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Der einundzwanzigste Tag
Der Kaffee war lauwarm, wie jeden Morgen. Jona begrüßte diese Regelmäßigkeit. Ganz gleich, ob er in einem Hotel in Stockholm, Singapur, Sao Paulo oder San Francisco frühstückte, seit die Sache mit den Himmelsbotschaften angefangen hatte, bekam Jona seinen Kaffee lauwarm serviert. Denn entweder kamen die Mädchen auf dem Weg von der Kaffeemaschine zu seinem Frühstückstisch an einem Fenster vorbei oder an einer Zeitung. In beiden Fällen hielten sie in der Bewegung inne und starrten sprachlos in den Himmel oder auf die Schlagzeilen. Mitunter war beides identisch.
Heute war es ein Gedicht von Max Zimmering, das den Himmel über Nambour füllte und die Aufmerksamkeit der Serviererinnen in Anspruch nahm. Sie stellten Jonas Kaffee auf dem Fensterbrett ab und begannen zu diskutieren, von wem der Vers stammte und ob er in den vergangenen Tagen nicht vielleicht schon einmal am Himmel erschienen war. Jona schüttelte den Kopf.
„Das ist das Abschiedsgedicht von Max Zimmering, das er nach seiner Freilassung schrieb: Good-bye! Leb wohl, du Land der vielen Schafe, / Der Känguruhs, der Emus, Papageien. / Ich werde dich in mein Gedächtnis reihen / Und an dich denken noch im tiefsten Schlafe. Bekomme ich jetzt meinen Kaffee?“
Also war auch der Kaffee in Nambour, einer Kleinstadt an der australischen Küste nördlich von Brisbane, lauwarm. Jona seufzte. Es war drei Wochen her, seit der Himmel beschlossen hatte, poetisch zu werden. Heute vor einundzwanzig Tagen war es losgegangen.
Kurz zuvor hatte bereits eine bolivianische Zeitung berichtet, dass sich über dem Altiplano die Wolken zu Worten geformt und den Refrain einer alten Hymne gebildet hatten. Aber die bolivianische Presse hatte auch schon die Wiedergeburt Jesu in einem Dorf bei Tinguipaya verkündet, was ausländische Beobachter lächelnd darauf zurückführten, dass die Redakteure sich ihr Zubrot mit dem Schreiben von telenovelas verdienten, jenen schmalzig-kitschigen Fernsehserien, die ganze Großfamilien in ihren Bann zogen.
Kurzum, kein Mensch hatte den Bolivianern ihre Himmelsphänomene abgenommen. Bis die ersten Fernsehbilder aus Stockholm ausgestrahlt wurden. Und bald darauf aus Montreal, Panama City, Saigon und Taipeh. Shakespeares Sonette wölbten sich über Londons Tower Bridge, Laotse verbreitete sich über Shanghai, und die Berliner sahen fassungslos, wie Schullektüre um den Funkturm kreiste: Bedecke deinen Himmel, Zeus / mit Wolkendunst!
Jona erinnerte sich gut an den Tag, an dem er die wolkige Poesie zum ersten Mal gesehen hatte: Es war der Tag, nachdem er mit Britta Schluss gemacht hatte. Er saß in der Redaktion am Computer. Sein Schreibtisch stand schräg zum Fenster. Während er seinen Bericht über Ferraris Vorbereitungen auf die Formel 1 ins System hämmerte, waren auf seinem Bildschirm bläuliche Schatten erschienen, die er für einen Trick seiner müden Augen hielt. Doch die Schatten formierten sich zu Buchstaben. Buchstaben in Spiegelschrift, die nicht weggingen. Auch nicht als er das Programm schloss und ein anderes öffnete.
Er fuhr herum und sah aus dem Fenster: Heil dem Geist, der uns verbinden mag / denn wir leben wahrhaft in Figuren. / Und in kleinen Schritten gehen die Uhren / neben unserm eigentlichen Tag. So stand es dort über den kupferfarbenen Kirchtürmen der Hamburger Innenstadt. Rilke. Am Himmel. Jona kniff die Augen einmal fest zusammen und öffnete sie erneut. Immer noch Rilke. Warum? Er verließ die Redaktion, um es herauszufinden.
Das war vor einundzwanzig Tagen gewesen. Als er am Morgen im Berliner Odeon-Hotel seinen Frühstückskaffee bestellte, bekam er ihn in Zimmertemperatur serviert, weil just in diesem Moment die Morgenzeitungen geliefert wurden. „Hellas unter Hexametern“ hieß es da neben einem Foto der Akropolis. Und, weniger ergeben: „Paris ehrt Baudelaire“. Dazu Berichte über Massenselbstmorde, Hamstereinkäufe, Herzinfarkte und den Rekord an Auffahrunfällen.
Auf dem Tafelberg in Südafrika hatten sich 49 Schwarze erstochen, während am Himmel Texte von Peter Blum vorüberzogen. In Tibet starben 57 Mönche bei dem Versuch, in tiefer Trance den Ursprung der Worte zu erfühlen. Israelis und Palästinenser stellten augenblicklich alle Kampfhandlungen ein, weil sie erwarteten, der Himmel selbst würde den Feind in Kürze bestrafen. In Brasilien starben 5.689 Menschen an den Folgen von Alkohol, Tanz und Drogen, während sie das Erscheinen der Verse ihrer Nationaldichter am Himmel feierten. In 17 Ländern putschte das Militär, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten, unter anderem in der Schweiz und in Finnland.
Der Bürgermeister von New York plante kurzfristig, die ganze Stadt mit einem künstlichen unbeschrifteten Himmel zu überspannen, um die Bevölkerung nicht durch das unerklärliche Phänomen zu verängstigen. Ein Dutzend Architekten zeichnete in Windeseile Pläne, wonach die Antennen auf dem neuen World Trade Center eine gigantische Plastikfolie tragen sollten. Der Bürgermeister blies das Vorhaben ab, als er feststellte, dass die meisten New Yorker die Himmelsbotschaften für den Werbegag eines Telekommunikationsanbieters hielten und sich nicht im mindesten bedroht fühlten.
Dafür verklagte ein kalifornischer Immobilienhai den amerikanischen Staat, weil er den Wert seiner Grundstücke gemindert sah, wenn am Himmel „Pamphlete einer romantisierten Weltanschauung“ vorüberzogen.
Inzwischen reichte der andauernde Ausnahmezustand nicht mehr aus, um Adrenalin durch den Körper zu pumpen, und der Geist erfreute sich wieder an kleinen Regelmäßigkeiten, selbst wenn es nur ein lauwarmer Frühstückskaffee war. Jona holte die wenige Stunden nach ihrem Erscheinen schon vollkommen zerlesene Zeitung vom Nachbartisch zu sich herüber und blätterte sie durch.
Offenbar hatte die australische Regierung die Medien angewiesen, mit erster Priorität über die Ereignisse im eigenen Land zu berichten – und da es derer so viele gab, war der Auslandsteil der Zeitungen in das Ressort „Aus den Regionen“ umbenannt worden. Jona runzelte die Stirn. Eine Witwe in Dubbo hatte in der Abenddämmerung einen Ausspruch ihres vor neun Jahren verschiedenen Ehemanns am Himmel gelesen und beschwor nun die Existenz des paradiesischen Jenseits, während Nachbarn beteuerten, es hätten wie an den Abenden zuvor Verse des australischen Dichters Henry Kendall am Himmel gestanden.
In Brisbane waren aus mehreren Buchhandlungen Bände von Henry Lawson gestohlen worden, nachdem es zu Engpässen in den Druckereien gekommen war, die mit dem Nachdruck der Werke des bereits 1922 verstorbenen Schriftstellers nicht hinterher kamen. Jona blätterte weiter. Was ihn interessierte, waren nicht die wundersamen Reaktionen, die Menschen zu zeigen imstande waren, wenn etwas, was seit ihrer frühesten Kindheit auf eine bestimmte Art gewesen war plötzlich anders war. Ihn faszinierten die Theorien.
Seit zwanzig Tagen gab es davon mehr als genug. Viele junge Menschen favorisierten die Alien-Theorie, wonach Außerirdische mit der Menschheit Kontakt aufnahmen, indem sie ihr bekannte, vollkommen unbedrohliche Texte vorführte, um sie auf die Landung ihrer Raumschiffe vorzubereiten. An jeder Straßenecke gründeten sich neue Sekten, deren eifrige Führer die Erdlinge der Begegnung mit den grünen Männchen entgegen missionierten. Die Russen hielten es mit der Verschwörungstheorie. Sie glaubten, dass die seit jüngster Zeit vom Militär regierten Finnen ihr System unter- oder besser überwandern wollten und bauten das Moskauer Metro-Netz zu unterirdischen Versorgungskanälen mit Krankenhäusern, Kindergärten, Großküchen und Wodka-Brennereien aus.
Gleichzeitig legten Wissenschaftler überall auf der Welt ihre reguläre Arbeit nieder, um sich der Aufklärung der Himmelsphänomene zu widmen: Klimaforscher vermuteten einen Zusammenhang mit dem Treibhauseffekt. Religionswissenschaftler interpretierten die Apokalypse rauf und runter. Einige Mediziner glaubten, einen Gen-Defekt am menschlichen Sehnerv festgestellt zu haben. Literaturwissenschaftler suchten nach Zusammenhängen zwischen den jeweiligen Texten und der Region, über der sie erschienen waren. Außerdem forschten sie nach dem Grund für die zeitliche Abfolge der Verse. Astronomen untersuchten die sphärische Strahlung. Allein die Mathematiker wandten sich schon nach drei Tagen wieder ihren früheren Berechnungen zu: Dergleichen Himmelsbotschaften wie sie dieser Tage überall auf dem Globus auftraten, waren schlichtweg nicht möglich. Quod erat demonstrandum.
Jona legte die Zeitung weg. Er war ins Träumen gekommen. Er stand auf, zahlte an der Rezeption. Dann holte er sein Gepäck aus dem Zimmer und warf es auf den bereitstehenden Pick-up. Der Fahrer trug eine Baseballkappe, die aussah, als hätte er sie zwei Jahre nicht abgenommen. Wortlos öffnete er Jona die Beifahrertür. Dann spuckte er die Reste eines Zahnstochers aus dem Fenster auf seiner Seite und legte den Gang ein.
„Besser, du cremst dir die Nase ein, Junge“, sagte er, „noch weiß kein Mensch, ob die Worte da oben das Hautkrebsrisiko mindern.“
Jona nickte. Kein Gespräch, das nicht damit begann.
„Wie lange habt ihr’s denn schon?“
„Von Anfang an. Drei Wochen jetzt.“
„Und die Leute? Cool?“
„Cool.“
Der Pick-up rumpelte über die Piste. Jona dachte an Britta. Er stellte sich vor, wie sie in ihrem bayrischen Exil lebte, in das er sie geschickt hatte. Vielleicht saß sie auf der Bank am See, einen Kranz windzerzauster Locken um die Stirn, und im Wasser spiegelte sich Heinrich Leutholds „Der Waldsee“:
Einst kannt ich eine Seele, ernst, voll Ruh, / Die sich der Welt verschloss mit sieben Siegeln, / Die rein und tief, geschaffen schien wie du / nur um den Himmel in sich abzuspiegeln.
Jona zerklatschte eine Mücke auf seinem Bein. Eigentlich wollte er gar nicht wissen, was sich gerade in einem bayrischen Bergsee spiegelte. Ihn interessierte nicht mal, womit der australische Himmel ihn in diesen Minuten belämmerte. Er sehnte sich nach dem schlichten, unverfälschten, interpretationslosen Blau der Vergangenheit. Und er war bereit, alles zu tun, um es zurückzuholen.
In zwanzig Tagen war er so viel unterwegs gewesen, dass ihm vor lauter Jet-lag das Zeitgefühl vergangen war. Irgendwann war er abends in Carl Spittelers „Ballade vom lyrischen Wolf“ hineingeflogen, um Stunden später durch einen Gesang von Nezahualcóyotl wieder zur Erde zu schweben. Er hatte die Brasilianer feiern und Ströme von berufstätigen Japanern auf dem Weg zur U-Bahn stocken sehen, wenn sich am Himmel ein neuer Vers formierte. Er hatte Ägypter beten sehen und Polen trinken. Er war in Hawaii gewesen und in Jakarta.
Die Inder hatten ihren Luftraum gesperrt, weil sie die Schriften als heiliges Werk verehrten, das nicht durch Kondenzstreifen oder Kerosinabgase verunreinigt werden durfte. Jona hatte lauwarmen Kaffee in Malaysia und auf Madagaskar getrunken, und seine einzige Erkenntnis war bisher, dass die Dauer der Himmelspoesie mit dem Breitengrad variierte. Während die Verse am Äquator wie in Zeitlupe einer auf den anderen folgten, verweilten sie in Polnähe mehrere Stunden. Jona war sich sicher, das dies ein ernst zu nehmender Ansatz für die Lösung seines Problems war. Es gab etwas, das die Erscheinungen der Geschwindigkeit anpasste, mit der sich die Erde drehte. Folglich musste es Prinzipien geben, denen das Phänomen gehorchte.
„Wir sind gleich da“, sagte der Fahrer und steckte sich einen neuen Zahnstocher in den Mund, den er aus der Ablage neben dem Schaltknüppel zog. Er bog von der Küstenstraße ab und schlug den abschüssigen Weg zum Strand ein. Dort unten sah Jona das Dach der Tauchstation. Am Anleger dümpelten mehrere farbig angestrichene Holzboote mit Außenbordmotor. Er atmete tief durch.
Die Station war verlassen, erweckte aber den Eindruck, als wäre hier noch vor kurzem jemand gewesen. Die Tür zu dem kleinen Büro stand offen. Drinnen lief ein Tischventilator, der die an die Wand gepinnten Tauchkarten flattern ließ.
„Okay?“ fragte der Fahrer.
Jona nickte. „Ja, alles bestens.“
Er drückte ihm das Geld für die Fahrt in die Hand und hoffte, dass er ihn allein lassen würde, ohne weitere Fragen zu stellen. Der Wunsch erfüllte sich. Das Keuchen des Motors blieb noch einige Minuten in der Luft, während sich Jona in der Bucht umsah und schließlich auf den Stufen der hölzernen Veranda Platz nahm.
Ein leichter Wind strich vom Meer herüber. Jona betrachtete den Himmel. Er war blau – bis auf die weißen Schriftzüge. Jona dachte an das Prinzip, dem er auf der Spur war. Das Meer-Prinzip. Das Meer war blau. Der Himmel war blau. Der Himmel war blau, weil das Meer blau war. Wenn die Farbe aus dem Meer kam, mussten auch die Worte aus dem Meer kommen. Und wenn Jona wissen wollte, wie das möglich war, musste er hinabtauchen.
Er dachte an den blinden Fischer auf Madagaskar. Woher hatte er von dieser Tauchstation gewusst? Woher kannte er Miss Underneath?
Jona wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog das Sonnenöl aus dem Rucksack, um sich noch einmal einzucremen. Er nahm auch einen langen Zug aus seiner Wasserflasche und setzte sich wieder hin, um den Himmel zu lesen. Nicht alles, was er las, gefiel ihm. Manchmal hätte er gern gewusst, ob eine Strophe noch zu diesem Gedicht gehörte oder schon zum nächsten. Und ob die Gedichte vollständig waren.
Fünf Texte zogen vorbei, da kräuselte sich plötzlich vor ihm die Wasseroberfläche, und eine Frau tauchte auf. Er sah sofort, dass es eine Frau war, obwohl sie einen schwarzen Taucheranzug trug und unter der Last von Sauerstoffflasche und Bleiweste leicht schwankte. Im seichten Uferwasser stellte sie beides ab, zog sich die Maske vom Gesicht, die Flossen von den Füßen und wrang ihren blonden Zopf aus. Dann stand sie auf, hob Flasche und Weste auf, schlang den Riemen der Maske um ihr Handgelenk, klemmte sich die Flossen unter den Arm und kam über den Strand auf Jona zu.
Er wollte aufstehen, etwas sagen, aber sie ging geradewegs an ihm vorbei, stellte ihre Ausrüstung auf die Veranda und verschwand in dem Raum neben dem Büro. Kurze Zeit später hörte er sie duschen. Er blieb stehen, fühlte das von der Sonne spröde Geländer des Treppenaufgangs und wartete. Als sie wieder erschien, trug sie ein weißes T-Shirt und rote Shorts. Ihre Haut hatte die Farbe von Zimt. Jona vermutete, dass sie auch danach roch, traute sich aber keinen Schritt näher.
„Miss Underneath...?“
„Nenn mich Jill.“
Sie sah ihn aus meergrünen Augen an. Jona hätte nie gedacht, dass jemand so helle meergrüne Augen haben konnte. Sie brachte eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und stellte zwei Gläser auf einen Rattan-Tisch in ihrem Büro. Sie setzten sich.
„Ich bin gekommen, um etwas zu erforschen,“ begann Jona.
„Ich weiß“, sagte sie.
„Die Antwort, sie muss irgendwo dort unten sein.“
Sie nickte.
„Ich will hinunter.“
Ihr Blick blieb hell und weit über dem transparenten Halbmond ihres Cola-Glases.
„Auch wenn du tiefer tauchen musst, als je ein Mensch getaucht ist?“
Jetzt nickte er. Sie schwieg. Draußen wechselte der Himmel seine Poesie, aber sie sah nicht hin.
„Ich kann dich hinbringen“, sagte sie schließlich.
„Wann?“
Sie musterte ihn bis er sich seiner feuchten Handflächen bewusst wurde. Dann stand sie auf.
„Gehen wir.“
Sie luden die Ausrüstung in eins der Boote und legten ab. Jills Haare tanzten um ihr Gesicht. Ihr Blick streichelte die Wellen bis zum Horizont, ohne je höher zu gleiten. Jona sah sie an, als konsumiere er ihr Bild mit den Augen. Er fühlte, wie er ruhig wurde.
„Hier ist es“, sagte sie.
Sie hielten mitten im Meer. Es plätscherte dunkel gegen die Bordwand. Jona zog den Anzug an. Jill half ihm mit der Flasche und den Flossen. Zuletzt gab sie ihm eine Lampe.
„Viel Glück“, sagte sie. Dann sprang er ins Wasser.
Luftbläschen stiegen rings um ihn auf, als er eintauchte, und kleine, blauschwarze Fische umkreisten ihn. Er blieb eine Weile bei ihnen, dann begann er zu sinken. An seinen Händen und am Hals fühlte er das Wasser kälter werden. In seinen Ohren knackte es dann und wann, ansonsten war es still. Es wurde dunkel. Plötzlich spürte er etwas Festes unter seinen Füßen und schaltete die Lampe ein. Es war die Riffkante. Direkt vor ihm ging es noch tiefer hinab in eine eisige Schwärze. Er knipste die Lampe aus und ließ sich hineingleiten.
Er schloss die Augen, während er tiefer und tiefer sank. Er hatte geglaubt, vor Kälte mit den Zähnen klappern zu müssen, aber jetzt spürte er, dass ihm von innen warm wurde. Als hätte er sich einen hinter die Binde gegossen. Er bekam Lust zu kichern. Er dachte an die Bewohner von der Südseeinsel Tuvalu. Als die Himmelsbotschaften erschienen, hatten sie sich ins Meer gestürzt. Kein einziger der 9.000 Körper war gefunden worden. Ein Geräusch ließ Jona aufmerken. Etwas wie ein leises Lachen.
Kurz darauf hatte er wieder Boden unter den Füßen. Er knipste die Lampe an und sah sich um. Vor seinen Füßen lag ein dicker, roter Seestern. Direkt vor ihm stand ein regloser Schwarm großäugiger, roter Fische unter einem Riffüberhang. Er leuchtete hinein und entdeckte noch etwas Rotes dort unten. Jill strich sich die Shorts glatt. Sie saß unter dem Riff wie unter einem Baldachin. Ihr Haar tanzte um ihr Gesicht wie eben auf dem Boot.
„Habe ich – habe ich es gefunden?“ fragte Jona und wunderte sich, dass er sprechen konnte. Jill lachte.
„Was glaubst du gefunden zu haben?“
„Das Prinzip... warum die Worte am Himmel stehen. Der Ursprung muss irgendwo hier unten sein.“
Sie kicherte wie beschwipst, und ihre hellen, meergrünen Augen blitzten ihn an.
„Mein Lieber! Der Ursprung aller Dinge ist die Liebe. Hast du das vergessen?“
Ihr Lachen glitt in ein Echo ab. Jona wurde plötzlich schwindelig. Er drehte sich um seine eigene Achse und verlor den Riffüberhang aus den Augen. Als er ihn wiederfand, war Jill fort. Er wollte sie suchen, ihr sagen, dass er das, was sie da erzählt hatte, nicht verstand, dass er mehr erwartet hatte. Aber er spürte plötzlich, dass er sich entfernte, dass er aufstieg. Höher und höher. Sachte aus dem Dunkel, wie eine Daune, die erst zur Erde sinkt und dann wieder durch einen warmen Wind in die Höhe gehoben wird.
Als er auftauchte, hatte er das Gefühl, etwas sehr, sehr Wichtigem sehr nah gewesen zu sein. Atemlos sah er sich um. Seine Ausrüstung war weg. Die Flasche, die Weste, die Flossen, die Maske – sie waren fort. Nicht mal den schwarzen Anzug hatte er noch an. Stattdessen trug er eine rote Badehose, die er vor einem Jahr in Griechenland gekauft hatte. Er rieb sich die Augen und sah sich um. Er war nicht mehr im offenen Meer. Aber die Küste, die er sah, war nicht die, die er mit dem Boot verlassen hatte.
Es gab keinen Anleger mit farbigen Booten und keine Tauchstation mit hölzerner Veranda. Statt dessen lag ein Strand vor ihm mit Sonnenschirmen und bunten Strandkörben. Er schwamm näher bis das Wasser so seicht wurde, dass er waten konnte.
Über den Strandkörben kreisten Möwen, und am Ufer lagen Knäule dunkler Muscheln. Der Strand war verlassen. Nein, nicht ganz. Dort, wo vor den Dünen die Uferpromenade begann, entdeckte Jona einen Kiosk, an dem ein halbes Dutzend Jugendlicher Schlange stand. Jona tastete in der Tasche seiner Badehose und fand eine Münze. Er stellte sich hinter den anderen an.
Im halbdunklen Inneren stand ein Mädchen mit langen, braunen Zöpfen neben einer Kaffeemaschine. Wortlos, mit ruhigen, beinahe rhythmischen Bewegungen nahm sie die Münzen und reichte Kaffee in weißen Plastikbechern über die Theke. Als die Reihe an Jona kam, wies sie mit dem Blick auf eine Telefonzelle neben dem Kiosk. Dort lehnte er sich an die gläserne Tür und nahm den ersten Schluck. Der Kaffee war heiß. Jona sah über den Strand und lächelte.
Plötzlich hatte er wahnsinnige Lust, Britta anzurufen.