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Der einsame Tollkühn
Julie langweilte sich. Sie konnte nicht an den Computer, weil Papa im Arbeitszimmer zu tun hatte, und sie konnte nicht fernsehen, weil im Wohnzimmer die Nähmaschine ratterte; Mama nähte gerade die neuen Gardinen für Julies Tante. Cassetten zu hören oder ein Buch zu lesen, hatte sie keine Lust, die kannte sie schon alle auswendig.
Es war aber für ein Kind heutzutage auch gar nicht einfach, etwas Aufregendes zu erleben. Sie hatte schon alles mögliche versucht. Vor einiger Zeit hatte sie mit Nathalie und Sascha, die im nächsten Hauseingang wohnten, eine Zauberschule gegründet. Julie liebte nämlich alles, was mit Zauberei zu tun hatte. Das Dumme war nur, dass keiner von ihnen über magische Fähigkeiten verfügte, so dass sie sich gegenseitig nichts beibringen konnten.
Sie hatten also die Sache mit der Zauberei aufgegeben und eine Piratenbande ins Leben gerufen. Sascha war ganz verrückt nach Piraten. Er hatte sich zum Geburtstag sogar ein Schlauchboot schenken lassen, um damit auf dem Teich im Park auf Kaperfahrt zu gehen. Damit seine Eltern ihm das erlaubten, musste er zuerst das Bronze-Schwimmabzeichen machen. Falls das Boot mal kenterte. Aber um ein echter Pirat zu werden, war ihm keine Mühe zuviel.
Leider war außer den Kindern im Schlauchboot niemand auf dem Teich unterwegs. Da es nichts zu entern gab, wurde die Piratenbande wieder aufgelöst.
Dann war Nathalie auf die Idee mit dem Detektiv-Club gekommen. Sie verschlang ständig Bücher, in denen Jungs und Mädchen die unglaublichsten Kriminalfälle lösten, und mit ihrer Begeisterung hatte sie Julie und Sascha angesteckt. Der Club trug den Namen „Die Zweieinhalb“; Nathalie hatte gesagt, weil ihr Bruder so klein sei, zähle er nur halb. Daraufhin war Sascha mit einem Plastik-Piratensäbel auf sie losgegangen. Aber da Nathalie viel größer war (sie ging schon in die fünfte Klasse, Julie und Sascha erst in die zweite), hatte er sich nur ein paar böse Knuffe eingefangen und sich dann mit dem Namen abgefunden.
Doch auch das Detektivsein erwies sich im wirklichen Leben als schwierig. Wie es schien, wollte partout niemand im ganzen Georg-Raloff-Ring ein Verbrechen begehen. Seit einer Woche warteten die Kinder nun schon auf ihren ersten Fall, und Julie dachte allmählich, dass sie auch den Detektiv-Club aufgeben sollten.
Heute aber brauchte sich Julie gar keine Gedanken darüber zu machen, was sie mit Nathalie und Sascha spielen sollte. Die beiden waren sowieso mit ihren Eltern unterwegs und würden erst spät abends zurückkommen. Was konnte Julie also bloß tun, um nicht vor Langeweile zu sterben?
Da platzte Mama mit einer großartigen Nachricht herein: „Wenn Joyce gleich kommt, um die Gardinen abzuholen, bringt sie Ian mit. Er will heute bei uns schlafen.“
Julie war begeistert. Joyce war ihre Tante, und Ian war Julies Cousin. Er war zwar erst drei, aber er und Julie mochten sich sehr und spielten gerne miteinander.
Kurz darauf stand der Kleine auch schon mit seiner Mutter vor der Tür. In der Hand hielt er einen Dinosaurier. Er hatte immer einen Dinosaurier dabei, wenn er bei jemand anders schlief – so, wie Julie immer ihren Teddy mitnahm.
„Na“, fragte Julie, kaum dass Ian hereingekommen war, „hast du einen neuen Dinosaurier?“
„Einen Triceratops“, sagte Ian stolz und hielt ihn Julie entgegen. Das Tier sah fast wie ein Nashorn aus, nur dass es gleich drei Hörner hatte.
„Toll! Und was du dir schon alles für Wörter merken kannst!“
„Ich bin doch schon groß“, meinte Ian. Und dann fragte er: „Wollen wir einen Zoo bauen?“
Das taten sie. Aus Legosteinen bauten sie einen Zoo für Julies Plastiktiere, und der Triceratops bekam ein besonders schönes Gehege genau in der Mitte. Dann spielten sie mit dem Zoo, bis es Zeit war, schlafen zu gehen.
Ian schlief auf einer Matratze vor Julies Bett. Julie blickte auf ihn hinunter und freute sich, dass der Tag nun doch noch so viel Spaß gemacht hatte.
Als sie am Morgen aufwachte, war Ian fort.
Zuerst sah Julie natürlich nur die leere Matratze vor ihrem Bett und dachte, dass Ian vielleicht ins Wohnzimmer oder auf die Toilette gegangen sei. Also stand sie auf und suchte nach ihm. Als sie ihn nicht finden konnte, schaute sie vorsichtig ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Vielleicht war Ian ja zu denen ins Bett gekrochen.
Nichts. Nur Mama und Papa, die leise vor sich hin schnarchten.
Sie sah noch einmal gründlich im Flur nach. Ians Schuhe waren nicht da. Offenbar hatte er sie angezogen und war nach draußen gegangen.
„Nicht schon wieder!“ stöhnte sie. Es war nämlich erst ein paar Monate her, dass Ian alleine fortgegangen war. Erst nach Stunden war er wieder aufgetaucht und hatte behauptet, er habe im Park einen sprechenden Dinosaurier getroffen. Angeblich lebte der auf der Insel in der Mitte des Teiches.
Der Kleine war lieb, aber total verrückt. Jedes Kind wusste doch, dass Dinosaurier längst ausgestorben waren! Bei Drachen oder so, okay, da konnte man sich vorstellen, dass sich noch welche irgendwo versteckt hielten. Das stand ja auch in Julies Buch über „Magische Geschöpfe“. Aber in jedem Buch über Dinosaurier konnte man lesen, dass sie nun einmal ausgestorben waren.
Was würden Mama und Papa dazu sagen, dass Ian wieder verschwunden war? Vielleicht würden sie denken, Julie habe nicht richtig auf ihn aufgepasst! Es half nichts, sie musste ihn unbedingt wiederfinden, bevor Mama und Papa aufwachten.
Zum Glück waren die beiden Langschläfer.
Julie wollte gerade aus der Wohnung schleichen, um ihren Cousin zu suchen, als ihr ein neuer Gedanke kam. Warum war sie darauf nicht sofort gekommen? Vielleicht war es ja sogar ein Glücksfall, dass Ian wieder abgehauen war. Ein Glücksfall für die Zweieinhalb. Sie hatten ihren ersten Fall!
Sie ging zum Telefon und wählte Nathalies Nummer. Nach einer Weile meldete sich die verschlafene Stimme ihrer Freundin: „Hallo?“
„Nathalie, halt dich fest: Die Zweieinhalb haben einen Fall! Den Fall des verschwundenen Cousins! Wir treffen uns alle sofort unten vor’m Haus! Dringend!“
Sie legte auf, bevor Nathalie überhaupt Zeit zum Antworten hatte. Fünf Minuten später standen Julie, Nathalie und Sascha auf dem Bürgersteig vor dem Haus und berieten, wie sie Ian wiederfinden wollten.
„Beim letzten Mal hat dein Cousin doch gesagt, er hätte im Park einen Dinosaurier getroffen, oder?“ fragte Sascha.
„Ja, ich erinnere mich“, meinte seine Schwester. „Einen sprechenden Dinosaurier. Völlig bekloppt, der Kleine.“
Julie nickte vielsagend. „Glaubt ihr, dass er wieder da hingegangen ist?“
„Jedenfalls ist es die einzige Spur, die wir haben. Zumindest hatte er ein Motiv, in den Park zu gehen.“ Nathalie war jetzt ganz die erfahrene Detektivin.
„Was ist denn ein Motiv?“ wollte Julie wissen.
„Das ist so ein Wort aus ihren Büchern“, erklärte Sascha. „Das soll bedeuten, er hatte einen Grund, in den Park zu gehen.“
„Es ist wirklich ein Glück, dass ‚Die Zweieinhalb’ endlich im Einsatz sind“, seufzte Nathalie. Mit einem Blick auf Julie fügte sie hinzu: „Einige von uns müssen noch sooo viel über die Arbeit von Detektiven lernen!“
Sie machten sich auf den Weg in den Park. Auf den ersten Blick war Ian nicht zu entdecken.
„Wir müssen nach Spuren suchen, bevor es hier von Kindern und Spaziergängern wimmelt“, stellte Nathalie fest.
Die Zweieinhalb teilten sich auf. Nathalie wollte rechts rum um den Teich gehen, Sascha links rum. Julie ging hinüber zum Spielplatz.
Gleich bei der Sandkiste wurde sie fündig. „Hierher, schnell!“ brüllte sie den anderen hinterher. Die drehten sofort um und kamen angerannt.
Stolz streckte Julie ihnen Ians Triceratops entgegen, den sie vom Boden aufgehoben hatte.
„Den hatte Ian dabei. Er war also heute morgen hier.“
„Los, suchen wir nach weiteren Spuren!“ Nathalie war sehr aufgeregt.
„Seht euch das mal an“, rief Sascha und deutete mitten in die Sandkiste. Alle drei starrten schweigend hin und spürten, wie sie eine Gänsehaut bekamen.
In der Sandkiste wimmelte es von Spuren. Genauer gesagt, von zwei Arten von Spuren. Da waren einmal kleine Fußabdrücke, die vermutlich von Ian stammten. Und dann waren da die anderen. Abdrücke von Tierpfoten. Gewaltigen Tierpfoten. Wie Katzenspuren, nur viel größer.
Schließlich sagte Nathalie mit nüchterner Stimme: „Da ist aber kein Blut zu sehen. Das scheint mir ein gutes Zeichen zu sein.“
„Mein Gott, was für ein Tier war das?“ wollte Julie wissen.
„Ist doch klar“, teilte Sascha ihr mit, „irgendeine riesige Katze. Also vermutlich ein Löwe.“
„Wo soll denn hier im Park ein Löwe herkommen?“ zweifelte Julie.
Nathalie fiel etwas ein. „Mein Vater hat gestern irgendwas von einem Zirkus in Farmsen erzählt.“ Farmsen war ausgerechnet der Stadtteil, in dem Ian wohnte. „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass die einen Löwen haben, und ein bisschen weit ist es auch, aber wer weiß...“
„Auf jeden Fall müssen wir herausfinden, wohin Ian und der Löwe verschwunden sind.“ Julie fing an, sich die Spuren genauer anzusehen.
„Fällt euch gar nichts auf?“ fragte sie endlich.
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst“, antwortete Sascha. „Die Spuren führen nirgendwo hin.“ Das stimmte. In der Mitte der Sandkiste waren überall Abdrücke von Ian und dem geheimnisvollen Tier, aber rundherum war der Sand glatt, weil es über Nacht geregnet hatte und der Regen alle Spuren vom Vortag verwischt hatte.
„Das bedeutet also...“ Nathalie nickte wichtig.
Julie und Sascha sahen sie gespannt an. „Was denn?“ fragte Sascha nach einer Weile.
„Sie sind weggeflogen“, ließ Nathalie sie im allerüberzeugtesten Tonfall wissen.
„Unsinn“, sagte Sascha mit einem Blick, der ungefähr so viel bedeutete wie: „Manchmal ist meine Schwester für ihr Alter ganz schön bescheuert.“ Und er fügte hinzu: „Seit wann können Löwen denn fliegen?“
Nathalie schien zu überlegen, ob sie ihren Bruder knuffen sollte, aber sie erwiderte nur: „Da sieht man, dass du von Detektivarbeit nichts verstehst. Sherlock Holmes sagt immer, wenn man alles Unmögliche ausschließt, behält man die Wahrheit übrig. Egal, wie unwahrscheinlich es klingt. Na, und dass der Löwe Ian über den Sand geschleppt hat, ohne Spuren zu hinterlassen, ist doch wohl unmöglich.“
Jetzt hatte Nathalie einen so triumphierenden Gesichtsausdruck und Sascha einen so fassungslosen, dass Julie beinahe losgelacht hätte.
Stattdessen wusste sie ganz plötzlich und ohne besonderen Grund, dass Nathalie recht hatte.
„Ein Greif!“ stieß sie atemlos hervor. „Ist ja irre!“
„Ein was?“ fragte Sascha.
„Was meinst du damit?“ wollte Nathalie wissen.
„Na, überlegt doch mal! Welches Tier macht Spuren wie ein Löwe und kann fliegen? Ein Greif natürlich! Der hat einen Löwenkörper, aber den Kopf und die Flügel von einem Adler. In meinem Buch ‚Magische Geschöpfe’ ist einer abgebildet.“
Bevor Sascha und Nathalie sagen konnten, was sie davon hielten, bemerkte Julie noch etwas. Sie lief ein paar Meter weit, bückte sich, kam zurück und zeigte ihren Freunden, was sie gefunden hatte. Es war eine Feder, aber viel größer, als man sie sonst hier im Park fand.
Eine Adlerfeder.
„Ich sag doch, sie sind geflogen“, erinnerte Nathalie ihren Bruder. „Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wohin.“
„Greife sind riesige Tiere“, gab Julie zu bedenken. „Die können überall hin fliegen.“
„Also, ich glaub das einfach nicht“, widersprach Sascha. „Ich glaube nicht, dass es wirklich Greife gibt. Kein Tier hat einen Schnabel und vier Pfoten. Keins.“
Im ersten Moment wusste Julie nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Es stimmte ja: Schnäbel hatten nur Vögel, und die hatten immer nur zwei Beine. Selbst Strauße und Pinguine. Dann fiel ihr ein, dass sie im Fernsehen mal etwas über ein Tier in Australien gehört hatte, das vier Beine und so was wie einen Entenschnabel hatte. Aber sie wusste nicht mehr, wie das Tier hieß, und Sascha hätte es ihr wahrscheinlich genauso wenig geglaubt wie die Beschreibung des Greifs.
Ihr Blick fiel auf das, was sie in der Hand hielt. Nicht die Adlerfeder, sondern Ians Dinosaurier. Ihr Herz hüpfte ein kleines bisschen vor Überraschung.
„Sieh mal, Sascha“, sagte sie und hielt das Plastiktier hoch. Sascha und Nathalie blickten es verblüfft an. Der Triceratops hatte vier Beine und sah immer noch einem Nashorn ähnlich – aber jetzt sahen sie, dass sein Maul in Wirklichkeit ein Schnabel war.
„Und das ist nicht einmal ungewöhnlich“, erklärte Julie. Sie hatte als kleines Kind selbst für Dinosaurier geschwärmt und erinnerte sich nun wieder. „Viele Dinosaurier hatten Schnäbel. Wusstet ihr eigentlich, dass die Vögel sogar von den Dinosauriern abstammen?“
Nathalie und Sascha schüttelten die Köpfe.
„Sag mal, was ganz anderes“, meinte Nathalie, „hältst du es für möglich, dass Ian diesen Greif früher schon mal getroffen hat? Und dass er ihn einfach mit einem Dinosaurier verwechselt hat?“
„Du meinst, mit einem sprechenden Dinosaurier?“ fragte Julie zurück.
Alle drei drehten sich um und blickten schweigend zu der Insel im Teich. Dort sollte der sprechende Dinosaurier leben, von dem Ian damals erzählt hatte.
Vielleicht, dachte Julie, war ihr Cousin doch nicht verrückt.
„Wir müssen rüber auf die Insel. Dann sehen wir, ob Ian und der Greif da sind.“ Julies Stimme zitterte ein wenig. Aber sie war fest entschlossen, Ian aus den Klauen des Greifs zu befreien. Sofern es dafür noch nicht zu spät war.
„Also gut“, sagte Nathalie, die sich wohl irgendwie für die Anführerin hielt. „Wir machen es folgendermaßen...“
Eine halbe Stunde später hatten sie Saschas Schlauchboot geholt und aufgeblasen. Sie ließen das Boot ins Wasser und stiegen hinein. Nathalie ruderte. Sascha kniete vorne im Boot und hielt seinen Piratensäbel aus Plastik in der Hand. Nur für den Fall, dass der Greif sie überfallen würde. Ganz hinten saß Julie und versuchte, sich an alles zu erinnern, was in ihrem Buch über Greife stand.
Als das Boot die Insel erreichte, sprang Sascha mit erhobenem Säbel an Land wie ein echter Pirat, der an fernem Strand nach einem Schatz sucht. Nathalie und Julie folgten ihm und zogen das Boot ans Ufer.
Die Insel war nicht sehr groß, aber mit dichten Büschen und Bäumen bewachsen.
„Kommt“, flüsterte Julie und bahnte sich einen Weg durch´s Gebüsch. Schon nach wenigen Metern blieb sie so abrupt stehen, dass Nathalie und Sascha sie fast umgerannt hätten.
Sie hörten eine Stimme.
„Zu jener Zeit“, sagte die Stimme, „lebte in dem Wald ein Drache, und weder Menschen noch Zwerge trauten sich dorthin.“
„War das ein böser Drache?“ fragte ein kleiner Junge.
„Ian!“ rief Julie und rannte weiter. Nathalie und Sascha liefen hinterher.
Sie kamen auf eine Lichtung. Im Gras saß Ian. Vor ihm lag der Greif, die Pfoten lässig ausgestreckt, den gefiederten Kopf mit dem mächtigen Schnabel hoch erhoben.
„Fort mit Dir!“ schrie Sascha und rannte auf den Greif zu. Dabei schwang er den Säbel angriffslustig durch die Luft.
Ian und der Greif sprangen auf.
Ian rief: „Julie!“
Der Greif versuchte, sich hinter Ian zu verstecken. Das war nicht einfach, denn er war ja viel größer als Ian. Er sah ziemlich komisch aus, wie er da kauerte: die Brust fast auf den Boden gedrückt, das Hinterteil emporragend. Die gewaltigen Flügel zitterten aufgeregt.
„Lass nicht zu, dass sie mir etwas antun“, flehte er den Jungen an.
„Geh weg!“ rief Ian Sascha zu. „Du machst Tollkühn Angst!“
Sascha blieb verblüfft stehen. „Angst?“ fragte er. „Das ist doch ein Raubtier!“
„Und wieso überhaupt Tollkühn?“ wollte Nathalie wissen.
„Er heißt so.“ erklärte Ian. „Tollkühn.“
„Was ist das für ein saublöder Name?“ Julie verzog das Gesicht. „Tollkühn bedeutet doch so viel wie mutig, oder? Wie kann er Tollkühn heißen und so ein Angsthase sein, dass er sich hinter einem kleinen Jungen versteckt?“
Der Greif machte eine merkwürdige Bewegung. Julie brauchte einen Moment, bis sie die Geste erkannte: Er hatte die Schultern gezuckt, als wolle er sagen: „Ich kann doch nichts für meinen Namen.“
„Wer hat dich denn so genannt?“ fragte sie und sah den Greif freundlich an.
Der merkte wohl, dass die Kinder ihm nichts Böses wollten. Er kam hinter Ian hervor, richtete sich stolz auf und antwortete: „Meine Eltern natürlich. Vor langer, langer Zeit. Eigentlich gaben sie mir den Namen Johann Rainer Richard Tollkühn. Aber das war ihnen auf die Dauer doch zu lang.“
„Na schön, aber merkwürdig ist der Name doch.“ Julie versuchte, nicht unhöflich zu sein. „Ich meine ja nur... Ähm... Also, irgendwie passt er einfach nicht zu dir.“
Ein fürchterliches Schluchzen schüttelte Tollkühns Körper. Er wandte sich ab und schniefte. „Ich weiß!“ rief er. „Oh, ich war so eine Enttäuschung für sie! Sie hatten sich einen mutigen, starken Greif gewünscht, der Angst und Schrecken unter den Menschen verbreiten sollte. Aber dann merkten sie, dass ich mehr Angst vor den Menschen hatte als die Menschen vor mir!“ Er drehte sich wieder um und blickte auf Sascha mit seinem Säbel. „Und dabei habe ich es doch versucht! Oh, wie sehr ich es versucht habe. Aber das Schrecklichsein liegt mir einfach nicht! Alles, was ich immer wollte... Das einzige, was ich schon als kleiner Greif gut konnte... Das war...“ Offensichtlich war er nicht in der Lage, den Satz zu Ende zu führen.
„Tollkühn erzählt Geschichten“, sagte Ian.
„Geschichten?“ fragte Nathalie mit ungläubiger Stimme. „Was ist denn das für eine Beschäftigung für einen Greif?“
Tollkühn schluchzte noch lauter auf als zuvor und wandte sich wieder von den Kindern ab.
„Das ist doch nichts Schlimmes.“ Julie erinnerte sich daran, was sie gehört hatten, bevor sie auf die Lichtung gekommen waren. „Die Geschichte von dem Drachen im Wald klang doch richtig spannend! Aber eines versteh ich nicht: Warum hast du meinen Cousin entführt?“
Der Greif machte einen Schritt auf Julie zu und flüsterte: „Weil ich einsam war.“
„Einsam?“ fragte Nathalie, die ebenfalls näher herangekommen war.
Tollkühn nickte. Er versuchte noch etwas zu sagen, merkte aber, dass er einen dicken Kloß im Hals hatte. Er schluckte und fuhr dann fort: „Vor vielen Jahren habe ich mich hierher verirrt. Mitten in die Großstadt. Überall sind so furchtbar viele Menschen! Wenn sie mich entdecken, werden sie mich fangen und mir etwas antun, das weiß ich genau! Deshalb verstecke ich mich hier im Gebüsch dieser Insel. Wenn ich Hunger habe, schnappe ich mir mit dem Schnabel ein paar Fische aus dem Wasser. Aber nur spät abends oder sehr früh morgens, wenn keine Leute im Park unterwegs sind, traue ich mich, einmal eine kleine Runde über dem Teich zu fliegen. Nur, damit meine Flügel nicht einrosten.
Das Schlimme ist, dass ich niemanden habe, der mir zuhört. Da sind so viele Geschichten in meinem Kopf, die ich erzählen möchte! Vor lauter Verzweiflung erzähle ich sie mir selbst. Immer und immer wieder. Aber das ist nicht dasselbe, wisst ihr?
Ich war so schrecklich einsam in all den Jahren!“
Ian ging auf ihn zu und streichelte seinen Kopf. Eine Träne lief aus Tollkühns Auge.
„Und dann“, sagte der Greif, „vor einiger Zeit, habe ich im Park diesen Jungen gesehen. Ian. Er sah harmlos aus, und er war allein. Also bin ich hinübergeflogen und habe ihn aus der Nähe beobachtet. Schließlich hat er mich entdeckt, aber er hat mir nichts getan. Er dachte, ich sei ein Dinosaurier. Stellt euch das mal vor! Dabei kenne selbst ich die Dinosaurier nur aus alten Erzählungen. Aber ich habe ihn in dem Glauben gelassen.
Er hat mir nämlich zugehört. Und er fand meine Geschichten toll. Das war so wunderschön! Aber dann hörte ich andere Leute kommen, und ich floh wieder auf meine Insel. Die Monate danach waren noch einsamer als die Zeit davor. Ich musste dauernd an meinen kleinen Zuhörer denken.
Und dann, heute Morgen, weckte mich seine Stimme. Er war wieder im Park und rief nach dem Dinosaurier. Da konnte ich mich einfach nicht mehr zurückhalten – ich bin hinübergeflogen und habe ihn mit auf die Insel genommen.“
„Ich bin auf Tollkühns Rücken geritten. Durch die Luft.“ Ian sah sehr stolz aus. Der Greif blickte ihn liebevoll an.
„Wir müssen Ian aber zurückbringen“, sagte Julie. „Sonst bekomme ich Ärger mit meinen Eltern. Und mit meiner Tante.“
„Ich weiß ja, dass er nicht bei mir bleiben kann“, gab Tollkühn zu. Er stupste den Jungen zärtlich mit dem Schnabel, und Ian kicherte.
Einen Moment lang schwiegen alle. Dann rief Nathalie: „Zweieinhalb-Versammlung!“ Sie ging zurück in die Büsche, und Julie und Sascha gingen ihr nach.
„Also“, sagte Nathalie, „wir müssen ihm irgendwie helfen, das ist doch klar, oder?“
„Aber deswegen sind wir doch hier“, meinte Sascha. „Wir helfen ihm, indem wir ihn wieder nach Hause bringen.“
Nathalie wollte ihn knuffen, aber Julie war schneller und schubste ihn in den nächsten Busch. „Doch nicht Ian, du Blödian! Den nehmen wir doch sowieso wieder mit. Nathalie meint, wir müssen Tollkühn helfen.“
Sascha kämpfte sich aus dem Busch heraus und sah beleidigt aus. Es hätte ihm vermutlich besser gefallen, mit dem Säbel gegen ein wildes Fabeltier zu kämpfen als einem ängstlichen Greif beizustehen. Aber sein Gesicht hellte sich schnell wieder auf.
„Au ja“, sagte er nach einem Augenblick, „befreien wir Tollkühn von dieser Insel wie einen gefangenen Seeräuber!“
Nathalie verdrehte die Augen, aber sie ging nicht weiter darauf ein. „Also, hat jemand eine Idee?“
Sie blickten sich gegenseitig erwartungsvoll an. Plötzlich sagte Julie: „Mir fällt da gerade ein, was du vorhin erzählt hast. Das wäre doch vielleicht eine Möglichkeit...“
Sie erklärte ihren Freunden, woran sie dachte, und die beiden waren begeistert.
Sie gingen zurück zu Ian und Tollkühn.
„Wir müssen jetzt gehen“, sagte Nathalie. „Ian nehmen wir mit. Aber Julie hatte eine Idee. Wir wollen dir jetzt nicht zu viel versprechen, aber vielleicht können wir dir helfen. Auf jeden Fall melden wir uns bald wieder bei dir. Bleib einfach hier auf der Insel und warte ab.“
„Na schön“, sagte Tollkühn mit merkwürdigem Tonfall. „Dann werde ich also in den nächsten Tagen ausnahmsweise mal keinen Stadtbummel machen. Zur Abwechslung kann ich mir ja mal selbst eine Geschichte erzählen. Vielleicht eine, die ich noch nicht ganz auswendig kenne. Falls mir so eine einfällt.“
Er drehte sich um und würdigte die Kinder keines Blickes mehr. Ein bisschen wirkte er wie Sascha, wenn er beleidigt war, fand Nathalie.
Die Kinder bestiegen das Schlauchboot, riefen dem Greif noch einmal zu, dass sie bald zurückkommen würden, und fuhren wieder über den Teich.
Julie nahm die anderen mit zu sich nach Hause. Mama und Papa waren gerade am Frühstücken. „Gut, dass ihr wieder da seid“, sagte Mama. „Joyce kommt bald, um Ian abzuholen.“
„Sag mal“, fragte Julie, während sie anfing, sich ein Brot zu schmieren, „hättet ihr was dagegen, wenn Joyce uns nach Farmsen mitnehmen würde?“
Sascha schien den Anblick des Frühstückstisches spannender zu finden als die Frage, wie sie nach Farmsen kommen würden. „Ich darf doch?“ Ohne die Antwort abzuwarten, machte er sich ebenfalls über das Brot her.
„Was wollt ihr denn in Farmsen?“ wollte Mama wissen.
Nathalie war schneller als Julie: „Mein Vater sagt, da ist ein Zirkus. Wir wollen uns die Tiere ansehen.“
„Na schön“, mischte sich Papa ein. „Aber dann müsst ihr mit dem Bus zurückkommen.“
Nathalie versprach, gut auf die beiden Kleineren aufzupassen. Eine halbe Stunde später saßen sie alle im Auto. Ian erzählte seiner Mutter begeistert von Tollkühn, und Joyce tat, als finde sie das alles sehr spannend. Aber Julie merkte, dass ihre Tante ihm kein Wort glaubte. Die würde sich noch wundern!
Als sie in Farmsen ankamen, meinte Joyce: „Wisst ihr was? Ich komme mit euch zu diesem Zirkus.“ Damit hatten die Kinder nicht gerechnet. Als sie dann über die Wiese mit den Tieren gingen und die Ponys streichelten, lud Joyce Julie sogar ein, am Nachmittag mit ihr und Ian in die Vorstellung zu gehen.
„Ähm, leider hab ich mich für heute Nachmittag schon verabredet. Aber wie wäre es mit morgen?“
Das war ihrer Tante auch recht.
„Jetzt müssen wir aber wieder nach Hause“, sagte Nathalie. „Auf Wiedersehen, und vielen Dank für’s Mitnehmen.“
Die Zweieinhalb taten so, als würden sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle machen. In Wirklichkeit verschwanden sie hinter dem Zirkuszelt und warteten, bis Joyce und Ian gegangen waren.
„So“, sagte Nathalie, „jetzt kommt der schwerste Teil des ganzen Abenteuers. Wir müssen denjenigen finden, der hier das Sagen hat. Und dann müssen wir ihn auch noch dazu bringen, dass er uns glaubt.“
Es war noch schwieriger, als sie gedacht hatten. Aber sie schafften es.
Als Joyce sich am nächsten Nachmittag mit Julie traf, um in den Zirkus zu gehen, staunte sie nicht schlecht. Nicht nur, weil Sascha wieder dabei war, Julie hatte auch Freikarten für den Zirkus. Für sich, Sascha, Ian und sogar Joyce.
„Wie bist du denn da rangekommen?“ fragte Joyce, aber Julie sagte nur: „Das erklär ich dir später!“
Um drei Uhr fing die Vorstellung an. Es gab Ponys, tanzende Hunde, Akrobaten, Seiltänzer, einen sprechenden Papagei namens „Graf Plapperviel“ und große und kleine Clowns. Es war einfach toll. Doch Julie und Sascha waren fast zu aufgeregt, um es richtig zu genießen.
Schließlich trat der Zirkusdirektor in die Mitte der Manege und sagte: „Meine Damen und Herren, eigentlich wäre die Vorstellung jetzt zu Ende. Doch wir sind stolz, Ihnen heute etwas ganz besonderes präsentieren zu dürfen. Eine echte Weltsensation!“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und ein paar erwachsene Zuschauer lachten. Sie glaubten wohl, der Direktor mache einen Witz. Eine Weltsensation in diesem kleinen Zirkus?
„Es ist mein voller Ernst“, betonte der Direktor. „Sie werden bei uns heute etwas erleben, was es noch in keinem Zirkus der Welt gegeben hat. Allerdings muss ich Sie bitten, mir nun nach draußen auf die Wiese zu folgen. Dort erwartet Sie die letzte und gewaltigste Attraktion des heutigen Tages. So gewaltig, dass unser kleines Zelt nicht genug Platz dafür bietet. Kommen Sie und staunen Sie!“
Er ging hinaus auf die Wiese, und die Zuschauer folgten ihm gespannt. Sie stellten sich in einem großen Kreis um ihn herum auf, als stünde er in einer unsichtbaren Manege.
Als es still geworden war, verkündete er: „Liebe Kinder! Meine Damen und Herren! Lassen Sie sich jetzt entführen in die Wunderwelt der Märchen und Abenteuer! Staunen Sie über die spannenden, witzigen, traurigen und manchmal schrecklichen Erzählungen eines Fabelwesens, das selbst der Fantasie entsprungen zu sein scheint! Hochverehrtes Publikum! Ich präsentiere: den mächtigen Tollkühn!“
Er warf seinen Kopf in den Nacken und riss den Arm hoch. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger deutete er auf den Greif, der hoch am Himmel seine Kreise zog und dann unter den verblüfften „Oooh!“- und „Aaah!“-Schreien des Publikums in die unsichtbare Manege hinabstieß.
Die Menge stob auseinander. Doch der Direktor rief die Menschen zurück, und die meisten folgten der Aufforderung, zuerst zögernd, dann mutiger.
Neben dem Zirkusdirektor landete der Greif. Auf seinem Rücken saß Nathalie, die ihm den Weg von seiner Insel hierher gezeigt hatte. Sie stieg ab, umarmte Tollkühn, drückte ihm noch einmal die Daumen und lief dann hinüber zu Julie und den anderen.
Und Tollkühn fing an zu erzählen.
Zuerst wirkte er ein wenig nervös. Er hatte ja noch nie vor so vielen Leuten gesprochen. Doch bald vergaß er seine Aufregung, und seine Stimme wurde immer lebhafter. Er begann, in der unsichtbaren Manege umherzugehen, Grimassen zu schneiden und die Figuren aus seiner Geschichte zu spielen wie ein Schauspieler im Theater.
Das Publikum war begeistert. Die Menschen vergaßen, wo sie waren, und fieberten mit dem kleinen Zauberlehrling, der sich tief im Wald dem bösen Drachen zum Kampf stellte.
Als Tollkühn seine Geschichte beendet hatte, nahm der Beifall kein Ende, und der Greif verbeugte sich, wie es der Zirkusdirektor nicht besser gekonnt hätte. Dann kamen von allen Seiten Kinder und Eltern, um Tollkühn zu berühren. Die Erwachsenen konnten gar nicht glauben, dass er echt war. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis die letzten gegangen waren.
Endlich sagte der Direktor: „Das war ja ein toller Erfolg. Dann will ich dich jetzt mal den anderen aus dem Zirkus vorstellen.“
Darauf freute sich Tollkühn schon. Zuerst aber bedankte er sich überschwänglich bei den Zweieinhalb, die es ihm möglich gemacht hatten, seine einsame Insel im Park zu verlassen, ohne sich fürchten zu müssen. Hier im Zirkus, das wusste er, würde er sicher sein. Seine neuen Kollegen würden auf ihn aufpassen. Und er würde immer Zuhörer haben und mehr von der Welt sehen, als er jemals gehofft hatte – bestimmt würde er bald genug Stoff für neue, tolle Geschichten haben.
Ganz besonders liebevoll verabschiedete er sich von Ian, der in der Einsamkeit des Parks sein einziger Zuhörer und Freund geworden war. Joyce stand mit offenem Mund daneben und entschuldigte sich dann bei Ian, weil sie ihm nicht geglaubt hatte.
So kam es, dass der kleine Zirkus tatsächlich zu einer Weltsensation wurde. Der einzige Zirkus mit einem echten Greif! Und was für einem! Von weit her kamen die Menschen, um ihm zuzuhören.
Und er enttäuschte sie niemals: Johann Rainer Richard Tollkühn - der märchenhafteste Erzähler der Welt.