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Der einsame Wanderzirkus
Ein Wanderzirkus kam in unsere Stadt, voll von Feuerschluckern, Messerschluckern, Jongleuren, Seiltänzern, Clowns und allem was sonst noch zu einem vernünftigen Zirkus gehört.
Ich war zuerst neugierig, schwamm in diesem allgemeinen Gefühl der Begeisterung mit, die lachenden Kinder und der leuchtend blaue Himmel, begleitet vom süßen Geruch kandisierter Früchte und gebratener Erdnüsse.
Es war der erste Frühlingstag, und jeder, wirklich jeder, sprach von nichts anderem – der Wanderzirkus kommt in die Stadt.
Die Aufmerksamkeit die der Zirkus und seine verwaschen, bunten Plakate erregte, war geradezu gespenstisch, es war als würde die ganze Stadtbevölkerung innerlich toben, innerlich glühen, die Aufregung brannte unter der ruhigen Oberfläche, wie ein heißer Nagel unter einem Fingernagel.
Man konnte es spüren.
Es war in der Luft, es war im strahlenden Wetter, es war in dem unverständlichen Brei von Sätzen, Gelächter und Erzählungen den man am Marktplatz hören konnte, kurz gesagt:
Es war überall.
Sie werden sich fragen was an einem Wanderzirkus derart aufregendes sein kann, ich tat es auch.
Ich glaubte die Hysterie und Begeisterung der Bewohner von Salting zu verstehen, doch am Tag vor der eigentlichen Vorstellung nahm ich schlagartig Teil an ihr.
Sie überfiel mich so schleichend wie der Schlaf in einer heißen Sommernacht.
Es geschah wie gesagt am Tag vor der Vorstellung, am zwanzigsten März, wenn ich mich recht erinnere, Sie verzeihen – mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste.
Die Sonne war dabei sich hinter fernen Bergen niederzulassen, die üblichen Hintergrundsgeräusche einer kleinen Stadt mit vielen Kindern waren wie von unsichtbaren Händen leisergedreht und die grellen Farben des zwitschernden Frühlings wichen den rot- braunen Tönen von sanftem Backofenlicht.
Ich war im Park unterwegs, dachte an vergangene Tage.
Habe ich ihnen schon erzählt, dass Salting sehr abgelegen liegt?
Ja das tut es in der Tat, es liegt sogar derart fern von anderen Städten, dass sogar die älteren Leute, und zu denen zähle ich nun mal mittlerweile, noch nie einen Fuß in einen anderen Ort gelegt haben.
Natürlich, oft kennt jemand jemanden der angeblich schon einmal woanders gewesen ist, aber ...
Sie wissen ja, Gerüchte.
Aber ich schweife vom Thema ab, ich wollte von früheren Ereignissen erzählen.
Nun es gab ein einziges schreckliches Ereignis, dass in verschwommener Vorzeit die ruhigen Gewässer unserer Stadt gestört hat.
Wie mit einer Wasserbombe konnte man sagen, und genau das ist der Grund, weshalb ich nach so langer Zeit wieder daran denken mußte:
Es brachte die Stadt in Aufruhr, und niemand sprach von etwas anderem als von diesem furchtbaren Schandfleck, der über unserer Stadt schwebt, nicht anders, als es in jenem Frühling war.
Er hieß Ralf Alexander Altino und war für die Straßenlaternen zuständig, sie wissen schon der bucklige, merkwürdige Kerl der kurz vor Einbruch der Nacht die Laternen anzündet, weil er einerseits zu dumm für irgend etwas anderes ist, andererseits aber die richtigen Verwandten hat um nicht in der Gosse verrecken zu müssen.
Verzeihen sie meine Ausdrucksweise.
Aber so war er nun mal, eine bucklige, fast schon kriechende Gestalt im Halbschatten der Bäume, der eine Lichterkette entzündet.
Und er schlachtete Kinder.
Manche Leute behaupten er hätte sogar welche gegessen, aber denen glaube ich nicht, denen will ich gar nicht glauben.
Seine Arbeit brachte ihn den Berg hinauf, an einer kleinen, schattigen Lichtung vorbei, auf der die alten Knacker tagsüber Botcha spielten, und die kurz nach Einbruch der Dunkelheit von kleinen Gruppen von Kindern belagert wurde.
Wissen sie niemand kümmerte sich darum, dass das Gras auf der Lichtung gemäht wurde, oder dass der Sand dort sauber blieb, es war ein verwahrlostes kleines Eck im Wald.
Und dann verschwanden sie plötzlich, manche wurden kurz nachdem sie verschwunden sind wieder gesehen.
Wissen Sie ich selbst hab eins der Kinder am Waldrand stehen sehen, und das Wochen nachdem sich sogar seine Eltern, das waren Evelyn und Markus Schüpp, damit abgefunden hatten, dass ihre kleine Tochter tot war.
Sie stand einfach da, stand mitten in der Wiese vor der Lichtung und starrte mir entgegen.
Ich rannte vor Angst.
Ich rannte und schrie und rannte und schrie, und versuchte nicht an den starren Blick des Mädchens zu denken.
Wie auch immer, es wurde ein Suchaktion eingeleitet, aber der Wald war menschenleer.
Jedenfalls waren es letzten Endes sieben Kinder die man im Wohnzimmer von Altino’s kleiner Holzhütte fand.
Wir verbrannten ihn, besser gesagt, wir erhängten erst, und verbrannten ihn hinterher.
Wir taten das alles im stillen Kreis, im Wald hinter dem Hügel.
Es ist mir bis heute nicht klar warum man ihn anschließend noch verbrennen mußte, doch ich denke das geht mich nichts an, Rache ist gerecht sage ich, egal wie sie ausgeübt wird.
Auch darüber gibt es natürlich Gerüchte, doch die glauben nicht mal die Kinder. Oder sie wollen sie nicht glauben, je nach dem.
Es heißt Altino wäre ein Zauberer gewesen, ein Teufel, und er wäre schon über hundert Jahre alt und unsterblich.
Ich weiß noch genau, wie sein buckliger Körper in der Hitze des Feuers aufgesprungen ist, wie ein Würstchen, das man zu lange gekocht hatte.
Es hat laut geknackst und geknistert, ein schwarzer Schemen mit hängendem Kopf, der langsam schwärzer wird.
Und mein saurer Mageninhalt, wie er meinen Mund füllt.
Das ist alles woran ich mich erinnern kann.
Ich schlenderte also durch den Park, stützte mich auf meinen Stock, und als mich meinen Kopf hob, da sah ich es: Das Zirkuszelt.
Eine rot- weiße Torte aus Stoff, die ruhig und verlassen auf der Wieso stand, und über die der Wind kleine, runde Wellen wandern ließ.
Es stand genau auf derselben Wiese, wo ich eine Ewigkeit zuvor, als kleiner Junge das schrecklichste Erlebnis meines Lebens hatte, und da wurde mir schlagartig klar: Es ist vorbei. So einfach war das, drei kleine Wörter brachten mich dazu den größten Fehler meines Lebens zu machen.
Und dieses riesenhafte, gestreifte Zelt, mit seiner flachen Spitze in der Mitte und den wandernden Wellen über die der Wind strich, verfärbte sich mit dem Sonnenuntergang in ein verträumtes Rot.
Es war ein Festtag.
Scharen von Kindern, die ihre Eltern an der Hand zerrten, tratschende alte Männer, herumtollende Hunde und lachende Burschen schlenderten auf das einsame Zelt auf der Wieso zu, und die Vögel am Himmel sangen von Spass, Spass, Spass...
Es war traumhaft.
Als ich das Zelt endlich betreten durfte, fühlte ich mich gefangen, verschluckt und nackt.
Es war in Wirklichkeit viel größer als es von außen erschien, die Zuschauertribünen ragten neben mir auf, wie die schwarzen Schultern zweier Riesen, und es war schrecklich dunkel unter dem der Plane.
All das Licht, all die warme Luft, der ganze verdammte Frühling war hier ausgesperrt, ich fühlte mich wie jemand, der in einem dieser weißen Boote sitzt, die aussehen wie hölzerne Schwäne, und damit mitten in das dunkle Maul eines Seeungeheuers fährt.
Zum ersten Mal viel mir auch etwas auf, dass ich bis dahin nicht bedacht hatte: Es war kein Zirkus zu sehen!
Alles was zu sehen war, war ein gestreiftes Zelt mit einer Manege und einer Zuschauertribüne darin.
Ohne auch nur eine Karte gekauft zu haben, suchte ich mir einen freien Platz und setzte mich.
Das Publikum, wenn es denn eines war, wuselte sich unter mir und erfüllte die Luft mit gesprochenem Rauschen.
Mir viel auf wie ruhig die Erwachsenen waren, wie still sie auf ihren Plätzen saßen und sich umsahen, und wie lebhaft dagegen die Kinder waren.
Direkt überdreht.
Die Fenster die für gewöhnlich in den Stoff geschnitten sind, waren zwar vorhanden, aber mit schwarzen Tüchern verhangen, die man nicht anheben, oder bewegen konnte.
Ich sah wieder wie der Wind über das Dach strich und plötzlich bekam ich Panik.
Ich fühlte mich wieder verschluckt, als ob dieses Zelt irgendwie lebendig gewesen wäre, fragte mich, was einen älteren Herren wie mich dazu treiben konnte, einen Zirkus zu besuchen, noch dazu einen derart merkwürdigen wie diesen.
Ich wollte gerade aufstehen, wissen Sie ich hätte es fast geschafft zu entkommen, als die „Vorstellung“ anfing.
Es war zuerst nur ein leises Kichern, wie kleine Mädchen es tun, meist mit der Hand vor dem Mund, wenn sie über etwas unanständiges lachen.
Dann brach es mit voller Lautstärke los, es klang plötzlich nicht mehr wie ein belustigtes Lachen, es war das schreckliche Gebrüll eines Wahnsinnigen, der über Dinge lacht.
Über furchtbare Dinge, die nur Wahnsinnige amüsant finden können.
Augenblicklich waren die Dorfbewohner leise.
Und dass die gesamte Stadt anwesend war, hätte mir schon früher auffallen müssen.
Das irre Gelächter wurde immer noch lauter, es mußte nun niemanden mehr übertönen.
Und da trat es aus dem Schatten hinter der Manege.
Der Clown, es war ein großer Clown und er lachte, lachte, lachte...
Er war komplett in schwarz gekleidet, seine Hände hatte er vor seinem Mund geballt wie ein kleines Mädchen, und seine Augen...
Seine Augen leuchteten, sie leuchteten wie kleine verstaubte Glühbirnen, in alten Holzhütten, die schon zu lange niemand mehr betreten hatte.
Der Clown nahm die Hände vom Mund und da spie er eine schwarze Wolke von Rauch aus, dunkler Dunst der sich langsam über die Manege legte, wie der Schirm eines Fallschirmspringers.
Man konnte beinahe nur noch seine Augen durch den Rauch leuchten sehen, und plötzlich erstarb das Lachen, und ließ das Publikum mit seiner Stille allein.
Ich mußte mit einem Mal an die verlassene Stadt denken, an die einsamen Gassen und Häuserwände.
„Kommt jetzt zu mir, kommt jetzt zu mir, kommt!“
Kreischte der Clown, und da erhoben sich sämtliche Kinder von ihren Plätzen und schlenderten mit starrem Blick auf die zwei Lichter zu.
Zwei verstaubte Lichttürme in einer nebligen Nacht.
Fliegende Holländer schwammen auf sie zu, und es sind Kinder.
Sie sahen allesamt aus wie das kleine Mädchen, dass ich damals gesehen hatte, und das hätte tot sein sollen.
Plötzlich mußte ich weinen, denn hinter dem schwarzen Dunst der Manege, konnte ich das wahre Gesicht des Clowns sehen.
Es war Ralf Altino.
Ich habe mich unter der Tribüne verkrochen, und schreibe alles auf, muss alles aufschreiben sonst werde ich noch verrückt.
Oder bekomme einen Herzschlag, das kann bei meinem Alter leicht passieren, bei Gott.
Ich muss weinen, ich kann nicht damit aufhören, es geht etwas in dieser Manege vor.
Es ist Altino, er ist ein Teufel oder was auch immer, ich weiß nicht was er ist.
Ich glaube ich will es auch gar nicht wissen.
Ich höre ständig Schreie, Stille, dann Schreie, mein Schluchzen, meine ersten Tränen seit zwanzig Jahren als meine Frau starb, aber nicht mal damals...
Über mir passiert etwas.
Ich muss weinen.
Ich kann nicht aufhören.
[Beitrag editiert von: Matthias L. am 03.04.2002 um 17:21]