- Beitritt
- 19.06.2001
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Der einfachste Satz der Welt
DER EINFACHSTE SATZ DER WELT
Das Zittern war wieder stärker geworden. Ich ballte meine Hand ein paar mal zu einer Faust. Ich versuchte locker zu bleiben. Hm, Scheiße. In letzter Zeit schlugen solche Versuche fehl. Und dadurch wurde ich ein Risiko. Ich wurde einer von denen, die es nicht mehr konnten... Nicht, wenn es darauf ankam. Scheiße. Das hier war sozusagen meine letzte Chance, um nicht selbst auf die Abschußliste zu kommen. Auf diese berüchtigte Liste, die nirgends aushing, dennoch unter unseren Kreisen existierte. Es war diese...
„Sebastian?“
Ich zuckte zusammen. Scheiße... „Ja, was gibt es denn?“
„Was ist los? Hm? Du siehst... nervös aus.“
„Oh, ja... kann sein.“
„He.“ Lilly setzte sich zu mir auf das alte Sofa. „Seit Tagen sitzt du hier und schaust aus dem Fenster. Was ist denn los?“ Sie wollte mir einen Kuß geben, aber ich wehrte ab...
„Nein! Laß das!“ Ich sah sie nicht an. Lilly hatte ich vor Wochen von der Straße aufgegabelt. Ich wußte nicht mehr warum, vielleicht war es ihre... unschuldige Art gewesen. Ich wußte es wirklich nicht mehr. Letztendlich hatte ich sie bei mir einquartiert.
„Ja, schon gut!“ sagte sie ärgerlich und stand wieder auf. „Was gibt es denn so besonderes da drüben?“ wollte sie wissen. „Da steht ein Haus, so wie unseres... pah. Na und?“
Ich sah sie an. Ich versuchte zu lächeln. „Lilly?“
„Ja?“
„Bringst du mir ein Bier, hm?“ Ob ich dabei lächelte? Ich wußte es nicht. Jedenfalls nickte sie und ging in die Küche. Ich sah ihr nicht hinterher. Vor wenigen Tagen hätte ich es noch getan. Aber... „Scheiße.“ Ich zündete mir eine Zigarette an und beobachtete das gegenüberliegende Haus. Die Wohnung im dritten Stock. Die mit den wunderschönen Gardinen. Und hinter den Gardinen Kathy Gardner, Mitglied der Gewerkschaft. „Scheiße“ Ich zog an der Zigarette und erinnerte mich...
Mein Gegenüber musterte mich. Mir war klar, daß er nicht viel von mir hielt. Und ich wußte auch nicht, warum sie gerade auf mich gekommen waren.
„Man sagt, Sie seien ein guter Mann. Präzise... und professionell. Sagt man...“
Ich winkte ab. „Früher war ich das mal, ja.“ So sehr ich mich bemühte, aber... Scheiße. Dieses Scheißzittern. „Was wollen Sie?“
„Kennen Sie die Frau hier?“ Er gab mir ein Foto.
Ich zuckte mit den Schultern. „Nein, sollte ich?“
„Das ist Kathy Gardner. Schon mal was von ihr gehört?“
„Nein.“
„Noch nie?“
„Nein.“
„Aber Sie wissen, in welchem Gewerbe ich bin, oder?“
Ich lächelte. „Wer kann das denn nicht wissen, Mister Faith.“ Ich versuchte... kühl zu wirken.
„Nun...“ Faith stand auf und ging zum Fenster. „Die da draußen gehören alle mir. Alle tun das, was ich sage. Und dann kommt diese Gardner und...“
Ich fiel ihm ins Wort. „Oh, Sie meinen, sie kommt von der Gewerkschaft?“
„Ja, verdammte Scheiße. Von der Gewerkschaft.“
Ich sah mir noch einmal das Foto an. Kathy Gardner. Kathy Gardner von der Gewerkschaft. „Ich soll sie umbringen?“ Ich sah zu Faith.
Er sah immer noch aus dem Fenster.
„Mister Faith. Soll ich sie umbringen?“
Es dauerte eine Weile, aber dann sagte er gequält: „Ja.“
Ich nickte. Natürlich. Warum sonst war ich hier. „Und warum ich?“ Ich wußte die Antwort bereits.
„Weil Sie billig sind.“ Faith setzte sich wieder. „Nur aus diesem Grund.“ Er sah mich mit diesem merkwürdigen Blick an, den er schon die ganze Zeit hatte. „Außerdem brauchen Sie doch den Job, nicht wahr?“
„Oh.“ Jetzt war ich überrascht. „Hören Sie! Ich...“
„Vergessen Sie es.“ Faith öffnete ein Schubfach seines Schreibtisches und holte einen Umschlag hervor. „Hier sind zweitausendfünfhundert Dollar. Die andere Hälfte nach Erledigung.“
Ich schluckte. Scheiße. So tief war ich also gesunken. Früher hätte ich ihn ausgelacht, doch... zögernd nahm ich das Geld. „Okay.“
Faith gab mir einen weiteren Umschlag. „Das sind alle Informationen, die Sie brauchen. Ich... erwarte, daß Kathy Gardner in spätestens vier Tagen... kein Thema mehr sein wird.“
„Oh, natürlich. Kein Problem.“
„In vier Wochen beginnen diese verfluchten Verhandlungen. Ist Ihnen das bewußt?“
Es interessierte mich einen Scheiß. „Oh, ja. Ich weiß, wie wichtig diese Verhandlungen für Sie sind, Mister Faith. Glauben Sie mir...“ Ich nahm das Geld. „Bis dahin wird man Kathy Gardner vergessen haben.“
Faith nickte zufrieden und reichte mir die Hand. „Gut, die andere Hälfte dann also...“
„Schon gut!“ Ich stand wortlos auf und verließ das Büro. Das Gelände war riesig. Als ich es endlich verlassen hatte, war mir erst wirklich bewußt geworden, wie tief ich tatsächlich gesunken war. Scheiße...
„Hier ist dein Bier.“ sagte Lilly.
„Danke.“ Ich nahm das Bier und trank einen Schluck. Dann stellte ich die Flasche auf den Boden und sah zu Lilly. Es war das erste Mal, daß ich sie an diesem Tag so richtig ansah. Wirklich ansah. „He, komm mal her.“ Und schlagartig fiel es mir wieder ein. Oh Gott, Lilly... wie sehr ich sie...
„Sebastian?“ Mißtrauisch sah sie mich an.
„Keine Angst.“ Ich zog sie zu mir auf das alte Sofa. „Tut mir leid, wenn ich in den letzten Tagen etwas... ach, ich weiß nicht.“ Ich gab ihr einen Kuß. „Hm, Lilly?“
Sie sah mich an. „Was?“
„Hm...“ Ich konnte es ihr nicht sagen. Ich konnte es einfach nicht. Dabei war es so einfach. „Ach... laß gut sein.“ Ich ließ sie wieder los.
Sie hatte sich an mich gelehnt. „Ob du es glaubst oder nicht, Sebastian. Ich liebe dich.“
Scheiße. Damit hatte ich gerechnet. Kein Wunder.
„Danke, daß du mich da weggeholt hast, Sebastian.“ sagte Lilly.
Scheiße. „Ja... ja, das... ich habe es... ich habe es gern getan, weißt du?“
„Ja.“
„Gut.“
„Und?“
Ich wußte, was Lilly hören wollte. „Lilly, ich...“
Wir sagten nichts mehr. Ich nahm einen Schluck aus der Flasche und zündete mir eine weitere Zigarette an. Ich spürte Lilly´s Sehnsucht nach dem einen Satz. Scheiße. Ich sah wieder aus dem Fenster. Zu dem anderen Haus. Zu der Wohnung im dritten Stock. Die mit den wunderschönen Gardinen. Und hinter den Gardinen Kathy Gardner. Kathy Gardner von der Gewerkschaft. Kathy Gardner, die ich nicht kannte. Kathy Gardner, die fünftausend Dollar einbringen würde. Ich zog an der Zigarette. Oh Gott, nur fünftausend Dollar. Und ich dachte an Lilly...
„Hör mal, ich... ich muß mal kurz weg, okay?“ Es war soweit. Es war zwecklos.
Sie bemerkte mein Zittern. „Und wirst du wiederkommen, Sebastian?“ Ihr Blick war.... unbeschreiblich.
„Natürlich, natürlich.“ Ich gab ihr einen Kuß. Verdammt. Wie konnte ich sie nur tagelang so... Scheiße. Mir wurde es erst jetzt bewußt. „He, ich bin ja bald zurück, hm?“
Lilly nickte. „Okay.“
„Warum fragst du überhaupt?“
„Ich... Sebastian, ich... weiß es nicht. Ich hab da so ein...“
„Gefühl?“
„Ja.“
„He.“ Ich umarmte sie. „Du brauchst keine Angst zu haben, einverstanden? Ja? Lilly!“
„Ja, okay... okay!“
„Gut.“ Ich lächelte sie an. Ich gab ihr einen Kuß auf die Stirn. „Hör mal, da liegt ein Umschlag auf dem Tisch. Der ist für dich, Lilly.“
Erstaunt sah sie mich an. „Ein Umschlag? Für mich?“
„Ja.“ Ich nickte. „Ich muß jetzt gehen. Bis bald, okay?“
„Ja.“
„Gut.“ Ich sah noch einmal in ihr Gesicht. „Weißt du, ich...“
„Sebastian?“ Lilly lächelte mich an.
„Ich...“ Ich konnte es ihr einfach nicht sagen. Den einfachsten Satz der Welt. Ich konnte es einfach nicht. „Paß auf dich auf!“ Dann verließ ich meine Wohnung, in die ich Lilly einquartiert hatte.
Kathy Gardner mußte wohl annehmen, daß ich verrückt sei. „Das kann nicht Ihr Ernst sein!“
„Doch. Ich denke... ich denke schon.“ Ich saß vor ihr, die Pistole in meiner rechten Hand haltend.
„Faith hat Sie beauftragt, mich umzubringen?“
„Ja.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Sie müssen sich entscheiden.“
Kathy Gardner lachte. „Hören Sie. Sie bedrohen mich mit einer Waffe. Und Sie verlangen von mir, zehntausend Dollar in einer Tasche in irgendeinem Schließfach auf dem Flughafen zu hinterlegen? Für... für...“
„Lilly.“ sagte ich. „Werden Sie es tun?“
„Oh Mister.“ Kathy Gardner sah mich an. Sie hatte aufgehört zu lachen. „Warum sollte ich das?“
„Ich könnte Sie auch umbringen.“
Sie sah mich an. „Ja, das könnten Sie wohl.“
„Werden Sie es nun tun? Wenn... dann müßten Sie ein paar Wochen untertauchen. Bis zu dem Zeitpunkt, wenn die Verhandlungen mit Faith bevorstehen.“
„Das mag sein, aber Faith verlangt doch einen Beweis für meinen Tod, oder?“
„Ja.“ Ich sah sie lächelnd an.
„Warum lächeln Sie jetzt?“
„Keine Ahnung.“
Kathy Gardner stand auf. „Zehntausend Dollar.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht warum, aber...“
„Sie tun es?“ Ich sah sie hoffnungsvoll an.
„Ja.“ Sie nickte. „Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht, wie Sie das Faith klarmachen wollen. Aber ich werde es tun. Zehntausend Dollar. In einem Schließfach auf dem Flughafen. Für Lilly. Und Lilly bekommt morgen die entsprechende Nachricht.“
„Ja, genau so.“ Ich steckte meine Waffe weg. „Und Sie müssen nur ein paar Wochen von der Bildfläche verschwinden.“
Kathy Gardner stimmte mir zu. „Also gut.“
„Ja. Gut.“ Ich reichte ihr einen Zettel. „Könnten Sie den mit in die Tasche legen? Es... es sind nur ein paar einfache Worte, wissen Sie.“
Sie las sich den Zettel durch. „Haben Sie es Lilly nie gesagt?“
„Nein, habe ich nicht.“
Sie steckte den Zettel weg. „Sie werden Lilly nie wiedersehen, oder?“
Ich sah aus dem Fenster. Zum gegenüberliegenden Haus. Zur dritten Etage. Zu meiner Wohnung. Die mit den schmutzigen Gardinen. Und hinter den Gardinen Lilly. „Nein, nie mehr.“
Ein paar Wochen später war Kathy Gardner tot. Faith hatte sich durchsetzen können. Was Lilly machte, wußte ich nicht. Ich jedenfalls stand ganz oben auf der Abschußliste, dieser unter unseren Kreisen berüchtigten Liste, die nirgends aushang, wohl aber existierte...
Ich konnte nur hoffen, daß Lilly den Zettel gelesen hatte... Und irgendwie hielt mich dieser Glaube bisher am Leben. Ob sie auch an mich dachte? So wie ich an sie? Als ich den einfachsten Satz der Welt auf ein Stück Papier schrieb? Ich wußte es nicht.
Ich weiß es bis heute nicht.
ENDE
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