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Der Einsiedler
Manche machen sich Gedanken darüber, ob ein Mensch es überhaupt aushalten würde, völlig alleine in der Natur zu leben wenn er die Selbstständigkeit erreicht hat. Völlig alleine ohne einen weiteren Menschen. Es gibt jemanden, der völlig davon überzeugt ist. Wozu brauche ich Mörder, fragt dieser sich. Wozu brauche ich Schänder, Dumme und Egoisten, fragt er sich immer wieder. Die Natur tut mir nichts, wenn ich es verstehe mit ihr umzugehen.
Er lebt abseits jeglicher Zivilisation.
Ein Satz, der viel aussagt. Nun müsste jeder wissen, was gemeint ist. Ich rede von diesem Einsiedler, der in dem Klischee lebt, an das die Meisten denken, wenn sie diesen Satz hören. Der Einsiedler liebt es, durch Wälder und unberührte Gebiete zu streifen, ohne Ziel, ohne Absicht. Er liebt es, wenn das Gras an seinen nackten Füßen kitzelt.
Eigentlich will er die Menschen vergessen, aber er kann es nicht. Er ist ja selber ein Mensch. Alles an ihm erinnert ihn an einen Menschen und dennoch fühlt er sich diesen nicht zugehörig. Er ist ein Wesen für sich, außen wie ein Mensch, doch innen, da ist er eingebürgert in die völlige Natur.
Natürlich denkt er auch oft an das Gute im Menschen und sehnt sich danach. Dann kramt er in seine Kindheitserinnerungen, erinnert sich an das wohlige Gefühl der Liebe und der Geborgenheit.
Doch das Schlechte überwiegt! Selbst allzu große Liebe der Menschen bringt oft großes Unheil mit sich! Und wie oft hat ihn die viele Geborgenheit in seiner Jugend beinahe erdrückt!
Doch wie oft hat er sich in den ersten Jahren alleine gefühlt...
Aber der Einsiedler war und ist nicht am Boden zerstört, denn er hat Mittel gefunden, Mittel gegen das Gefühl des Alleinseins. Wir vergleichen die Einsamkeit immer mit dem Dasein von Menschen. Doch was ist mit dem Dasein der Natur? Der Einsiedler hat es nie vermisst, sich durch Menschenmengen zu drängeln und herumgeschubst zu werden. Er vermisst es nicht, von anderen Leuten wahrgenommen zu werden, egal in welcher Weise. Bei den Menschen kann man sich nie sicher sein, ob sie es ernst meinen mit dem was sie tun, bei der Natur schon. Der Einsiedler liebt es, wenn er durch einen Bach geht und das Wasser seine Beine geschickt umfließt. Er liebt es, wenn der Wind sich vor ihm teilt und wenn sich der weiche Waldboden unter seinen Füßen wie ein Kissen senkt. Wozu braucht der Einsiedler Angst zu haben, dass er nicht mehr wahrgenommen wird dass er unbemerkt verschwindet? Dort, dort sind doch seine Fußstapfen im jungfräulichen Schnee, dort neben den Vogelfüßchen!
Die Natur nimmt ihn viel deutlicher wahr als die Menschen...
Eines Tages geschieht es, dass der Einsiedler ein Dorf entdeckt. Es liegt in einem Märchental, umzäumt von hohen, schneebedeckten Bergen, an einem Gebirgsbach, der plätschernd die Wiesen streichelt. Der Einsiedler weiß, dass er vorbeigehen muss, die Zivilisation bringt ihm nur Unheil! Schnell fliegt er - den Blick starr geradeaus gerichtet - an allem vorüber.
Weg hier!
Doch da stutzt er. Beinahe hätte er in seiner Hetze eine Schnecke zertreten. Vorsichtig bückt er sich und hebt das kleine Tierchen auf. Wie ungerecht! Nur wegen ihm wäre die Schnecke fast gestorben! Nur Unheil brachte ihm die Zivilisation!
Ein Schrei weckt ihn, holt ihn aus seinem Schneckenmitleid. Er schaut auf. Dort drüben liegt ein Kind. Es ist den Hang runtergestürzt, wollte bloß ein bisschen klettern.
Der Einsiedler versteckt sich hinter einem Gebüsch und beobachtet das plötzliche, aufgeregte Treiben unten im Dorf. Menschen eilen aus ihren Häusern, Geschrei und Geflüster vermischen sich zu einem unheimlichen Sausen, das nun in der klaren Bergluft liegt. Ein schreckliches Unglück ist passiert, hier in dem friedlichen, unschuldigen Weiler.
Doch was kümmert es den Einsiedler? Er sitzt immer noch regungslos in seinem Versteck und kneift die Augen zusammen. Was passiert da eigentlich, fragt er sich. Er versteht es nicht mehr, hat vergessen wie es geht, das Unglück der Menschheit ernst zunehmen.
Die Schnecke ist fort, weggekrochen.
Unten im Dorf haben sich alle am Unglücksort versammelt. Nun hört man Schluchzen und Wehklagen. Der Einsiedler krabbelt aus seinem Versteck. Er weiß, dass schreckiches passiert ist, er weiß auch, dass er selber keine Gefühle mehr hat. Sonst würde er um das Kind weinen.
Vielleicht hätte er doch bei den Menschen bleiben sollen, zusammen mit anderen leben sollen. Dann hätte er die anderen glücklich machen können...und unglücklich...