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Der Einsiedler
Es war tiefster Winter und der Schnee bedeckte den Berg und seine Wälder. Auf einem Felsvorsprung stand eine unbeholfen zusammen gezimmerte Holzhütte, aus dessen Schornstein, den man eher als überdecktes Loch in der Decke bezeichnen sollte, wenig, aber gleichmäßig grauer Rauch emporstieg. Das Dach war mit Stroh bedeckt und ächzte unter der Belastung des Wetters. Ein kleines Fenster ermöglichte den Blick ins Innere. Dort gab es nur einen Raum und in diesem befanden sich lediglich die nötigsten Dinge zum Überleben. Der größte Stolz allem war wohl ein robuster, mit Tierfell bekleideter Schaukelstuhl, der wegen der Absenz eines Bettes als Schlafstätte herhalten musste. Über der Feuerstelle in der Ecke war ein Bratspieß befestigt, andere Möglichkeiten, Essen zuzubereiten gab es nicht. Ansonsten war der Raum leer, bis auf das Leder, welches den Fußboden bedeckte.
Vor der Hütte stand ein Mann. Er war schon älter, sein Rücken jedoch war kerzengerade. Die Gesichtszüge waren hart und von den Jahren in der Wildnis stark geprägt. Ein stahlgrauer Bart umfloss den Kopf des Alten und seine Augen, ebenfalls stahlgrau, fixierten unablässig den Dachbalken und prüften ihn ob seiner Standfestigkeit. Einige Sekunden blieb der Mann stehen, dann ging er zufrieden hinein. Nun hatte er sich wahrlich eine Pause verdient, nachdem er den ganzen Vormittag geschuftet und Feuerholz gehackt hatte. Er lehnte die Axt an die Wand und stellte den Rucksack auf den Boden. Gemächlich zog er den Stuhl näher ans Feuer, warf einen weiteren Holzscheit in dieses und setzte sich. Langsam spürte er, wie die Anspannung von ihm wich. Die vergangene Woche war hart gewesen, doch bald würde er das Schlimmste hinter sich haben. Sehnsüchtig erwartete er den Frühling, so wie jedes Jahr. Dann würde er wieder jagen können und war nicht an das Feuer gebunden. Es war schwer, sich selbst zu versorgen und nur mit dem zu leben, was einem die Natur bot.
Wie immer, wenn der Alte keine körperliche Arbeit verrichtete, fing er unwillkürlich an, nachzudenken. Wie so oft schweiften seine Gedanken ab und er grübelte über sein altes Leben nach.
Er lief wie ein Besessener durch den Wald, auf der Suche nach einer Pflanze, die er nicht kannte. Fieberhaft verglich er jedes Blatt mit der Beschreibung seiner Frau, doch keines konnte die charakteristischen Zacken am Rand vorweisen, welche ein eindeutiges Indiz für die Heilpflanze wären, die seine Frau und sein kleines Kind gesund machen könnten. Schon seit Stunden drang er immer tiefer in den Wald ein, seine Kleidung war zerschlissen und an einigen Stellen hatte er sich sogar die Haut aufgeschürft. Doch davon ließ er sich nicht beirren, trotzdem wurde er immer hektischer. Er hatte nicht mehr viel Zeit, das wusste er.
Da, endlich. Ein kleiner Strauch mit hellgrünen Blättern, die in der Abenddämmerung eher gelblich wirkten. Besagte Zacken gaben ihnen ihre typische Form. Dort stand das Gewächs, einsam und von den unterschiedlichsten Pilzen umringt. Doch für die hatte er keine Augen. Er packte die Pflanze nahe der Wurzel und zog sie mit einem Ruck vollständig aus der Erde. Jetzt hieß es, keine Zeit zu verlieren. Der junge Mann war zwar in Panik, aber noch bei vollem Verstand. Schnell orientierte er sich an der Sonne und spurtete nach Hause. Seine Familie erwartete ihn bereits. Unter der Anleitung seiner Frau bereitete er eine Mixtur zu, die hauptsächlich aus den Wurzeln jener Pflanze bestand. Sowie er fertig war, füllte er das Produkt in zwei Becher und eilte an die Betten seiner Liebsten.
„Danke“, krächzte die Frau und setzte den Becher an ihre Lippen. Dann trank sie den Inhalt in einem Zug aus. Erst machte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht breit, dann Schrecken.
„Oh mein Gott, das ist die Falsche. Ich hatte dich doch gewarnt.“
Anzweifelnd blickte sie ihrem Mann entgegen, bevor sie in Ohnmacht fiel, aus der sie nie wieder erwachen würde. Der Mann stand nur da und konnte nicht mehr denken. Was war passiert? Da fiel es ihm wieder siedend heiß ein: Er sollte die Blätter unten kontrollieren, denn sonst kann man die richtige Pflanze nicht von einer höchst Giftigen unterscheiden. Er war wie gelähmt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Kurz darauf fiel seine kleine Tochter aus ihrem Bett, die Augen aufgerissen und starr auf ihn gerichtet. Sie würden sich von alleine nicht mehr schließen. Als er sich klar wurde, was geschehen war, sank er ebenfalls bewusstlos zu Boden, doch für ihn ging das Leben weiter.
Schon am nächsten Tag begann er, seine Hütte in den Bergen zu bauen. Er nahm nur eine Axt und ein Messer mit, alles andere hatte er nicht verdient. Er war verdammt, zu leiden, weil er seine Familie getötet hatte. Nur so ließ sich seine Schuld begleichen, wenn überhaupt. Nie wieder würde er einem anderem Menschen in die Augen schauen können, deshalb musste er von nun an alleine sein Dasein fristen. Vielleicht konnte er sich eines Tages selbst vergeben.
Eine kleine Träne rollte seine Nase entlang. Was hatte sein Leben denn noch für einen Sinn? War er noch würdig genug, anderen Tieren ihr Leben für seines zu nehmen? Es machte doch eh keinen Unterschied, ob er lebte oder nicht. Wahrscheinlich erinnerte sich niemand im Dorf mehr an ihn, zumal er noch, als er dort gewohnt hatte, dies ein wenig abseits getan hatte. In Gedanken versunken stierte er in die Flammen. Diese hatten einen Sinn, nämlich ihn, einen alten Mann, zu wärmen. Wie sehr er es darum beneidete. So eine einfach strukturierte Existenz war wirklich erwünschenswert. Um noch einen oben drauf zu setzen, das Feuer konnte nichts eigenständig falsch machen. Es tat dies, wozu es erschaffen wurde, brennen, und nichts anderes. Der Alte hatte es hingegen schwieriger. Seine Schuld war unermesslich. Und unverzeihlich. Der Tod, so hatte er schon früh beschlossen, war kein Ausweg. Er wollte in Frieden sterben, und mit der Gewissheit, dass er in der Lage war, seinen Fehler selbst zu verkraften. Anfangs hatte er sich dazu zwingen müssen, sich nicht aus purer Verzweiflung selbst umzubringen. Ohne Antworten auf seine Fragen wollte er eben diese suchen, doch wie er es auch drehte und wendete, es war und blieb eine Sünde. Das war aber nicht alles. Am meisten plagte ihn der Blick seiner Frau, kurz bevor sie starb. Sie hatte so anschuldigend geguckt. Das Bild vergaß er nie und es hatte ihm schon einige Alpträume bereitet. Nicht zuletzt war er noch nicht einmal imstande gewesen, zu reagieren und wenigstens seine Tochter zu retten. Nein, auch sie hatte von seiner Hand sterben müssen. Dies konnte er nie wieder gutmachen.
Der Alte schreckte hoch. Er war mal wieder abgeschweift und hatte die Zeit vergessen. Mit einem Blick aus dem Fenster raffte er sich auf und schwang den leeren Rucksack auf den Rücken. Bevor es dunkel werden würde, musste er neue Vorräte geholt haben. Der Weg zu seiner Höhle, wo er trockenes Fleisch, diverse Kräuter und Holz lagerte, kam ihm unendlich lang vor. Die Kraft hatte ihn verlassen, wo er doch die letzten Tage kaum geschlafen hatte, ständig bemüht, nicht dem Winter zum Opfer zu fallen. Warum hielt er sich noch so verbittert am Leben? Er wusste es nicht. Er würde sowieso nie Antworten finden. Der Rückweg war eine Qual, weil das Gewicht kaum erträglich war. Als er die Hütte sah, fiel er vor Anstrengung auf die Knie.
Erst war alles still. Unheimlich still. Der Alte wagte nicht zu atmen. Dann das Geräusch. Ein besorgniserregendes Geräusch. Verursacht hatte es der Dachbalken. Kurz darauf brach er mit einem lauten Knacken entzwei, woraufhin die Hütte einstürzte und in Flammen aufging. Ihr Bewohner erstarrte. Dem Stummen folgte ein lauter Schrei, der von den umliegenden Bergen widerhallte.
„Bin ich etwa verrückt?!“, rief er der Dämmerung entgegen, doch diese wusste auch keine Antwort. Da hörte der verzweifelte Mann eine Stimme.
„Nein, bist du nicht. Nicht mehr. Du hast soeben aufgehört, es zu sein.“
„Wer bist du?“ Seine Stimme klang brüchig, weil er sie seit Jahren nicht mehr benutzt hatte.
„Ich bin der, der dir den Weg weist und in der Not hilft. Suche mich, so wirst du mich finden!“
Damit endete das Gespräch. Das Feuer war dabei die letzten Überreste der Hütte zu vernichten. Im Grunde konnte es nichts dafür.
Der Alte hatte sich wieder beruhigt, sodass er in der Lage war, eine rationale Überlegung anzustellen. Wollte er jetzt sterben oder nicht? Die Frage war einfach. Er wollte es nicht. Noch nicht. Also blieb ihm nur noch übrig, ins Dorf zu gehen, in das, welches er vor langer Zeit verlassen hatte. Doch wer würde ihn aufnehmen, auch nur für eine Nacht? Die Leute mussten denken, er sei damals nach einem Mord geflohen. Also wer gewährte ihm ein Dach über dem Kopf? Die Lösung fiel ihm wie Schuppen vor den Augen, als er den imposanten Kirchturm erspähte, der aus dem Dächermeer heraus stach. Er beschleunigte seine Schritte und stand schon bald vor dem riesigen Portal. Dort zögerte er kurz, dann trat er ein. Das große Gebäude beeindruckte ihn. Noch nie hatte er eine Kirche von innen gesehen. Sofort fiel ihm das Kreuz auf, an dem Jesus hing. Er war gestorben, zur Vergebung der Sünden, und zwar aller. Langsam schritt der Alte zwischen den Bankreihen hindurch. Vor dem Altar blieb er stehen.
„Suchst du etwas Bestimmtes?“, fragte ihn der Priester, der vor ihm stand, mit einem freundlichen Lächeln.
„Ja. Aber ich habe es bereits gefunden. Gerade eben“, erwiderte er und zeigte auf das Kreuz. Es faszinierte ihn.
„Interessant, nicht wahr? Hast du dich jemals näher mit dem christlichen Glauben beschäftigt?“
„Nein. Trotzdem möchte ich beichten. Ist das möglich? Ich meine, richtig vor Gott und Jesus.“
„Jederzeit.“
„Werden sie mir zuhören?“
„Immer. In der Not am meisten.“
Eine Pause entstand. War die Antwort wirklich so einfach? Sollte er Gott vertrauen und alles in seine Hände legen? Schließlich hatte er zum ihm gesprochen.
„Vor langer Zeit...“ Der Priester guckte ermutigend „...habe ich meine Familie getötet.“
Noch eine Pause. Jetzt schaute der Priester nicht mehr freundlich. Er runzelte die Stirn. Sein Gegenüber sah auch nicht wie ein Mörder aus. Ganz im Gegenteil.
„Unwissentlich.“
Es war raus. Nach so langer Zeit. Er hatte sich selbst vergeben. Alle seine Schuldgefühle verflogen auf einen Schlag. Der Priester sah mitleidig aus.
„Vielen Dank!“ Das waren die letzten Worte des Alten. Dann verließ er die Kirche und betrat den Friedhof dahinter. Schnell fand er, wonach er suchte. Die Grabsteine waren verwittert; niemand hatte sich um sie gekümmert. Stumme Tränen rannen sein Gesicht hinunter. Damit verschwand der letzte Rest Inhalt aus seinem Körper. Er sank schlaff und leblos zu Boden, neben das Grab seiner Frau. Er würde sie wiedersehen. Im Himmel. Falls er dort hin kommen würde. Jedenfalls glaubte er fest daran.