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Der Einsiedler
Er geht den Weg entlang, der an einen Trampelpfad erinnert. Vielleicht von Gämsen erschaffen. Das könnte jedenfalls ein Fremder denken. Er verläuft schräg über eine braun-grasige Wiese, im steilen Gelände des großen Berges über der Baumgrenze.
Links geht es tief ins Tal hinunter. Dort, tief unten, ist sein Großvater und ihre drei Ziegen. Dort unten ist es sicher, nicht aber hier oben. Rechts von ihm reckt sich die Wiese den Berg hinauf, gezeichnet von dem Pfad, der wie eine Schlange hinauf klettert. Es sind keine Schilder am Weg. Keine Brücken, die über die vielen Bächlein führen, die sich den Weg ins Tal bahnen. Keine Menschenseele. Nur Amir. Der kleine Junge. Es ist kurz nach 6 Uhr. Das sagt ihm die Sonne, die langsam über den Gipfel des großen Berges steigt.
Amir macht einen lausbübischen Eindruck in seiner grün-braunen Hose, die sicher mal eine andere Farbe hatte. Einen verzottelten Pullover, wird von dem kühlen Wind an seinen Körper gedrückt. Und mit einer Wollmütze, die er bis zu den Augenbrauen runtergezogen hat, steigt er den Weg hinauf.
Seine braunen Augen tränen vom Wind, der eine kalte Luft mit sich bringt. Seine Hände sind steif und taub von der Kälte. Er muss immer wieder nachschauen, ob er den Kessel noch in der Hand hält, den er von seinem Großvater mitgegeben bekommen hatte.
Er kommt zu einem Felsen. Der Pfad geht um den großen Stein herum, um wieder eine steile Richtung den Berg hinauf einzuschlagen. Neben dem Felsen ist eine krüpplige, kleine Tanne. Der einzige Baum in dieser Höhe. Er bewundert die Tanne. Es ist rau hier oben. Wie überlebt die Tanne den Winter? Momentan ist es früher Herbst und der Tau verwandelt die restlichen Pflanzen in einen bröseligen und eisigen Teppich. Sie scheint keine Hast zu haben. Amir kann jedenfalls nicht behaupten, dass die Tanne, seit er sie zum ersten Mal vor 6 Jahren gesehen hatte, gewachsen sei. Sie scheint mit ihrer Größe zufrieden zu sein. Ihren Sonnenplatz macht ihr jedenfalls niemand streitig.
Amir geht um den Felsen neben der kleinen Tanne herum. Der Stein ragt auf der Rückseite über den Weg und bietet, wenn auch nur spärlich, ein bisschen Windschatten. Der Stein ist angeschwärzt. Im Winter muss Amir Holzscheiten mitnehmen, um ein kleines Feuer zu entfachen, damit seine Hände und Füsse nicht abfrieren. Heute hockt er sich unter den Felsvorsprung und stellt den Kessel aus Blech neben sich. Er reibt sich die Hände, um sie aufzuwärmen. Seine rechte Hand, die den ganzen Weg einen eisernen Griff halten musste, schmerzte als wieder Wärme in die Finger geleitete. Er holt ein Stück Brot und einen Salamizipfel aus seiner schmutzigen Hosentasche und isst, ohne einen Krümel auf den Boden fallen zu lassen. Zu trinken hat er nichts für sich. Der Kessel mit der Ziegenmilch darf er nicht trinken. Mittlerweile ist die Sonne genug hoch, um die steile Seite des großen Berges langsam aufzutauen. Amir beschließt weiterzugehen. Es ist nicht mehr weit.
Der Weg hat nun seinen höchsten Punkt erreicht. Wenn man es überhaupt als Weg bezeichnen kann. Hier oben ist der Weg in Amirs Kopf. Er kennt die Steine, die ihn zum Einsiedler führen. Er geht ein Stück hinab und hüpft geschickt um einen Felsvorsprung auf die andere Seite des Berges. Nun hat er sein Ziel im Blick. Eine kleine, lodderige Holzhütte mit einem Sockel aus gestapelten Steinen. Die Hütte wirkt verlassen. Sie strahlt keine Geborgenheit aus, auch nicht in dieser rauen Landschaft. Es scheint, als gehöre das Häuschen zum Berg. Amir kann nur vermuten, wie es im Inneren aussieht oder wie der Einsiedler aussieht, er hat ihn nie gesehen. Aber von ihm gehört.
Der Kessel mit der Ziegenmilch ist verbeult. Ein gleicher Kessel steht auf der schiefen Steintreppe vor dem Haus, ohne Milch aber mit einem kleinen Glasfläschchen mit einer dunkelroten Substanz im Inneren. Schon unzählige Male hat er die Kessel ausgetauscht. Ziegenmilch hingestellt, den Kessel mit dem Fläschchen mitgenommen. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf an der Türe zu klopfen. Eigentlich jeden Tag, wenn er die Milch bringt. Doch er hat zu große Angst vor dem Mann. Er hat Angst vor der Geschichte über den Einsiedler im loddrigen Haus. Sein Großvater warnte Amir davor den Mann zu stören. Er geht zur Treppe ohne einen Blick in die dunklen Fenster zu wagen. Das drückende Gefühl beobachtet zu werden probiert Amir so gut, wie es geht zu verdrängen. Schnell nimmt er den bereitgestellten Kessel und verschwindet über die Steine, um den Felsvorsprung wieder auf die steile Seite des Berges. Geschafft! Bevor er den Abstieg in Angriff nimmt schaut er ins Tal. Tief unten kann man ein Dutzend Dächer erkennen. Im kleinsten Haus am Rande des Dorfes lebt Amir mit seinem Großvater und ihren drei Ziegen.
Sein Großvater war Käser und dessen Vater war auch Käser, wie auch Amirs Vater Käser war. Als Amir noch ein Kleinkind war, ist sein Vater bei einem Nachtausflug auf den See mit dem damaligen Dorffischer Erkan nicht mehr zurückgekehrt. Seine Mutter kennt er nicht. Seit Amir denken kann, lebt er bei seinem Großvater.
Als Amir zehn Jahre alt war, kam sein Großvater einige Tage nicht nach Hause. Er war auf der Suche nach Kräutern am steilen Hang des großen Berges. Amir verbrachte viele Nächte weinend um seinen Großvater. Er dachte er wäre allein. Der Letzte der Käserfamilie. Das Einzige was er noch hatte waren die Ziegen.
Doch sein Großvater kam zurück.
An einem Sommerabend stolperte er in das Häuschen und fiel vor Amirs Füsse auf den staubigen Steinboden. Er war geschwächt und zitterte am ganzen Körper. Amir versuchte seinen Großvater zu stützen, jedoch ohne Erfolg. Er scheint als hätte er Angst. Große Angst. Er schaute Amir zitternd und mit glasigem Blick an. Amir erkennt ein gequältes Lächeln im Gesicht seines Großvaters, doch die pure Angst erobert nach wenigen Sekunden wieder ihren Platz. „Großvater, was ist mit dir?“ fragte Amir mit tränenden Augen. Amir stand wie gelähmt vor seinem Großvater, den er noch nie in diesem Zustand gesehen hatte.
Langsam konnte Amir wieder klar denken. Er rannte zur Tür und wollte Hilfe von den anderen Dorfbewohnern holen. Gerade als er die Türe öffnen wollte, hörte er ein schaumiges Stöhnen von seinem Großvater. Er drehte sich um und sah wie eine zitternde Hand ein kleines Fläschchen fallen ließ. Amir hob das Fläschchen mit der dunkelroten Substanz auf und schaute wieder zu seinem Großvater. „T…trinken“, stöhnte er und sperrte mit zitterndem Kiefer sein Mund auf. Amir öffnete das Fläschchen und ein scharfer Geruch stieg in seine Nase. Ohne zu zögern, kippte er die dunkelrote, klumpige Flüssigkeit in das Maul seines Großvaters. Nach wenigen Sekunden hörte sein Zittern auf, der glasige Blick wich aus seinen Augen, die sich jedoch langsam schlossen. Er lag nun auf dem Boden ohne sich zu bewegen. „Tot“, dachte sich Amir. „Bitte nicht, bitte nicht.“ Er beugte sich über seinen Großvater und stellte erleichtert ein schwaches Atmen fest. „Er schläft“, dachte sich Amir und musste sich erstmal hinsetzen.
Am nächsten Morgen sass Amir immer noch auf dem Stuhl neben seinem Großvater. Plötzlich bewegte er sich. Amir sprang auf. „Großvater, hörst du mich?“ fragte er mit wimmernder Stimme. „Amir? Gott sei Dank“, sagte der Großvater als er seine Augen geöffnet hatte. „Ich habe geträumt, oder? Das kann nicht wahr sein. Ich habe schreckliche Dinge gesehen mein Junge.“ Amir hörte gar nicht hin und warf sich in die Arme seines Großvaters. Überglücklich über seine Heimkehr. „Wie geht’s unseren Ziegen?“, fragte der Großvater. „Denen geht’s gut, keine Sorge“, sagte Amir hastig. „Was hast du gesehen? Was hast du erlebt, Großvater?“
Dann erzählte der Großvater die Geschichte.
An dem Tag als ich aufbrach um am großen Berg Kräuter zu sammeln, schien die Sonne. Ein wunderbarer Tag. Als ich die Wiese am Berg hochging und nach Kräutern Ausschau hielt, erkannte ich einen Weg. Der Weg schien lange vergessen und nicht mehr benutzt. Er war zum großen Teil überwachsen von Gras und Gestrüpp. Ich erinnerte mich, dass mein Vater mir erzählt hat, dass früher ein Einsiedler auf dem Berg wohnte. Er war freundlich, wollte seine Ruhe, kam aber ab und zu ins Dorf um Fisch von Erkan und Käse von meinem Vater zu kaufen. Er hatte immer eine grün-weiß karierte Latzhose an und ein Barett auf dem Kopf.
„Der Weg stammt von früher, als der Einsiedler den Berg auf und ab ging.“, dachte ich mir.
Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht und bin weiter den Spuren des Pfades entlang gegangen. Ich hatte noch nicht genug Kräuter und hoffte, dass ich weiter oben noch welche finden würde.
Der Großvater hält kurz inne. Er schaut auf seine Hände. Sie beginnen leicht zu zittern. Er schaut zu Amir und sieht seinen unruhigen Blick. Dann lächelt der Großvater und sagt: „Keine Sorge mein Junge. Es geht mir gut.“
Er atmet tief ein und setzt mit der Geschichte fort.
Als ich genug Kräuter gesammelt hatte, wollte ich wieder ins Tal. In der Ferne hörte ich ein tiefes grollen. „Das muss ein Gewitter sein.“, dachte ich mir. „Schnell ins Tal so lange die Sonne noch scheint.“ Kaum hatte ich diesen Gedanke, ging alles sehr schnell. Schwarze, große Wolken wanderten über den Berggipfel und innerhalb von wenigen Minuten regnete es aus Kübeln. Es regnete, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich konnte nichts mehr sehen. Die Kräuter im Korb waren bereits völlig durchnässt. Verzweifelt suchte ich nach einem Unterschlupf, als plötzlich eine Hütte aus dem Vorhang aus Regen auftauchte. Ohne zu zögern ging ich auf die Tür zu und klopfte drei Mal. Nichts. Nochmal dreimal geklopft und wieder Nichts. Die Tür war verschlossen. Ich ging auf die andere Seite des Hauses um durch ein Fenster zu schauen. Dann sah ich ihn.
Der Mann hatte lange, schneeweiße Haare, sodass man das Gesicht nicht sehen konnte. Ich klopfte an das Fenster und wartete auf die Reaktion des Mannes. Ich stellte fest, dass er eine grün-weiß karierte Latzhose anhatte und ein Barett auf dem Kopf. Gerade als mir wieder der Einsiedler in den Sinn gekommen ist, von dem mein Vater erzählte, stürzte sich der Mann ans Fenster. Ich erschrak und viel Rückwärts auf den Wasser getränkten Boden. Im gleichen Moment schlug ein Blitz direkt in das lodderige Haus ein und ich hört nichts mehr. Es pfiff in meinen Ohren. Ich sah, wie der Mann aus dem Fenster kam. Er schien zu schweben. Ich traute meinen Augen nicht. Der Einsiedler, der angeblich vor vielen Jahren gelebt hatte, existierte immer noch. Als er näher kam wich jegliche Körperwärme aus mir. Es fühlte sich an als würden meine Organe gefrieren. Der Einsiedler hob mich auf und schleppte mich mit ins Haus. Ab diesem Zeitpunkt war ich Ohnmächtig. Ich hörte denn alten Mann Sprechen.
„Wer wagt es mich zu stören?“ sagte er in einer aussergewöhnlich ruhigen Stimme.
„GEH, GEH! SOFORT GEH!“ - Dunkelheit
Als ich aufwachte lag ich etwa 20 Meter vom Haus entfernt. Ich rappelte mich auf und floh in Windeseile Richtung Tal. Etwas stimmte nicht. Ich war schwach und wurde immer schwächer. Ich war völlig unter Schock aber das war nicht nur der Schock. Er hatte etwas genommen von mir. Etwas fehlte an mir. Es fühlte sich an als hätte er meine Seele gestohlen.
Ich fing an immer häufiger zu stolpern. Meine Sicht wurde verschwommen. Plötzlich bemerkte ich etwas in meiner Hosentasche. Etwas, was ich bestimmt noch nie vorher gesehen hatte. Ein Glasfläschchen mit etwas Dunkelrotem im Inneren. Ich wusste nicht was es ist. Ein Gift? Oder ein Gegengift? Oder etwa meine Seele?
Als ich gestern ins Haus kam fühlte ich mich kurz vor dem Sterben. Die Flasche hielt ich für den einzigen möglichen Ausweg. Es hat geholfen.
„Und jetzt bin ich hier“, sagte der Großvater und versuchte zu lächeln. „Aber Großvater, du zitterst ja wieder. Ich habe Angst“, sagte Amir besorgt. „Es geht mir gut. Das Zittern kommt mit dem Alter, mein Junge. Mach dir keine Sorgen um mich.“ Amir glaubte aber seinem Großvater nicht. Er war immer noch krank. Er wollte es nur nicht zugeben. Doch er liess sich von ihm beruhigen und hoffte, dass sein Großvater wieder gesund wird.
Am nächsten Tag standen beide am Morgen am Frühstückstisch und beteten und bedankten sich für das Essen. Wie früher. Amirs Großvater machte jedoch einen schlechteren Eindruck als am Vortag. Sein Zittern verstärkte sich wieder. Er konnte nur noch mit Mühe reden und Amir war es nicht mehr wohl. Er sagte dem Großvater er solle sich hinlegen. „Ich melke heute die Ziegen. Du musst dich ausruhen“, sagte Amir. Der Grossvater weigerte sich zuerst. Als er schließlich eingewilligte und sich hingelegt hatte, wurde sein Zustand von Stunde, zu Stunde schlechter. Amir geht mit dem Kessel zu den Ziegen und beginnt zu melken. Die ganze Zeit über muss er an die Geschichte seines Großvaters denken. „Der Einsiedler auf dem Berg hatte ein Gegengift mitgegeben. Aber wieso? Wieso sollte er das tun? Wollte er etwa, dass jemand das Gegengift holt um Großvater am Leben zu halten? Jemandem wie mich?“ Das muss es sein“, dachte er sich und stürmte, ohne lange zu zögern los. In seiner rechten Hand hält er den Kessel mit der Ziegenmilch. „Vielleicht ist der Mann nett, wenn ich ihm etwas zum Trinken bringe.“, dachte sich der zehnjährige Amir. Für den kleinen Jungen schien dies die einzige Möglichkeit zu sein, seinem Großvater das Leben zu retten.
Er hat den Pfad gefunden, von dem sein Großvater erzählt hatte. Als er nach einem langen Marsch die Hütte gefunden hatte, stand da tatsächlich ein Glasfläschchen auf der Steintreppe vor dem Haus. Amir nahm seinen ganzen Mut zusammen und rannte zur Treppe, stellte die Milch hin und nahm das Fläschchen mit.
Amir ist jetzt 16 Jahre alt und geht jeden Tag auf den Berg zum alten Mann, um seinen Großvater am Leben zu halten.
Amir steht immer noch auf dem Berg und schaut ins Tal auf das kleine Dorf. Als er aufbrechen wollte, zieht ein Gewitter auf.
ENDE