Der einsame Strand
Ganz langsam ging Sven den Weg zum Meer hinunter und setzte dabei jeden Fuß so, dass er die Last seines gesamten Gewichtes darauf spüren konnte. Hatten Füße eine Schmerzgrenze und irgendwann einmal genug von diesem Leben? Sven lachte kurz humorlos auf, dann konzentrierte er sich weiter auf das Gehen. Schon tausendmal nahm er diese Strecke, aber noch nie zählte er die Schritte, die er von ihrer kleinen Hütte hinter den Dünen bis an den Wasserrand benötigte. Es waren 728, dann hatte er sein Ziel erreicht und starrte auf das graue, wogende Meer.
Wie viele Schritte Tina hier wohl gemacht hatte? Es mochten zehntausende, hunderttausende, vielleicht auch Millionen gewesen sein. Dennoch hinterließ sie keine sichtbaren Spuren, wenigstens nicht auf diesem Trampelpfad.
Nach 729 Schritten spülten die ersten Wellen um Svens neue Lederschuhe.
‚Sveni! Sag mal, spinnst du? Komm sofort aus dem Wasser! Schuhe aus echtem Leder sind teuer!’
Er wünschte sich Tinas Stimme sehnlichst herbei, und ganz so, als hätte sie ihn eben tatsächlich gerufen, spielte Sven einen Moment lang mit dem Gedanken, seiner Frau zuliebe aus dem Wasser zu gehen. Statt dessen machte er einen weiteren Schritt, dann noch einen.
E-gal.
Tinas Rufen blieb Illusion.
731 Schritte.
Völlig bewegungslos stand Sven nun da und wusste nicht, wo er hinschauen sollte. Rechts und links von ihm breitete sich kilometerlanger Sandstrand aus, vor ihm verschwamm der Horizont mit dem Meer zu einer grauen Einheit, und von überall her gähnte unerträgliche Einsamkeit. Gequält schloss er seine Augen.
Noch gestern war er diesen Strand Arm in Arm mit Tina entlang gegangen, und am Horizont vor ihnen schien eine gemeinsame Ewigkeit zu liegen.
Doch das war gestern, und heute lauschte er allein dem Wind, der toste und seufzte, als würde er ein Klagelied über die verlorene große Liebe singen. Am ganzen Körper zitternd lief Sven weiter, etwas zog ihn förmlich vom Strand weg, bis plötzlich ein klares, helles Lachen die Stille zerriss.
Tinas Lachen!
Mit ihm ließ sie selbst an den verregnesten Tagen die Sonne scheinen, und auch jetzt zauberte sie ein Lächeln auf Svens Gesicht. Voller Erwartung drehte er sich zum Strand um, doch Tina lief nicht über Sand, winkte ihm nicht fröhlich zu. Da wurde das Lachen hysterisch, ging in unmenschliche Schreie über, und im Tiefflug glitt eine Möwe über seinen Kopf.
Tinas Lachen war Illusion.
740 Schritte.
Svens Blicke verloren sich in der unendlichen Einsamkeit des Strandes. Niemand war da, aber das störte ihn nicht. Denn noch vor wenigen Stunden fühlte er sich hier genauso allein wie in diesem Moment.
Dabei wirkte der Strand randvoll. Aber entweder hasteten die Leute blicklos an Tina und ihm vorbei, oder sie standen um seine Frau herum, starrten sie an und zogen dabei den Kreis um sie immer enger. Wie sollte sie da noch atmen können?
„Bitte, gehen Sie weiter.“
Aber niemand schien ihn zu hören, und niemand sah ihn an. Irgendwann tippte ihm jemand auf die Schulter, und Sven wäre, als er den Sanitäter erkannte, vor Erleichterung beinahe umgefallen.
„Was ist passiert?“
Der Mann kniete sich neben Tina und fühlte ihren Puls. Ratlos zuckte Sven mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht.“
Tina war einfach so umgefallen, lag plötzlich kreidebleich auf dem Boden und bewegte sich nicht mehr. In Panik wrang Sven seine Hände und starrte den Sanitäter an.
„Was ist? Was ist mit ihr?“
Der Retter blieb seltsam gelassen, als er schließlich mit seinem Kopf schüttelte.
„Es tut mir leid ...“
Tot?
Hektisch pendelte Svens Blick zwischen dem Sanitäter und seiner Frau hin und her. Tina sah so ruhig und zufrieden aus, als würde sie lediglich schlafen. Neben ihr packte der Sanitäter nun seine Instrumente zusammen, was die Endgültigkeit seiner Worte grausam unterstrich.
Tot!
Der Kreis veränderte sich plötzlich, ein Teil wich angeekelt daraus zurück: Oh Gott, eine Tote!
Die mit den stärkeren Nerven aber traten fasziniert näher: Oh man, eine Tote!
Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich, und fassungslos starrte Sven seine Frau an.
„Nein!“
Um sie aufzuwecken, ließ er sich nun selbst auf die Knie sinken. Kaum aber rüttelte er an ihren Schultern, zog ihn jemand sanft von ihr zurück.
„Hör auf damit!“
Unter Tränen drehte sich Sven zu seinem Schwager Bert um, den er sofort an seiner Stimme erkannt hatte.
„Lass mich, Bert!“
„Das bringt doch nichts. Sie ist tot.“
Genau das aber wollte Sven nicht glauben. Er riss sich von Bert los und sprang auf.
„Nein!“
Erneut zerriss ein Schrei die Stille.
Sein Schrei.
Als hätte jemand nur auf dieses Lebenszeichen von ihm gewartet, kam hinter ihm plötzlich Bewegung auf.
„Sven!“
Der Wind zerrte an der Stimme, verzerrte sie.
„Mach keinen Scheiß, Sven!“
Die Stimme klang hohl und fremd, dennoch war er sich sicher.
Tina!
Er blieb stehen und wartet auf sie. Als sie ihn an den Schultern berührte, strahlte er sie an.
„Hi.“
Doch dort, wo er das Gesicht seiner Frau erwartete, schwebte schon wieder das Gesicht seines Schwagers Bert. Sven zwinkerte entsetzt.
„Wo ist Tina?“
Vorsichtig, als wäre Sven aus Glas, packte Bert ihn bei den Schultern.
„Ich weiß es nicht, Sven ... vielleicht im Himmel.“
„Nein.“
Ein wenig zu heftig schüttelte er mit dem Kopf und verlor darüber das Gleichgewicht. Schreiend stürzte er in die Ostsee.
„Das darf einfach nicht sein!“
Ohnmächtig und mit hängenden Schultern stand Bert vor ihm und seufzte leise.
„Ich wünschte doch auch, es wäre anders.“
Bevor es sich Sven richtig versah, ließ sich Bert einfach neben ihn in die Ostsee sinken, und da hockten sie dann. Die See ging so stark, daß die Wellen fast über ihren Köpfen zusammenschlugen, aber sie störten sich nicht daran. Arm in Arm sahen sie eine wundervolle kleine Ewigkeit lang nichts außer Wasser, und der einsame Strand in ihrem Rücken konnte sie nicht an die Einsamkeit erinnern, die noch vor ihnen lag.