- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Der Einbruch
Nervös betrachtete Tim sein Abbild im Spiegel und rückte dabei sein schwarzes Hemd zurecht. In Anbetracht der gnadenlos tickenden Uhr, war keine Zeit mehr das Bügeleisen in einer der Umzugskisten zu suchen. So behielt das Hemd also seinen natürlich, jugendlichen Charme, der sich in einer dezenten Knitteroptik entfaltete, wie sie einem Biologie-Studenten durchaus gut zu Gesicht steht. Wie es im Leben nun einmal so ist, muss man Prioritäten setzen. Und da war eine ordentliche Rasur einfach höher anzusiedeln, als ein perfekt gebügeltes Hemd. Heute sollte schließlich der große Tag sein, an dem er Meggy seine Gefühle offenbaren wollte. Sie war zwar einige Jahre älter als Tim, übte aber seit ihrem ersten Zusammentreffen eine unheimliche Faszination auf ihn aus. Mit ihren roten Haaren, der bleichen Haut und ihrem Gothic-Look hatte sie etwas geheimnisvolles und aufregendes. Sie war eine Außenseiterin, genau wie Tim. Manche Kommilitonen behaupteten gar, dass sie verrückt sei. Andere sagten einfach nur, sie sei merkwürdig. Tim war das egal. Mochten sie doch von Meggy halten, was sie wollten. Für ihn war sie perfekt. Das war wohl das Schicksal, dass alle Außenseiter einte. Die Leute sprachen nicht mit ihnen, dafür aber umso mehr über sie. Das kannte Tim nur zu gut.
Tim beschritt einen Umweg durch sein Wohnzimmer und legte das Biologielehrbuch, sowie seine Ausarbeitungen für die gemeinsame Gruppenarbeit auf den kleinen, braunen Wohnzimmertisch. Schnell drapierte er noch die Sofakissen auf der kleinen Couch und deckte den Tisch mit zwei Gläsern, sowie einer Schale mit Naschereien ein. Nervennahrung war während der anstrengenden und häufig bis in die Nacht ausufernden Kleingruppenarbeit unabdingbar.
Im Badezimmer angekommen schritt Tim auf sein neues Regal zu, dem die Türen fehlten. Diese standen noch originalverpackt neben dem Schrank auf dem Fußboden. Tim griff hinein und nahm sich sein Rasierzeug. Mit beiden Händen benetzte er sein Gesicht mit einem feinen Wasserfilm um danach das Rasiergel aufzutragen, welches sich zu einem nicht zu verachtenden weißen Vollbart aufplusterte. Strich für Strich, genauestens darauf bedacht kein Haar zu vergessen, führte Tim den Rasierer mit vorsichtigen Bewegungen durch sein Gesicht. Seine sanfte und überaus bedacht wirkende Technik erinnerten hierbei eher an einen meditativen Ritus, als an einfache Körperhygiene.
„Knack“ ein immer wiederkehrendes Knacken drang in Tims Ohr. Leise und unaufdringlich, aber nicht zu überhören.
Was war das, dachte Tim, kam das nicht von der Haustür?
Ein erneutes Knacken, sowie das leise quietschen der Türscharniere war zu hören.
Tim schlug das Herz bis zum Hals. Leise und mit zitternden Händen legte er den Rasierer ab und näherte sich, auf Zehenspitzen laufend, der Badezimmertür. Wie im Zeitlupenmodus bückte er sich und warf einen Blick durch das Schlüsselloch. Ein fremder Mann von großer Statur schob die Wohnungstür an und sah sich in Tims Wohnzimmer um. Geschmeidigen Schrittes näherte er sich der Vitrine. Er öffnete die erste Schublade und betrachtete den Inhalt. Sorgfältig durchsuchte er die Schublade, prüfte jeden einzelnen Gegenstand auf seine Wertigkeit und steckte ihn gegebenenfalls in den schwarzen Beutel, der über seiner Schulter hing. Die anderen Gegenstände legte er wieder zurück in die Schublade. Auch Tims neuen Laptop, welcher ihm die Möglichkeit bot an zusätzlichen Online-Tutorials teilzunehmen, sowie virtuellen Lerngruppen beizuwohnen und somit seinem misanthropisch anmutenden Lebensstil aufrecht zu erhalten, steckte er in seine Tasche.
Tims Puls raste und jeder Muskel seines Körpers war bis zum zerbersten angespannt. Sein Hals schnürte sich, wie durch eine unsichtbare Pranke, im Würgegriff der Angst, zu und eine Träne suchte sich ihren Weg durch Tims vor Schreck verzerrtes Gesicht, bis sie schließlich über sein Kinn rann und zu Boden tropfte. Langsam aber stetig sank er, zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, in sich zusammen. Durch die Tür konnte er hören, wie der Fremde sein Wohnzimmer durchsuchte, die Schranktüren und Schubladen öffnete und sich langsam aber stetig Richtung Badezimmer vorarbeitete. Tim legte den Kopf zwischen seine Knie, schloss die Augen und versuchte die Realität auszublenden. Diese Strategie half ihm schon in der Schulzeit die Hänseleien der Anderen auszuhalten.
„Wer sind Sie?“ hallte es durch den Raum.
Tim rappelte sich auf die Knie und sah wieder durch das Schlüsselloch. Meggy stand mit weit geöffneten Augen im Wohnzimmer. Unter dem leisen quietschen der Sohlen auf dem Linoleumboden, drehte sich der Unbekannte um und sah Meggy durch die Sehschlitze seine Maske direkt in die Augen.
Tim stockte der Atem.
Er musste mit Ansehen, wie der Fremde einen Satz nach vorne machte, dabei einen Stuhl umstieß, der mit einem lauten Rums in seine Einzelteile zerbarst und Meggy zu Boden riss. Sein muskulöser Arm schlang sich wie eine Anakonda zu einem opulenten Würgegriff um ihren Hals. Meggys nach Luft ringendes röcheln machte Tim schier wahnsinnig. Ihre Augen stachen hervor und begannen zu Tränen. Speichel säumte ihren Mund. Sie versuchte zu schreien, aber mehr als ein raues, erstickendes Gurgeln war nicht zu vernehmen. Er musste etwas unternehmen.
Tim Atmung beschleunigte sich immer mehr und er fühlte sich, als sei er gerade einer Achterbahn entstiegen. Er versuchte gegen den Schwindel und die Übelkeit anzukämpfen und kam auf wackligen Beinen zum stehen.
Er konnte spüren, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss. Mit panischem Blick sah er sich im Badezimmer um. Handtücher, Badeschlappen, Shampoo...dann fiel sein Blick auf die Nagelschere. Mit einer beherzten Handbewegung griff Tim nach der Schere, riss die Badezimmertür auf, welche mit einem lauten Knall mit dem dahinterstehenden Staubsauger kollidierte und stürmte auf den Fremden zu. Dieser, aufgeschreckt durch den Knall, löste den Griff um Meggys Hals, welche zu Boden sank, und drehte sich instinktiv nach links ab. Die Spitze der Nagelschere riss ein Loch in seinen schwarzen Pullover und bohrte sich in seinen Oberarm. Ein lauter Schrei tönte durch die Wohnung. Tim stürzte mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Fremden und eine wilde Keilerei begann. Den Überraschungsmoment zu seinem Vorteil nutzend positionierte er sich wie ein Ringer über dem auf dem Rücken liegenden Fremden und schlug mit seinen Fäusten wie wild auf ihn ein. Dieser konnte dem Großteil der unkoordinierten Schläge jedoch geschickt ausweichen, wodurch die meisten Hiebe den Fußboden malträtierten. Dieser zeigte sich im Gegensatz zu Tims Fäusten, welche blutige Fingerknöchel davontrugen, unbeeindruckt. Als Tim zum nächsten Schlag ausholte, nutzte sein Kontrahent den Moment um Tim einen schwungvollen Kniestoß in die Rippen zu versetzen und ihn durch das kraftvolle Eindrehen seiner Hüfte, wie ein Rodeopferd seinen ungeliebten Reiter, abzuwerfen. Tim war perplex und lag auf dem Rücken wie ein Maikäfer. Schnell gewann der Eindringling die Oberhand und schwang sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf Tim. Das schiere Gewicht seines Gegners, welches nun auf seinem Bauch lastete, nahm ihm die Luft und mit jeder Sekunde sank seine Gegenwehr. Schützend hielt er seine Arme vor sein Gesicht, konnte den Trommelwirbel von Fäusten aber nicht aufhalten. Krachend landete eine weitere Faust in seinem Gesicht und das Blut sprudelte wie aus einer unbändigen Urquelle aus Tims Nase. Seine Arme sanken zu Boden und er nahm seine Umgebung nur noch durch einen Nebelschleier wahr.
Bevor Tims Gehirn endgültig kapitulierte und alle Aggregate auf Notversorgung umstellte, so dass nur noch die wichtigsten Körperfunktionen aufrecht erhalten blieben, sah er hinter dem Eindringling einen Schatten. Meggy stand aufrecht hinter dem Aggressor und streckte ein Stuhlbein des zerstörten Stuhls über ihren Kopf empor. Unter einem lauten Aufschrei ließ sie ihre „Keule“ immer wieder auf den Kopf des Fremden einpreschen. Dann schlossen sich Tims Augen.
Als Tim erwachte, fand er sich auf seinem Bett liegend wieder. Meggy saß neben ihm und hielt seine Hand. Er versuchte zu lächeln, aber die Verletzungen in seinem Gesicht tadelten ihn direkt mit einem stechenden Schmerz. Tim versuchte mit seiner linken Hand die Wunden in seinem Gesicht zu ertasten, merkte aber schnell, dass er zu keinerlei Bewegung fähig war. Er war gefesselt.
„Was ist hier los?“ entfuhr es Tim in panischem Ton.
„Jetzt geht der Spaß erst richtig los!“ säuselte Meggy ihm im lieblichsten Sing-Sang ins Ohr und strich ihm mit der Spitze eines Fleischermessers sanft über sein Gesicht.
Die Zimmertür öffnete sich und der Fremde betrat den Raum. Er sah Tim an und zog seine Maske vom Gesicht.
„Willkommen zur unserer kleinen Horrorshow. Ich hoffe du hast genauso viel Spaß wie wir!“ lachte der Fremde lauthals.