waren, konnte ich nicht sagen. Ich mochte sie, insofern störte es mich nicht, ich dachte nur gelegentlich darüber nach.
Den Sensenmann hatte ich noch nie in Gegenwart der schwarzen Vögel gesehen. Nun, eigentlich war ich ihm nur einmal außerhalb des Jenseits' begegnet und das war in der Nacht gewesen, als er mich zum Todesengel machte und somit zu seinem Nachfolger ernannte. Es musste nichts heißen. Und überhaupt brachte es nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Am Straßenrand landete ich in der Krone einer Linde, neben einer weiteren Krähe, die zu einem Fenster im Wohnhaus gegenüber blickte. Irgendwo hinter den geschlossenen Jalousien befand sich die Quelle des Rufs. Ich fragte mich, ob die Krähe was damit zu tun hatte. Ob diese Vögel die Todgeweihten ausspähten?
Fragend schaute ich zu der Krähe neben mir, die sich ohne Antwort in die Luft schwang. Vielleicht irrte ich mich auch, was das Ausspähen betraf.
Nun flog ich los und landete auf dem Fensterbrett vor meinem Bestimmungsort. Diesmal gelang es mir sogar, während der Rückverwandlung durch die Wand zu gleiten, und setzte in menschlicher Gestalt etwas tollpatschig auf dem Fliesenboden auf.
Ich befand mich in einem sehr kleinen Badezimmer, dessen Wände und Boden grün waren. Schräg von mir, rechts neben der Tür, befand sich eine genauso grüne Badewanne, kombiniert mit einem Duschvorhang, der zur Seite gezogen war. Davor saß jemand auf den Fliesen, dessen Seele ich schon einmal hatte holen sollen. Damit wusste ich auch, wieso mir der Ruf bekannt vorkam.
"Oh nee, nicht du schon wieder." Der junge Mann, der vor der leeren Badewanne gesessen hatte, sprang auf und ließ vor Schreck das Messer fallen, das er über sein linkes Handgelenk gehalten hatte. "Musst du mich ständig stören?", blaffte er und riss die Tür hinter sich auf, blieb aber dort stehen.
"Dann hör auf, dich ständig umbringen zu wollen", konterte ich mit einem Schulterzucken, das eher daher rührte, dass ich selbst mit der Situation nichts anfangen konnte.
Als ich diesen Mann das letzte Mal gesehen hatte - das war vor Klarissas Unfall gewesen, also bevor ich wusste, dass Todgeweihte, deren Seelen ich nicht holte, zu Untoten wurden - hatte er auf dem Dach einer alten Fabrik gestanden und wollte springen. Ungeschickt wie ich war hatte ich versucht, ihn davon abzuhalten. Die Sache endete damit, dass er sprang, ich in Krähengestalt an ihm vorbei rauschte und ihn unten nach einer schnellen Rückverwandlung auffing. Damit war auch sein Seelenruf verstummt, aber gesehen hatte er mich weiterhin.
Nun merkte ich ebenfalls, dass seine Seele nicht mehr rief.
"Du bist eben aus der Wand gekommen", bemerkte er. "Ich hab's genau gesehen. Letztes Mal hast du dich in eine Krähe verwandelt, jetzt läufst du durch Wände. Und du hältst mich ständig vom Sterben ab. Was bist du für ein kranker Mistkerl?"
Dieser Mann war nicht zu einem Untoten geworden, auch wenn ich seine Seele nicht geholt hatte. Das wunderte mich im Nachhinein, doch vielleicht gab es dafür eine logische Erklärung: Sein Körper war noch lebensfähig. Es gab keinen Grund, wieso er sterben sollte.
"Also eigentlich wissen das die Leute schon, wenn sie mich sehen", antwortete ich, weil ich seine Frage für bare Münze nahm. Was sollte ich auch sonst sagen? Hallo, ich bin der Todesengel und gekommen, um dich zu holen. Gib mir deine Seele!
"Klar weiß ich, dass du der Tod bist, Blödmann, ich spüre doch die Eiseskälte, die von dir ausgeht."
Er winkte mich in die Wohnstube und verschwand selbst irgendwo anders.
Eine Entgegnung auf seine Beleidigung hinunterschluckend entschloss ich mich, auf der Couch Platz zu nehmen. Ich hörte, wie der Mann im Nebenraum den Kühlschrank öffnete und kurz darauf wieder schloss.
"Daher verstehe ich ja auch nicht, wieso du mir dauernd das Leben rettest."
Er kam zurück und stellte eine Dose Bier vor mich auf den Tisch. Die zweite Dose in seiner Hand öffnete er mit einem Zischen und trank einen Schluck daraus, bevor er sich ebenfalls setzte. Im stillen hoffte ich, dass er nicht vorhatte, sich zu Tode zu trinken, weil ich ihm dann sicher nicht mehr helfen konnte.
"Ich finde halt, dass du nicht ohne Grund sterben solltest, keiner sollte das. Ich befürworte das Leben."
Als mein Gegenüber in lautes Gelächter verfiel, kam ich mir ziemlich dämlich vor. Es musste schon ziemlich lächerlich klingen, wenn der Todesengel sowas von sich gab.
"Der Tod - ein Befürworter des Lebens." Der junge Mann nahm noch einen Schluck. "Aber ich erkläre es dir gerne noch einmal: Meine Freundin ist mit meinem besten Freund durchgebrannt. Nun habe ich niemanden mehr. Seit du mich das letzte Mal gerettet hast, habe ich hier herum gesessen und überlegt, was für einen Sinn mein Leben noch hat. Ehrlich gesagt besteht der zur Zeit nur aus Schlafen und Bier trinken. Heute morgen habe ich einen Stapel Ermahnungen erhalten für Rechnungen, die ich nicht bezahlen kann. Hinzu kommt noch der viele andere Stress, den ich die letzten Wochen hatte." Er unterbrach sich, um einen weiteren Schluck aus der Dose zu nehmen.
Ich persönlich sah immer noch keinen Grund für ihn, um Selbstmord zu begehen. Allerdings sah ich sowieso das Leben mit anderen Augen, seitdem ich der Todesengel war. Vorher hatte mich das Thema gar nicht gekümmert.
"Du solltest lieber trotzdem nicht voreilig sein", versuchte ich es. "Ich habe durch den Tod meine Freundin verloren."
"Hörst du denn nicht zu?", stöhnte mein Gesprächspartner genervt und donnerte die Bierdose zurück auf den Tisch. "Meine Freundin ist doch ..."
"Nein, du hast mich falsch verstanden!", rief ich entsetzt aus. Schon Klarissa hatte angemerkt, dass ich in Sachen Einfühlsamkeit ein Trottel war und ich selten die richtigen Worte traf. Klarissa ... "Ich meinte, dass ich vorher nie gedacht hätte, dass ich sie jemals verlieren würde. Wenn du dich umbringst, dann könntest du etwas verlieren, von dem du jetzt noch gar nicht weißt, dass du es vermissen wirst."
War das überzeugend gewesen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Einfühlsamer Trottel, wie ich bereist sagte. Zumindest hatte ich den jungen Mann zum Nachdenken gebracht, vermutete ich, denn er blickte auf den Tisch und sagte eine Weile gar nichts. "Was heißt das, dass du deine Freundin durch den Tod verloren hast? Meinst du, du bist gestorben und sie lebt noch und kann dich nicht sehen?"
Ich schüttelte den Kopf und dachte, dass die Wahrheit noch absurder klang. "Eigentlich bin ich erst gestorben und kurz darauf sie auch."
"Also ist sie im Jenseits? Dann müsstest du sie doch besuchen können, also wo ist das Problem?"
So war es ja auch gewesen. Bis zu meinem letzten Besuch.
"Man sagte mir, sie wäre wiedergeboren worden. Also weiß ich nun gar nicht, wo sie ist, und selbst wenn ich sie fände, würde sie mich nicht sehen und erkennen schon gar nicht."
Der junge Mann seufzte. Dann warf er einen missbilligenden Blick auf meine immer noch ungeöffnete Bierdose und wechselte abrupt das Thema. "Also dieses Jenseits - wie ist es da? Wie sieht es da aus? Gibt es da Himmel und Hölle oder ist es ganz anders?"
Genau dasselbe hatte ich mich auch schon oft gefragt. Leider konnte ich darauf keine Antwort geben.
"Ich weiß es nicht", antwortete ich wahrheitsgetreu. "Wenn ich die Seelen hole, bringe ich sie in eine Art Vorort des Jenseits. Neblig ist es dort und nichts wächst."
Um meine Erklärungen zu unterstreichen, gestikulierte ich dazu mit den Händen. "Ich bringe die Seelen zu einem großen Eisentor; was dahinter ist, weiß ich nicht. Aber daneben sitzt ein alter Mann an einem Schreibpult, der Formulare für ankommende Seelen ausfüllt. Die scheinen wichtig zu sein, aber mehr weiß ich wirklich nicht."
Mein Gesprächspartner blickte teilnahmslos auf seine Bierdose herab, die vermutlich schon halb leer war. Vielleicht hatte er wirklich ansatzweise den Gedanken gefasst, sich zu Tode zu trinken, denn auf einmal schob er sein Getränk angewidert beiseite. "Du weißt also nicht, ob hinter diesem Tor noch etwas ist?"
Ich schwieg, schüttelte dann den Kopf. Schon viele Gestalten hatte ich auf der anderen Seite gesehen, doch wusste ich, ob es Seelen waren und nicht bloße Illusionen, um den Ankommenden die Angst vor dem Nichts zu nehmen?
"Weißt du, eigentlich will ich gar nicht sterben", gab er zu. "Vielmehr wollte ich meiner jetzigen Situation ein Ende machen. Ich meine, ich würde gerne alle Probleme mit einem Schlag abwerfen und nochmal ganz von vorne anfangen, ich kenne nur keine andere Möglichkeit dazu als zu sterben. Eigentlich habe ich sogar Angst vor dem Tod."
Nun blickte er auf und sah mir direkt in die Augen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass er nicht mich mit 'dem Tod' meinte, sondern eher diese abstrakte Idee vom Ende. Genau genommen war ich auch nur ein Bote.
"Alle Menschen haben doch Angst vor dem Tod", fuhr er philosophierend fort. "Wir haben Angst davor, dass danach nichts mehr kommt. Und ... und wenn deine Freundin wiedergeboren wurde, dann ... dann solltest du dich für sie freuen, finde ich."
Mit einem Seufzer lehnte ich mich zurück und ließ das Gehörte auf mich wirken. Es war vollkommen egoistisch von mir gewesen, mich über Klarissas Wiedergeburt zu beschweren. Vermutlich war es so wirklich das Beste. Meine Freundin wird schon ihre Gründe gehabt haben, um sich nicht von mir zu verabschieden.
Eine 'günstige Stelle' war frei gewesen - was hieß das? Dass ein Mensch geboren wurde, der ein langes, glückliches Leben erwarten konnte, ohne große Probleme und schwere Krankheiten? Gab es davon so wenige, von diesen 'günstigen Stellen'?
Nach einigen Minuten des Schweigens fand ich, dass es Zeit für den Abschied wurde.
"Wenn du nichts dagegen hast", entschuldigte ich mich und stand auf, "dann mache ich mich wieder auf den Weg." Sehr plump klang das meiner Meinung nach, daher fügte ich hinzu: "Und danke für deine Worte. Du hast mir sehr geholfen."
Er nickte.
Zuerst dachte ich, dass die Sache damit für ihn erledigt wäre, dann aber lächelte er überraschenderweise.
"Nichts zu danken. Immerhin hast du mir wieder einmal das Leben gerettet. Ich werde mal versuchen, mein Leben wieder in den Griff zu kriegen und wenn mir das nicht gelingen sollte ... nun ... dann sehen wir uns bestimmt wieder."
Nun erhob auch er sich und trug die beiden Bierdosen hinaus. Ich hörte, wie er im Nebenraum den Inhalt seiner halb leeren Dose in den Abfluss goss.
Damit war meine Audienz bei dem Suizidgefährdeten beendet und ich verließ die Wohnung.
Hoffentlich musste ich ihn so schnell nicht wieder besuchen.
Kaum hatte ich das Gebäude verlassen und war auf die Straße getreten, vernahm ich aus der Ferne den nächsten Ruf. Ich ignorierte ihn - vorläufig, denn ich hatte einen anderen Plan.
Als ich mich konzentrierte, wie es für das Zeit-zurückdrehen notwendig war, empfing mich wieder einmal der Farbstrudel und gab mich nach wenigen Augenblicken wieder frei. Die Umgebung hatte sich nicht verändert, außer dass es still war. Nein, nicht ganz still. Weder das Rauschen des Windes in den Kronen der Linden, noch die gelegentlichen Vogelrufe waren verstummt, und trotzdem empfand ich alles als lautlos. Denn die Seelenrufe, die Leuchtfeuer meines Schicksalsweges, waren nicht zu hören.
Im ersten Moment war es eine Wohltat, im nächsten aber spürte ich die Leere, die die fehlenden Rufe hinterlassen hatten und ich erkannte, dass meine Anwesenheit hier vollkommen sinnlos war. Doch da ich die Zeit nicht vordrehen konnte, würde ich hier warten müssen: Ich befand mich einige Tage in der Vergangenheit.
Heute würde meine Freundin Klarissa bei einem Autounfall sterben.
Nach einer kurzen Krähenverwandlung machte ich mich auf den Weg zu dem Ort. Dabei wusste ich gar nicht, was ich mir von diesem Erlebnis versprach. Was, wenn ich die Gelegenheit erhielt, Klarissa zu retten und die Gegenwart zu ändern? Würde ich sie nutzen? Oder hatte ich aus meinen vergangen Fehlern gelernt, mich nicht in den Lauf der Dinge einzumischen?
Nun landete ich auf dem Bürgersteig, in der Nähe der Stelle. Auch hier hörte ich den Ruf nicht, wusste aber, dass es hier gewesen war. Wann war es soweit?
Mich überkam ein seltsam vertrautes Gefühl, ähnlich einem Déjà-vu.
Dann sah ich Klarissa auf mich zu rennen, mit Tränen in den Augen. Immerhin war ich tags zuvor beerdigt worden.
Ich stellte mich ihr in den Weg, in der Hoffnung, dass sie mich sah, doch sie lief einfach durch mich hindurch.
Fassungslos blickte ich ihr hinterher. Als Todgeweihte hätte sie mich sehen müssen.
Doch noch etwas anderes war da gewesen.
In dem Augenblick, als wir uns berührten, hatte ich gespürt, woran sie wirklich gestorben war - an Trauer. Wäre ich nicht da gewesen, um ihren Unfall zu verursachen, wäre sie über einen langen Zeitraum hinweg zugrunde gegangen. Sie trauerte über meinen Tod. Wollte sie deswegen wiedergeboren werden, damit sie mir nicht sagen musste, dass ich der Grund für ihren Tod war?
Auf einmal hob sie ihren Kopf und ich hörte, wie sie meinen Namen rief. Sie stürmte über die Straße, zu dem Punkt, an dem ich gestanden und nach ihr gerufen hatte, doch ich sah mich nicht. Ich war kein Todgeweihter mehr, konnte mein vergangenes Todesengel-Ich nicht sehen.
Als ich das laute Scheppern vernahm, schloss ich die Augen und ging fort, damit ich Klarissa nicht noch einmal leiden sehen musste.
(geschrieben: 18.10.2007 - 27.10.2007)