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Der Dschungel
"Nun komm endlich zum Essen" Rief sie zum wiederholten Mal zum Dachboden hinauf, mit dem einen Rad ihrer Gehhilfe auf den Boden stampfend. Manchmal hatte sie das Gefühl, er machte sich absichtlich einen Spaß daraus, daß sie nicht mehr Treppen steigen konnte. Ewig mußte sie auf ihn warten. Auch jetzt. Das Mittagessen wurde bestimmt schon kalt.
"Ich komme ja schon!", rief er und polterte endlichen schweren Schritts die Stufen herab.
Sie erhielt den obligatorischen flüchtigen Kuß auf die Wange, als er an ihr vorbei und an den Tisch huschte.
War das noch der Mann, den sie geliebt, verehrt, geheiratet, mit dem sie zwei Kinder groß gezogen hatte? Sie kniff ihre matten Augen zusammen und schleppte sich ihm hinter her in die Küche. Die Räder Ihrer Gehhilfe quietschten laut dabei. O, wie sie ihre wackeligen Beine, haßte, so dünn und schlapp wie tote Hühnerflügel. Immer schwerfälliger zog sie ihre kleiner werdenden Kreise - vom Schlafzimmer - zum Bad - zur Küche - zum Schlafzimmer.
Und er? Er flüchtete in der letzten Zeit vor ihr. Immer länger, immer öfter war er auf dem Dachboden. In jeder freien Minute tappte er hoch. Kaum konnte sie ihm zehn Worte entlocken, eine Minute Gespräch, war er auch schon wieder verschwunden. Die Mahlzeiten nahm er noch regelmäßig mit ihr ein. Er aß auch immer gut, wie ein Schwerarbeiter. Dabei sah er nun wirklich nicht danach aus. Mit dem leicht vorgeschobenen Bauch, den hängenden Schultern und dem schütteren Haar. Dauernd war er geistig abwesend. Und so unbekümmert. Selbst ihr heute wirklich mißratene Mahl, nur halb gar und angebrannt schaufelte er in sich hinein, als ob er damit ihre schlechten Kochkünste strafen und sie noch mehr ärgern wollte.
Wo holte er sich bloß den Appetit - wo ließ er das viele Essen? Was machte der Kerl überhaupt?
Vor einiger Zeit, als es ihr noch besser ging, hatte sie ihm noch regelmäßig nachspioniert; seinen Nachtschrank durchwühlt, den Schreibtisch gründlichst abgesucht, seine Bücher ausgeschüttelt - aber nichts, einfach gar nichts gefunden, was ihren Argwohn hätte bestätigen und ihn auf frischer Tat ertappen ließ.
Betrog er sie? Doch, mit wem, wann - und: Wo? Wie gerissen war er? War Sie die ganzen Monate auf dem Dachboden gewesen? Lächerlich. Auch zeigte das Konto keine verdächtigen Auszahlungen auf. Was war mit ihm los?
Wütend starrte sie ihn mit offenem Mund an. Kleine Speichelfäden leckten an ihrem Kinn herab.
"Soll ich meinen Teller noch 'rausbringen?" Fragte er sie gerade mit seinem immer noch jugendlichen Lächeln. Lachhaft! Ein fast sechzig jähriger Mann! Wie haßte sie ihn, wenn er sie so offen, unbeschwert, jugendlich ansah, sie beinahe auslachte, so glücklich schien er.
"Nein. Laß nur. Ich mach das schon", zischte sie, der Speichel tropfte auf ihren Kittel. Da sprang er auch schon auf, drückte ihr im Vorbeigehen einen Kuß auf die glänzende Stirn und war auch schon auf der Treppe entschwunden.
"Ich bin oben." Rief er ihr noch zu "Wenn was ist, kannst du mich rufen!"
Sie sah ihm nur nach und nickte hilflos. Aber das war ja auch egal, das sah er ja eh nicht. So machte sich zur Spüle auf, seinen Teller zwischen zwei Fingern gedrückt, sich an dem Wagen mit den restlichen haltend.
Je weiter er die Stufen nach oben schritt, desto leichter, wurde sein Herz. Denn jetzt schon hörte er schon die aller lieblichsten Singstimmen hinter der Tür. Sein Herz raste vor Freude. Vorsichtig öffnete er die Tür und huschte schnell hinein. Eine heiße, grüne Hölle voller Geräusche, Brummen, Gezwitscher und Gesumme empfing ihn. Da - auf einer Orchidee summte ein Kolibri. Glücklich beobachtete er ihn. Stundenlang konnte er durch das Dickicht marschieren. Überall gab es was zu sehen, zu erleben. Überall krabbelte, kroch und schlich es, überall waren Insekten, Amphibien, Säugetiere unterwegs, die verschiedensten Pflanzen gab es.. Hier umkreisten Mückenschwärme ein Sumpfloch. Dort fraß eine schwarze Witwe gerade ein Insekt. Unter einem Baumstumpf zischelte es. Überall Leben, Verderben, Kampf und nochmals Kampf. Er ging um herabhängende Lianen, umgestürzte Bäume und gefährliche Sumpflöcher herum. In einer sehr dunklen Ecke trat er unvorsichtiger Weise gegen einen Busch. Ein schwarzer Schatten flatterte davon. Und dort - ein gelbes Augenpaar funkelte ihn aus dem Dunkel an. Ein Brummen, ein Fauchen kam aus der Schwärze. Immer lauter und drohender werdend. Ängstlich machte er ein, zwei Schritte zurück und zog sein Messer aus der Scheide, abwehrbereit. Der Boden war so sumpfig, daß er schmatzend unter seinem Gewicht nachgab. Jetzt brüllte es. Es kam aus der Schwärze. Er hörte es lauter werden, Äste brechen. Er versuchte sich umzudrehen und wegzulaufen, aber die Lianen um ihn herum schienen sich fest an ihn zu klammern. Es kam immer näher. Gleich war es bei ihm. Er spürte schon den heißen Atem. Mit schweißigen Händen umklammerte er das Messer. Es kam immer näher - und näher:
"Schatz! Komm endlich schlafen! Es ist spät!"
Sein Dschungel war verflogen. Erschöpft blickte er auf das Bügelbrett vor ihm und das verkrampft gehaltene Bügeleisen in seiner Hand. Der Wäschekorb war ausgekippt. Er stand mit beiden Füßen in einem kleinen Haufen sauberer Unterhosen. Durch die halboffene Dachluke pfiff ein eiskalter Wind und bewegte einen metallenen Bügel, der von der Leine herab immer wieder seine Schläfe berührte. Ihn fröstelte jetzt.
Schwer ging sein Atem. Als er sich wieder in Gewalt hatte, schrie er: "Ich - komme - gleich!" durch die geschlossene Tür, die Stufen herab, in ihr nasses Gesicht.
Dann legte er das Bügeleisen weg, sammelte mit fahrigen Fingern die Wäsche auf und öffnete, immer noch vor Anspannung zitternd, die Tür zum Flur.
"Und morgen", flüsterte er begeistert zu sich, "da fange ich das Raubtier. Mit meinen bloßen Händen."
ENDE