Mitglied
- Beitritt
- 29.03.2013
- Beiträge
- 171
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Der Duft der Toten
Der Tag, an dem die Kreaturen verbrannt werden sollten, rückte näher. Auf der hölzernen Plattform in der Mitte des Marktplatzes hatten die Knechte der drei großen Patrizierfamilien vor zwei Tagen damit begonnen, Knochen aus Lindenholz aufzuschichten. Nun bedeckten die kunstvoll geschnitzten und mit Bannsprüchen beschrifteten Gebeine nahezu das gesamte Postament, bis auf eine kreisrunde Fläche in der Mitte, in der zahlreiche Eisenringe verankert waren.
Schädel, Schenkel, Rippen und Fingerknochen lagen an ihrem Platz. Kniehoch war die Schicht angewachsen. Das trockene Holz hatte den Schweiß der Männer aufgesaugt, war mit geweihtem Wasser und Wein begossen worden und verströmte einen bitteren Geruch.
„Die brennen wie Zunder.“
„Was?“
„Bist du taub?“ Der alte Mann drehte den Kopf. „Ich sagte, die brennen wie Zunder. Die Toten und das Holz. Wie Zunder.“
„Denk ich mir. Wie weit sind sie?“
„Komm her und sieh es dir an.“
„Ah, sie sind fertig.“ Tom nickte anerkennend. „Gute Arbeit.“
Das Fenster lag im zweiten Stock des ‚Eisernen Schwan‘. Das heruntergekommene Gasthaus war das einzige gewesen, das noch über Zimmer verfügt hatte.
„Ich habe gehört, es sind sehr viele Menschen von außerhalb in der Stadt“, murmelte der Alte und gähnte.
„Ja, erstaunlich.“ Tom löste die Gurte seines ledernen Harnischs und ließ sich auf sein Bett fallen. „Weck mich, wenn sich was tut. Übrigens – danke.“
„Wofür?“
„Dass du eingewilligt hast, unsere Reise für einige Tage zu unterbrechen. Es ist das erste Mal, dass ich so was miterleben darf, und –“
„Schon gut“, unterbrach ihn der Alte, „was soll’s. Macht nichts, wenn wir ein paar Tage später ankommen.“
Der alte Mann sah zu der Wolkendecke hinauf, die, wie er gehört hatte, seit dem Aufbruch der Totenfänger vor einem Monat über der Stadt lag. Er seufzte und schloss das Fenster.
Am Abend des nächsten Tages trafen die Hundeführer ein. Tom, der sich zufällig im Gastraum aufhielt, als zwei von ihnen den ‘Eisernen Schwan‘ betraten, musste sich nicht einmal bemühen, in ihre Nähe zu kommen, um zu erfahren, wie die Jagd verlaufen sei.
„Siebenundvierzig Kadaver!“ sagte der größere von ihnen in die Stille, die ihr Erscheinen bewirkt hatte, hinein. In seiner Stimme klang nichts mit, das auf Stolz hinwies. Zu Toms Erstaunen hielt der Jubel, den er nun erwartete, sich nicht nur in Grenzen – er blieb aus. Einige der Gäste nickten ernst mit dem Kopf, andere starrten in ihre Becher. Die Hundeführer, die anscheinend nichts anderes erwartet hatten, setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Kamins. Ihre Hunde, wahre Ungetüme und ebenso mit Schlamm bespritzt wie ihre Besitzer, ließen sich vor dem Feuer nieder, streckten ihre gewaltigen Knochen und schliefen auf der Stelle ein.
„Aus den Kerlen war nichts weiter herauszubekommen“, sagte Tom und schloss die Zimmertür hinter sich. „Ich habe den Wirt gefragt, die Schankmädchen, den Koch und auch einige der Gäste – keiner wollte mit der Sprache rausrücken. Sie sind nicht unfreundlich geworden, aber…“
„Du bist ganz schön neugierig, Junge.“ Der Alte stemmte sich aus dem Stuhl hoch und ging zum Fenster. Er öffnete es und atmete tief ein. „Was weißt du eigentlich über diese Sache?“
„Es werden zwar nur ein paar Tote verbrannt, aber das Ganze soll ziemlich beeindruckend sein. Ich hab gehört, dass niemand, der das gesehn hat, es jemals wird vergessen können.“
„Das ist alles? Tote werden verbrannt? Hast du noch nie einen Scheiterhaufen brennen sehen? Mit lebenden Menschen darauf?“
„Sicher.“
„Man sollte meinen, wenn nun einige Leichen öffentlich eingeäschert werden, kann das doch eigentlich bei weitem nicht so viel Volk anlocken, oder? Keine Schmerzensschreie, kein Blut … nichts, was dem Pöbel nun mal so gefällt. Und trotzdem ist die Stadt voll.“
„Ja, natürlich. Darum…“
„Das liegt daran“, unterbrach der alte Mann, „dass morgen kein Pöbel anwesend sein wird.“
„Aber…“
„Und es liegt daran, dass die Toten nicht richtig tot sind.“
Fast schien es, als weidete sich der Alte an Toms Gesicht.
„Nicht richtig tot? Wie meinst du das? Also, entweder ist man tot oder lebendig. Du willst mir doch nicht sagen, dass dieses Zeug, das man seit einigen Jahren hört, wahr ist?“
Bevor der Alte antworten konnte, wurde er von einem Husten durchgeschüttelt. Er spie einen Batzen Schleim aus dem Fenster, wandte sich um und sah Tom lächelnd an.
„Jedes Wort, Junge. Der erste lebende Leichnam erschien vor etwa sechs Jahren, etwa um die gleiche Zeit wie der eiserne Mann, der übrigens morgen ebenfalls anwesend sein wird, wenn mich der Wirt nicht belogen hat.“
„Der eiserne Mann…“, flüsterte Tom. „ Also gibt es ihn wirklich.“ Er griff sich den Krug, füllte seinen Becher und nahm einen großen Schluck.
„Es sind die Verwandten und Freunde der Toten“, sagte der Alte, „die morgen von ihnen Abschied nehmen wollen. Fast jeder in dieser Stadt und aus der Umgebung hat in den letzten Jahren jemanden, der ihm nahestand, durch diese fürchterliche Seuche verloren.“
Tom dachte an die Gerüchte und unglaublichen Dinge, die ihm in den vergangenen Jahren zu Ohren gekommen waren. Er hatte alles als Ammenmärchen abgetan, dazu geeignet, kleine Kinder zu erschrecken und davon abzuhalten, in den verrotteten Wäldern im Norden der Stadt, deren Existenz er ebenfalls angezweifelt hatte, zu spielen.
„Also ist es wahr – die bloße Berührung dieser Kreaturen reicht aus und man stirbt?“
„So ist es.“
„Weiß man, was das alles verursacht hat?“
„Nicht genau, aber es heißt, der erste, den es getroffen hat, habe vergiftetes Wasser aus einem Bach getrunken, irgendwo in den Wäldern jenseits dieses Berges da.“ Der alte Mann deutete aus dem Fenster.
„Woher weißt du das alles?“ fragte Tom.
„Erinnerst du dich an deinen Onkel Ward? Den mit der Augenklappe?“
„Natürlich.“
„Einer seiner Männer wurde vor vier Jahren bei einem Jagdausflug von einem der lebenden Toten berührt. Ward sagte mir später, der Leichnam, der übrigens keinen besonders angriffslustigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, habe irgendwie … sehnsüchtig gewirkt. Wie eine Katze, die gestreichelt werden will. Er hat Wards Mann nur mit einer Fingerspitze berührt, auf dem Handrücken.“
„Und das hat genügt?“
„Es hat etwa zwei Wochen gedauert. Zuerst verfärbte sich seine Hand, später der restliche Körper. Irgendwann war der Arme am ganzen Leib grau wie Schiefer. Dann hat sein Herz aufgehört zu schlagen. Er ist immer weniger geworden, verstehst du – wie ein Stück Fleisch, das im Rauchfang schrumpft und austrocknet.“
Der Alte räusperte sich. Er senkte den Kopf, aber das Glitzern in seinen Augen war Tom nicht entgangen.
„Kanntest du den Mann?“
Der Körper des alten Mannes straffte sich. Er hob den Kopf und machte eine Bewegung, als wolle er eine besonders hartnäckige Fliege verscheuchen. „Genug davon, ich lege mich schlafen. Weck mich, wenn – du weißt schon.“
„Natürlich.“
Hundegebell durchbrach die Stille, gefolgt von bierseligem Gelächter. Eine Brise trug den Duft der Geißblattranken, die die Fassade des Eisernen Schwans bedeckten, durch das Fenster. Tom blickte zum Himmel und sah, dass sich in der Wolkendecke Lücken aufgetan hatten, durch die das Funkeln einiger Sterne zu sehen war. Die beiden Hundeführer standen im Schein der Feuerkörbe schwankend vor der Plattform und unterhielten sich leise. Die Schatten in den Nischen der Häuser, die den Marktplatz umgaben, zitterten. Tom schloss das Fenster und versuchte die Beklemmung, die die Worte des Alten verursacht hatten, damit zu vertreiben, dass er den Weinkrug in einem Zug leerte.
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne hier oben bleiben. Ich glaube, von hier aus sieht man mehr. Was meinst Du?“
„Sicher, Junge. Stell die Stühle ans Fenster und reich mir Pfeife und Tabaksbeutel.“
Der Marktplatz hatte sich im Laufe des Tages immer mehr gefüllt. Jetzt, zwei Stunden nach Sonnenuntergang, standen die Menschen dichtgedrängt. Das Licht der vielen Fackeln, Öllampen und Laternen, die in Halterungen an den Hauswänden steckten und auf nahezu allen Fenstersimsen brannten, tauchte den Platz in festliches Licht und stand in merkwürdigem Gegensatz zu der Stille, die herrschte. Der alte Mann beobachtete Tom, der gebannt auf die Menge hinabsah, von der Seite. Er selbst hatte das Spektakel, wie er es bei sich nannte, schon einmal miterlebt und fragte sich, wie sein Begleiter auf den Anblick der monströsen Gestalten reagieren würde.
Gerade als Tom begann, ungeduldig zu werden, ertönte eine Glocke; das letzte Gemurmel erstarb. Vor einem Torbogen auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes traten die Menschen zurück und bildeten eine Gasse. Zunächst war nichts zu hören, aber dann nahm Tom Hufschläge und das Knirschen von Wagenrädern wahr.
„Ah, sie kommen“, flüsterte Tom.
Der Mann, der aus dem dunklen Torbogen trat, trug einen gelben Umhang. Sein Gesicht blieb unter einer großen Kapuze verborgen. An der Spitze der Lanze, die er in der Rechten hielt, war ein Wimpel mit den Farben des Bischofs befestigt. Während er die Strecke bis zum Postament zurücklegte, glaubte Tom bei jedem Schritt des Mannes ein metallisches Klirren zu hören. Er fragte sich, ob das der eiserne Mann sei, jene geheimnisumwitterte Figur, der man einen unheilvollen Einfluss auf den Bischof zuschrieb.
Am Fuß der Holztreppe, die auf das Gerüst führte, blieb der Kapuzenmann stehen, hob die Lanze, beschrieb mit ihrer Spitze einen Kreis, und rammte sie schließlich mit einem kräftigen Ruck in den Boden. Dann ließ er die Arme sinken und stand reglos da.
Alle Augen richteten sich nun auf den Torbogen. Das Knirschen der Räder war lauter geworden und schließlich tauchten die Köpfe zweier mächtiger Pferde aus dem Dunkel ins Licht der Fackeln. Man hatte ihnen Stoffmasken übergestreift. Die beiden Männer, die sie am Zügel führten, trugen die gleiche Kleidung wie der Mann mit der Lanze. Der Karren, den die Pferde zogen, war mit Holzfässern und Kisten beladen. Tom nahm an, dass sich Trinkwasser und Proviant darin befunden hatte.
Dann folgten die Totenfänger. Es waren etwa dreißig Frauen und Männer, denen anzusehen war, dass sie harte und entbehrungsreiche Tage hinter sich hatten. Das Murmeln der Menge schwoll erneut an, als der zweite Wagen auf den Platz rollte. Seine Ladung bestand aus einem einzigen Objekt; einer riesigen, mit komplizierten Symbolen bemalten Holzkiste, deren Seitenlänge gute zehn Meter betrug, und deren Breite die Maße der Ladefläche überschritt, so dass sie auf beiden Seiten einen halben Meter darüber hinausragte. Sie war gerade so hoch, dass ein Mensch aufrecht darin stehen konnte. Aus ihrem Inneren drang ein leises anhaltendes Summen, wie aus einem Bienenstock mit besonders dicken Wänden.
Die Pferde machten vor der Plattform Halt und wurden abgeschirrt. Sie wirkten müde und abgekämpft, ihr Fell war stumpf und ungepflegt. Von allen Seiten bekamen sie Mohrrüben und Zuckerbrocken hingehalten, die sie sich in aller Ruhe schmecken ließen. Wer nahe genug bei ihnen stand, streichelte sie oder schlug ihnen leicht auf den Hals. Ihr leises Schnauben und ihre Kaugeräusche waren so klar und deutlich zu hören, dass Tom für einen Augenblick das Gefühl hatte, dies alles sei Bestandteil eines besonders realistischen Traumes.
Dann richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf die Kiste. Einige der Totenfänger hatten damit begonnen, die Seitenwände zu lockern, indem sie die Schneiden ihrer Äxte in die Fugen rammten und sie hin und her bewegten. Anstelle von geschmiedeten hatten die Erbauer Nägel aus Holz verwendet. Dem ganzen Konstrukt lag ein klug durchdachtes System zugrunde, und es vergingen nur wenige Minuten, bis die Wände vollständig entfernt waren.
Für einen Moment hielt Tom den Atem an. So also sahen sie aus. Und so rochen sie. Wie Blumen. Nicht wie verwesendes Fleisch, sondern wie duftende Blumen.
Es war unmöglich, diesen Wohlgeruch, der sich schnell über dem ganzen Platz ausbreitete, mit den Gesichtern und Körpern der monströsen Gestalten, die sich hinter den Käfigstangen drängten, in Einklang zu bringen. Mühsam unterdrückte Entsetzensschreie waren zu hören. Eine junge Frau fiel in unmittelbarer Nähe des Käfigs in Ohnmacht. Für einen kurzen Moment verspürte Tom das Verlangen, aufzustehen und wegzulaufen.
Er sah Gesichter ohne Unterkiefer. Rümpfe, die auf fleischlosen Beinen standen. Därme, die bis zu den Füßen ihrer Besitzer herabhingen. Vertrocknete Muskelstränge, die sich wie Hanfstricke um zerbrochene Wirbelsäulen geschlungen hatten. Viele waren anscheinend schon lange in diesem Zustand herumgewandelt, aber es gab auch einige, die erst vor kurzem gestorben sein konnten und nicht krank, sondern nur völlig übermüdet aussahen. Selbst aus dieser Entfernung konnte Tom ihre Augen sehen, die wie gekochtes Eiweiß zwischen ihren steingrauen Lidern glänzten.
Das schrecklichste aber, so schien ihm, war ihre Art zu atmen.
Die Toten schienen ausschließlich einzuatmen. Das Geräusch, das sie dabei machten, war ein rasselndes, feuchtes Schlürfen. Ihr Brustkorb hob sich krampfartig, und sackte wieder zusammen, ohne das auch nur ein Hauch von Luft ausgestoßen wurde. Einige schienen gar nicht zu atmen, andere pumpten die Nachtluft unaufhörlich in die porösen, verdorrten Überreste ihrer Lungen, wie jemand, der im Laufschritt einen Berg bestiegen hat. Dabei drehten und wendeten sie ihre Schädel langsam hin und her.
Nachdem in der Kopfseite des Käfigs eine am Boden angebrachte Klappe geöffnet worden war, stieß einer der Totenfänger, der sich lange lederne Handschuhe übergestreift hatte und einen Gesichtsschutz aus Metall trug, einen langen Speer mit einem Widerhaken in den Käfig. Der Mann war nicht zimperlich. Der Speer bohrte sich durch eine verdorrte Wade, fand Halt und mit einem Ruck zog er das Bein durch die Öffnung. Es gab ein hässliches Geräusch, als das andere Bein brach, doch er zog so lange, bis der Kadaver vor dem Käfig auf dem Boden aufschlug. Blitzschnell warfen zwei andere Fänger Schlingen über den Leichnam. Sie zerrten den ausgemergelten Körper die Treppe hinauf durch eine Lücke im Holzwall zu den eisernen Haken auf dem Boden der Plattform. Der Tote wurde dort angekettet, und die Klappe, die man wieder verschlossen hatte, erneut geöffnet. Die Prozedur wiederholte sich, bis nach einer knappen Stunde der Käfig leer und das Podest nahezu voll war. Die Spannung löste sich langsam. Der Käfigwagen wurde weggefahren. Ein in Schwarz gekleideter Mann, der das Symbol des Bischofs auf der Brust trug, löste sich aus der Menge und hob die Hände. Er trat vor die Totenfänger, ließ die Arme sinken und verbeugte sich tief. Die Zuschauer folgten seinem Beispiel. Die Totenfänger erwiderten die Geste. Zu ihren Füßen lagen die großen Hunde. Jemand hatte einen Eimer mit Fleischresten und Knochen vor ihnen ausgeschüttet. Genüsslich kauten sie mit halb geschlossenen Augen darauf herum.
Der Mann im gelben Umhang, der bis zu diesem Moment reglos neben seiner Lanze gestanden hatte, griff in eine seiner Taschen, förderte ein kleines Tonfläschchen zutage und besprenkelte die hölzernen Gebeine mit einer grünlich leuchtenden Flüssigkeit. Dann schlug er seine Kapuze zurück.
Die Menschen in seiner Nähe machten ein paar Schritte rückwärts. Tom sah, dass sich einige an den Händen fassten. Bis auf das gierige Atmen der Kadaver war es still.
Auf dem glänzenden, ovalen Schädel spiegelten sich unzählige Fackeln. Tom konnte nicht genau erkennen, ob der Mann einen stählernen Helm ohne erkennbare Öffnungen für Augen, Nase und Mund trug, oder… Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Der eiserne Mann stieß wortlos eine brennende Fackel in das Holz. Dann wandte er sich um und sah Tom an. Zumindest hatte es den Anschein.
Als die ersten Flammen die Leiber der Kreaturen berührten, gelang es Tom, sich von dem verstörenden Anblick zu lösen. Er hat nicht mich angesehen, sagte er sich. Da unten glaubt vermutlich jeder, dass der Kerl gerade ihn anschaut.
Der Anblick der brennenden Toten war entsetzlich, und doch konnte Tom seine Augen nicht von diesem unfassbaren Schauspiel abwenden. Während jene, die vor Monaten, wenn nicht vor Jahren gestorben waren, augenblicklich aufloderten wie ein Bündel trockenes Stroh, und keinen Ton von sich gaben, boten diejenigen, welche erst kürzlich das Zeitliche gesegnet hatten, ein Bild, das sich nur schwer ertragen ließ. Sie wedelten mit ihren brennenden Armen herum, rissen ihre Münder weit auf und stießen hohl klingende Klagelaute aus, während ihre Beine den Dienst versagten und unter ihnen nachgaben. Kinder waren darunter, junge Männer und Frauen, uralte Menschen, deren Geschlecht sich nicht mehr feststellen ließ. Kleidungsfetzen und Hautstreifen, die von ihren Knochen herabhingen, waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden.
Funkenwolken stiegen hoch, als das Podest schließlich mit einem Krachen zusammenbrach. Der Rauch, der sich über den ganzen Platz gelegt hatte und nur langsam abzog, duftete ebenfalls nach Rosen. Nicht so, als hätte jemand einen Haufen vertrockneter Blüten ins Feuer geworfen – es riecht wie frisch aufgeblühte Rosen, dachte Tom.
Er ließ seine Augen über den Platz wandern. Der eiserne Mann war verschwunden.
Am nächsten Morgen hatte Tom noch immer den erstaunlichen Geruch der Toten in der Nase. Von seinem Bett aus betrachtete er den Rücken des alten Mannes, der am Fenster saß und auf den Platz hinunter blickte.
„Hast du gar nicht geschlafen?“
„Ach, weißt du, Junge, in meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Ich habe die kühle Nachtluft genossen und den Leuten dabei zugesehen, wie sie das ganze Zeug weggeräumt haben.“
Tom zog sich an und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter. Der Schankraum war trotz der frühen Stunde bereits gut gefüllt. Im Gegensatz zu den letzten Tagen herrschte eine fröhliche, beinahe ausgelassene Stimmung. Der Wirt brachte ihnen das Frühstück und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Ihr Tisch stand an einem der geöffneten Fenster und Tom sah, wie die Morgensonne die Giebel der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes in goldenes Licht tauchte. Von der gedrückten Stimmung, die in den letzten Tagen auf der Stadt gelastet hatte, war nichts mehr zu spüren. Überall waren Bauern und Händler damit beschäftigt, ihre Stände wieder aufzubauen. Es roch nach Kohl und Radieschen, nach gebratenem Fleisch und billigem Bier. Von dem Podest war nichts als ein großer schwarzer Fleck geblieben. Einige Hunde schnüffelten darauf herum und scharrten mit den Pfoten die dunkle Erde auf.
„Und? Wie denkst du jetzt über diese Sache, mein Junge?“ fragte der Alte und wischte sich ein kleines Stück Eigelb vom Kinn.
„ Na ja – es stimmt schon“, erwiderte Tom. „Dass man es niemals wird vergessen können, meine ich.“ Und etwas leiser fügte er hinzu: „ich glaube, ich habe gestern Nacht in die Hölle gesehen.“
Wenig später, als die Pferde angespannt und das Gepäck auf der Droschke verstaut war, warf Tom einen letzten Blick auf den schwarzen Fleck. Er zögerte, stieg dann vom Kutschbock und begann eine Holzkiste, in der sich sein persönliches Hab und Gut befand, zu durchwühlen. Mit einem leeren Lederbeutel in der Hand eilte er zu dem Fleck, kratzte ein wenig Asche zusammen, füllte den Beutel damit und kehrte zur Droschke zurück.
„Hältst du das für eine gute Idee?“ fragte der alte Mann.
„Ich weiß nicht. Mir kam einfach der Gedanke“, antwortete Tom. Er sprang auf den Kutschbock und ließ die Zügel auf die breiten Rücken der Pferde klatschen.