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Der Eisbär und der Braunbär
Es war einmal ein Eisbär, der genug vom ewigen Eis hatte und beschloss, einen anderen Teil der Welt zu erkunden.
Nach längerem überlegen, beschloss er, über Island auf das europäische Festland zu reisen. Denn dort im Osten, so hatte er gehört, soll es riesige Wälder und hohe Berge haben. Ausserdem wollte er schon lange einmal eine dortige Spezialität ausprobieren, den Bienenhonig. So verabschiedete er sich von seiner Familie und seinen Freunden und machte sich auf den Weg. Nach ein paar Wochen erreichte er mit seiner Eisscholle tatsächlich das europäische Festland.
Er staunte nicht schlecht über die endlosen Wälder und die höchsten Berge die er je gesehen hatte, es war alles sogar noch schöner, als er es sich je erträumt hätte. Eines Tages, als er so durch diese Wälder zog, entdeckte er etwas seltsames, so etwas hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Es war ein Bär… aber nicht etwa ein gewöhnlicher Bär, nein, er war braun! „Bist du ein Bär?“, fragte der Eisbär, und begann an dessen Fell herum zu schnüffeln.
„Aber klar bin ich ein Bär!“, antwortete der Gefragte. Da fing der Eisbär an zu lachen: „Normale Bären sind doch weiss! Und ausserdem bist du auch viel kleiner als ich!“ „Ja, ja, lach du nur, wirst schon noch sehen…“, brummte der Braune „komm mit!“ Die Beiden kamen an einem kleinen See vorbei. „Wie wär’s mit einem Atem-anhalten-Wettbewerb?“, schlug der Weisse vor, worauf der Braune einwilligte. Beide sprangen ins Wasser und obwohl beide ziemlich gut schwimmen konnten, konnte der Eisbär deutlich länger tauchen. Er lachte seinen andersartigen Artgenossen wieder aus und machte sich auch über unzivilisierte Hauptnahrung des Braunbären, nämlich Pflanzen lustig. „Ihr müsst nämlich wissen“, meinte er mit wichtiger Miene, „dass man bei uns herausgefunden hat, dass Fische sehr gesund sind und deshalb zur Hauptnahrung gehören sollten.“ Während sich der Eisbär weiter über die Lebensart des Braunbären lustig machte, kamen sie an einem Baum vorbei, in dessen Innerem es summte. „Tja, ich würde sagen, nun haben wir eine gute Chance auf Honig, wird Zeit, dass du deine Kletterkünste unter Beweis stellst!“, schmunzelte der Braunbär. Der Eisbär schaute ungläubig drein. „Du meinst ich soll auf diesen Baum klettern? Vergiss es, Bären können nicht klettern!“ Der Braunbär zuckte bloss mit seinen Schultern und begann den Aufstieg. Als er eine Honigwabe ergattern konnte, liess er sich elegant hinunter rutschen und landete mit einem gekonnten Sprung auf dem Boden. Er roch genüsslich an seiner Honigwabe und verdrehte dabei seine braunen Bärenaugen. „Willst du auch ein bisschen?“, fragte er den Eisbär höflich, doch dieser war zu sehr in seinem Stolz gekränkt, als das er ein Stück annehmen konnte. Der Braunbär zuckte bloss ein zweites Mal mit seinen Schultern und verzehrte genüsslich die Bienenwabe. „Ich frage mich immer noch, warum du bloss so ein hässliches, braunes Fell hast, ein weisses Fell ist doch viel majestätischer und reiner!“
In diesem Moment hallte der Knall eines Gewehrschusses durch die Luft und der Eisbär sackte zu Tode getroffen zusammen. Der Braunbär beugte sich ein letztes Mal über ihn und flüsterte ihm zu: „Tja, da hast du jetzt wohl deine Antwort, und falls du’s noch genauer wissen willst, jedes Lebewesen ist perfekt auf seine Aufgaben und Umgebung angepasst. Sowohl Mensch als auch Tier.“ Als die Jäger näher kamen, machte sich der Braunbär aus dem Staub.