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Der Duft des Schwarzen Bilsenkrauts
Wasser tropfte aus ihren Haaren und floss durch die Spalten des Stegs zurück in den See. Der Leinenstoff schmiegte sich an den Körper, ihre Brüste zeichneten sich ab und auf der Höhe des Bauchnabels hatte sich eine kleine Pfütze gebildet.
Wie eine Motte die Laterne des Nachtwächters verfolgte, so haftete Wilhelms Blick an dieser Frau. Er nannte sie Helena, die Strahlende, die Schöne.
An ihrer Wange stach eine blaue Ader so deutlich hervor, als hätte ein Maler einen ersten Strich Ultramarin auf die Leinwand aufgetragen. Wilhelm streckte seinen Finger aus, wollte dieser Linie folgen, bis hin zu den dünnen Brauen und dem Leberfleck an der Stirn.
Ein Ellbogen stieß in seine Rippen und ließ ihn stolpern. Die Männer in seinem Rücken drängten sich an ihn, er roch Schweiß und sauren Atem. Er festigte seinen Stand und richtete den Blick wieder auf die sechs Leichen.
Wilhelm war früh hier gewesen und hatte aus erster Reihe beobachten können, wie die Frauen mit kleinen Schritten näher kamen. Ihre Blicke irrten umher, die Fußfesseln klirrten und scheuerten die Haut an den Knöcheln. Helena betrat den Steg als letzte und als Wilhelm sie sah, wusste er, welche Frau der Dekan auswählen würde.
Der Henker drückte Helena mit dem langen Stock hinab. Ruhig ging sie unter, ihre letzten Zuckungen verwirbelten das trübe Wasser. Braune Strähnen trieben bis an die Oberfläche, Luftblasen verfingen sich darin. Der böige Wind schickte kleine Wellen über den See und spülte das Leben aus ihren Haaren.
Wilhelms Augen brannten, er wagte nicht zu blinzeln. Als der Henker Helena aus dem Wasser holte, blieb dort etwas zurück. Eine kleine, gelbe Blüte schwamm auf dem dunklen See, leuchtete wie eine gefallene Sonne.
Die schweren Schritte des Dekans dröhnten auf dem Steg, seine dunkelblaue Robe plusterte sich im Wind. Die dicht gedrängten Menschen wichen zurück und schufen eine Gasse. Die Miene des Dekans war starr, aber Wilhelm sah das Funkeln in seinen Augen.
Er schritt an den toten Frauen vorbei, ließ sich viel Zeit, so viel, dass Wilhelm wütend wurde. Er ballte die Fäuste und presste die Lippen aufeinander. Schließlich blieb der Dekan stehen, seine Robe berührte Helenas Haar. Er nickte kurz. Zwei Männer näherten sich, ergriffen Helena am Hals und den Füßen, legten sie auf eine Trage.
Als sie Wilhelm passierten, hätte er Helena berühren können, doch er bewahrte sich diesen Moment. Er sah ihr nach, bis die Menge den Blick versperrte.
Wilhelm ging an das Ende des Stegs, kniete sich zum Wasser und fischte die Blüte heraus. Violette Adern durchzogen das Gelb und sammelten sich in der Mitte des Kelchs. Wilhelm rieb die Pflanze zwischen den Fingern. Sie roch nach Tod.
Auf den Steinstufen der medizinischen Fakultät standen mehrere junge Männer und diskutierten. Wilhelm runzelte die Stirn, seine Schritte knallten auf das Kopfsteinpflaster. Er trat zwischen seine Kommilitonen und knurrte: „Wieso geht ihr nicht rein?“
Theo, ein schmächtiger Kerl mit strähnigen Haaren, knetete seine Hände. „Sie wollen uns nicht dabei haben! Nur die Doktoren dürfen anwesend sein.“
Wilhelm schüttelte den Kopf. „Wir haben dafür bezahlt.“
Theo zuckte mit den Schultern und beugte sich zu Wilhelm. „Sie soll schwanger gewesen sein.“ Spucke flog an seinen schiefen Zähnen vorbei, traf Wilhelms Mantel.
Wilhelm schlug hart gegen Theos Schultern, er stolperte zurück.
„Was denkst du denn, wer sie war? Eine Hure, die sich ein Kind andrehen lässt?“, presste Wilhelm hervor.
Theo war blass, der Mund stand offen. Auch die anderen Kommilitonen wichen einen Schritt zurück und schwiegen.
Säure stieg Wilhelm die Kehle herauf, drang in seinen Rachen. Er wandte sich ab, eilte an dem großen Gebäude entlang und spuckte die Galle auf den Boden.
Aus einer Gasse pfiff der Wind und warf Wilhelm den Geruch von Schimmel und Unrat ins Gesicht. Er trat in das Halbdunkel zwischen den Häusern, seine Schuhe rutschten auf dem matschigen Boden. Der schmale Gang führte ihn zu einer offen stehenden Tür, durch die Stimmen und diffuses Licht quollen. Ohne zu grüßen, durchquerte Wilhelm die Küche, drängte sich auf der Treppe an einem Bediensteten vorbei und stand schließlich in der imposanten Eingangshalle der Fakultät.
Statt der Marmortreppe zum Theater zu folgen, eilte er in einen engen Flur und betrat eine Kammer, in der sich Stühle und Tische stapelten. Ein paar Holzstufen führten zu einem Nebeneingang. Durch die Tür am oberen Ende glitt er leise in den Saal.
Ein metallischer Geruch schlug ihm entgegen. Sie hatten bereits begonnen.
Vor Wilhelm öffnete sich der Raum; wie in einem Amphitheater führten breite Stufen hinab. Kerzen in mannshohen Ständern warfen flackerndes Licht auf eine nackte Frau, aufgebahrt in der Mitte der Bühne.
Helena.
Ihr Anblick ließ Wilhelm schwindeln, er lehnte sich an die Wand. Das Holz knarrte, aber keiner der Doktoren, die auf Stühlen in den ersten Reihen saßen, drehte sich um.
Helenas Bauch war bereits geöffnet, ihr Innerstes leuchtete rot wie die Hände des Baders, der neben ihr stand. Ein Luftzug wehte über ihren Körper, ließ ihre Haare zittern und trug einen süßlichen Geruch hinauf zu Wilhelm.
Er runzelte die Stirn und griff in seine Tasche, roch an der Blüte in der Faust. Der Duft des Schwarzen Bilsenkrauts war der des Todes.
„Kommen wir nun zu der Entnahme des Uterus“, dröhnte die Stimme des Dekans. Er stand an einem Pult aus dunklem Kirschholz, mehrere Schritte entfernt von der Leiche, und strich ein vor ihm liegendes Pergament glatt.
Der Bader streckte seine Hände aus, die Herren auf den Stühlen beugten sich vor und Wilhelm fiel es schwer sich zurückzuhalten, sich zu zügeln und sie nicht alle zu töten, als Strafe für ihre lüsternen Blicke. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, seine Zunge klebte pelzig am Gaumen.
Die Finger des Baders versanken in Helena, während der Dekan fortfuhr: „Die sieben Kammern des Uterus werden wie folgt aufgeteilt: Auf der rechten Seite sitzen die drei heißen Zellen, in denen die Männer heranreifen.“
Ein Schrei kratzte an Wilhelms Verstand, ein Schrei, der so schwach war, dass er ebenso seinen angespannten Nerven als auch der Wirklichkeit entsprungen sein könnte.
„Je heißer die Zelle, desto ausgeprägter die Männlichkeit des entstandenen Kindes.“
Die Männer wurden unruhig, rutschten auf den Stühlen umher, ein Murmeln schwoll an. Der Bader hing wie erstarrt über Helenas Leib, schaute sich unsicher um.
Nun bemerkte auch der Dekan, dass etwas nicht stimmte. Unwirsch sah er auf: „Was ist los?“
Die Herren verstummten.
Und als hätte es diese Stille zu nutzen gewusst, schrie das Kind. Der Raum wurde erfüllt von dem Schrei eines Säuglings, eines Neugeborenen, verwundert über das Leben und bereit dafür zu kämpfen.
Gänsehaut prickelte auf Wilhelms Armen. Einer der Männer stand auf, blickte Richtung Ausgang, wurde am Ärmel zurück gerissen.
„Haben Sie noch nie ein Kind schreien hören, meine Herren?“ Der Dekan lachte tief. „Sie werden das wohl nicht schlechter vertragen als die Weiber!“
Er blickte den Bader an. „Fahren Sie fort!“ Dann flog sein Finger wieder über das Pergament, suchte nach der richtigen Stelle. „Auf der linken Seite des Uterus findet man die drei kalten Zellen. Hier ...“
Der Bader hustete, wandte sich würgend von der Leiche ab. Wasser quoll aus seinem Mund, rann über das Kinn und die Brust. Er riss an seinen Lippen, griff sich an die Kehle, hinterließ hellrote Flecken auf der Haut, fiel auf die Knie.
Ein behäbiger Mann aus der ersten Reihe eilte zu Hilfe. In seinen Armen brach der Bader zuckend zusammen, sank auf den Boden, während der Helfer noch versuchte zu verstehen, was passierte. Die anderen Doktoren beobachteten das Schauspiel, gefangen von ihrer wissenschaftlichen Neugier.
Der Bader bewegte sich nicht mehr, noch immer rann Wasser aus seinem Mund und kroch über die Holzdielen. Der Mann neben ihm legte zwei Finger an seinen Hals. Er räusperte sich: „Er ist tot.“
Wilhelm presste die Lider zusammen, riss sie wieder auf. Ihm fiel es schwer zu fokussieren, stöhnend rieb er seine Augen. Was ging dort unten vor sich?
„Das ist das Werk der Hexe!“, rief jemand und zeigte auf Helena. Mehrere Doktoren sprangen von ihren Stühlen.
Der Dekan schlug mit der flachen Hand auf sein Pult. Es dauerte, bis das Hämmern die Unruhe niederringen konnte.
„Reißen Sie sich zusammen!“ Das Gesicht des Dekans war rot, seine Stirn glänzte. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, als versuchte er, den gleichen Dunst loszuwerden, der auch Wilhelm umgab.
„Schaffen Sie den Bader hier raus!“ Er dirigierte zwei der Bediensteten, die sich bisher im Schatten aufgehalten hatten, nach vorne in Richtung Bühne. Während die Männer den Leichnam aus dem Theater trugen, wischte sich der Dekan den Schweiß von der Stirn. „Wer von Ihnen erklärt sich bereit, die Sektion fortzuführen?“ Die Doktoren klammerten sich mit weißen Knöcheln an ihre Stühle.
Der Luftzug in dem Theater entwickelte sich zu einem Wind, der die Haare der Männer aufstellte und das Pergament auf dem Pult des Dekans flattern ließ. Der Verwesungsgeruch wurde unerträglich. Wilhelms Kehle krampfte.
Einer der Männer erbrach sich. Der Dekan brüllte „Ruhe!“, und schien damit den würgenden Mann und den Wind zu meinen.
Doch anstatt nachzulassen, peitschte die Luft noch kräftiger durch den Raum und brachte hellgelbe Blüten mit sich. Wilhelm konnte sie kaum erkennen, aber er wusste, dass ihr Kelch violett war.
Die Blüten wirbelten durch das Theater, sammelten sich um den Dekan, umzingelten ihn wie ein Schwarm Hornissen. Seine Schreie hallten durch den Raum, wurden von den hohen Decken zurückgeworfen, immer schriller kratzten sie an Wilhelms Verstand. Er drückte die Hände auf die Ohren, aber die Todesangst des Dekans durchbrach die Barriere, kroch in Wilhelms Kopf, schmerzte in seinen Knochen, ließ die Muskeln verkrampfen.
Abrupt brach der Schrei ab, der Körper des Dekans fiel zu Boden. Im Theater war es so leise, dass Wilhelm das Rascheln der Blüten hören konnte, als sie sich auf dem Leichnam niederließen.
Die Doktoren sprangen auf, ihre Stühle polterten auf den Steinboden, sie und die Assistenten des Dekans stürmten aus dem Theater.
Wilhelm lehnte schwer atmend an der Wand. Sie waren allein.
Mit zitternden Beinen kämpfte er sich die Stufen hinab bis zur Bühne. Vor ihr blieb er stehen.
Er streckte den Finger aus, hielt inne. Sein Blick war wieder klar. Vorsichtig berührte Wilhelm die Ader an der Wange, folgte ihr bis hin zu den Augenbrauen, verharrte an dem Muttermal auf der Stirn.
Helena schlug die Augen auf. Sie waren hellgelb, durchzogen von violetten Adern, die sich in der Pupille sammelten. „Schön, dass du uns nicht alleine lässt.“
Wilhelm nickte. „Da war ein Kind“, sagte er.
„In mir ist es sicher. Ich konnte nicht zulassen, dass sie es mir wegnehmen.“ Mit ihren letzten Worten frischte auch der Wind wieder auf, aber Wilhelm kannte keine Angst mehr.
„Zeig mir dein wahres Wesen“, sagte Helena. „Dein Innerstes.“
Wilhelm entledigte sich seines Mantels, schnürte die Schuhe auf und streifte sie von den Füßen, er zog Hemd und Hose aus, faltete sie und legte die Sachen auf einen der Stühle.
Der Untersuchungstisch so breit, dass sich Wilhelm neben Helena legen konnte. Die Steinplatte kühlte seine erhitzte Haut.
Wilhelm hatte selbst noch keine Sektion durchgeführt, den Ablauf aber oft genug beobachtet, um zu wissen, wie er vorgehen musste. Das Werkzeug des Baders glänzte im Schein der Kerzen.
Wilhelm griff zu dem Skalpell, setzte es knapp über seinem Schambein an und zog das Messer in einem gerade Schnitt durch die Haut Richtung Brustkorb. Blut quoll aus der Wunde.
„Ich beginne mit der Entnahme der Eingeweide des Bauchraumes.“